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Severin Heilmann • Franz Schandl • Martin Scheuringer

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Unterscheide und herrsche

Der gebildete Träger einer Verwaltungsfunktion im demokratischen Staat träumt von sich gern als Erfüller eines großen Auftrags für die Menschen. Gern stellt er sich als Steigerer der Wohlfahrt vor und motiviert sich so zur Arbeit im fortschrittlichen Staatsgefüge. Dabei gerät ihm der Souverän zur zu gestaltenden Masse, die oft renitent und stur gegen seine Ideen lebt. Expertentum und Demokratie gehen schwer zusammen – auf den ersten Blick wär es fein, per Dekret dem Souverän Befehle zu erteilen, um ihm zu helfen.

Denkt er etwas nach, erkennt er die Unvereinbarkeit seiner Haltung mit dem Prinzip der Souveränität. Der sich zur Entwicklungshilfe für verkommene Bürger bekennende Verwalter rechtfertigt sein Denken und Handeln damit, dass die Politik die Demokratie verkommen lasse und er durch Maßnahmen dem Souverän zu einer gebildeten Position im politischen Wirrwarr verhelfen könne. Er ereifert sich dann wie viele seiner Kollegen wie ein Don Quijote im Scheingefecht Verwaltung gegen Politik und schimpft auf die dummen Politiker, die um nichts besser oder gar schlimmer seien als der Wähler. Diesen Kampf kann er nur verlieren, ja, seiner demokratischen Gesinnung folgend muss er sich unterwerfen. Er hat sich den demokratisch legitimierten Organen zu fügen, oft gegen die Ergebnisse seiner Expertise. Souverän und gewählter Herrscher sind aus dieser Perspektive unterschiedslos borniert, wobei gern die Schuld den bevormundenden Herrschenden zugeschrieben wird. Im Traum bevormundet lieber er, der besonnene Staatsdiener, als der populistische Demokrat. Dabei halluziniert er paradiesische Wirkungen seiner Interventionen. Diese Träume halten viele Verwalter am Leben. Manche verlagern sich aufs zynische Konstatieren, oder aufs einfache Schimpfen. All das sind psychische Schonungsmechanismen, um die Unterwerfung zu verkraften.

Träumen, Schimpfen und zynisches Reden nähren sich aus einer spitzfindigen Unterscheidung, die für die warenproduzierende Herrschaftsweise konstitutiv ist: Die Wahrnehmung der Dinge und Handlungen passiert in Form der Ware und verleiht der gemeinschaftlichen Organisation einen Doppelcharakter, sodass sie in reales soziales Handeln (mit Bezug auf Nutzen und Schaden) und ideale Demokratie (mit Bezug auf die soziale reine Verfahrensform) gespalten wird. Die tatsächlichen Handlungen sozialer Organisation sind bloß Träger der Demokratie als leerer Verlaufsform. Demokratie als Form braucht die wirklichen Akte sozialer Organisation nur, um sich in ihnen darzustellen. Das Abstrakte hat Primat über das Konkrete. Mögen die Demokraten noch so menschenverachtend agieren, die Demokratie wird als Prinzip geheiligt. Ganz ähnlich in der Ökonomie: Der Tauschwert braucht den Gebrauchswert, damit das ökonomische Bewusstsein ersteren in zweiteren projizieren kann. Sind das Produkt, seine Produktion und Verteilung auch noch so schlecht, der Tauschwert wird als Errungenschaft für das Wohl der Menschheit gefeiert.

Diese beherrschende Trennung ermöglicht die ideologische Reinigung der Form von aller empirischen Verunreinigung und ermöglicht so die Erhebung der Form zu ewiger Wahrheit, Güte und Schönheit. Gott könnte neidisch werden. Jegliche Kritik der sozialen Wirklichkeit wird auf ein Prinzip außerhalb der reinen Form rückgeführt, das es zu bekämpfen gilt. Die Demokratie entzieht sich als Idee jeglicher Prüfung an der sozialen Wirklichkeit.

Diese Trennung von Inhalt und Form befähigt den Verwalter durchzuhalten, da sie eine Bewertung ein und desselben Objekts als gut und schlecht ermöglicht: schlechte Politik in eigentlich guter Demokratie. So nährt sie Hoffnung. Und der homo oeconomicus ist auf Ertragen und Hoffen konditioniert, betet er doch zu den abstrakten Fetisch en Wert und Demokratie, und wendet sich ab vom sündigen Fleisch der Güter und der Selbstorganisation.

Die herrschende Differenz lenkt sein Denken in normierte Bahn und ist Gift für die synthetische Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit: Die katastrophale Beschaffenheit unserer Seelen, Gefühle, Körper und der Umwelt ist verwoben mit den Regeln der sozialen Form.

Martin Scheuringer

Demokratischer als die Demokraten

Wenn ich meine eigene Geschichte so rekapituliere, vor allem die Bewegungsjahre in der linksradikalen Szene und im grünalternativen Bereich Revue passieren lasse, dann bin ich einige Jahre geradezu ein Fanatiker der Demokratie gewesen. Das erschien mir ganz selbstverständlich, vor allem auch nach den Erfahrungen des Stalinismus, den ich stets ablehnte. „Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie“ (Oskar Negt), das war auch einer meiner Leitsprüche. Alles kaprizierte sich in mir in einem treuen Bekenntnis zur Demokratie, natürlich einer anderen und radikaleren. Einige Zeit versuchte ich mich gar als Praktiker und Theoretiker der Basisdemokratie, nachzulesen in: Franz Schandl/Gerhard Schattauer, Die Grünen in Österreich, Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft, Wien, Promedia 1996, S. 371-386.

Ich konnte nicht genug kriegen. So verstand ich mich als (ein) Gläubiger der Demokratie, als einer, der permanent und penetrant deren Defizite einklagte, Mich erregte, was die Demokratie schuldig blieb, und so projizierte ich alle ineine Wünsche ganz selig in sie und meinte sie via sie verwirklichen zu müssen. Mehr Demokratie, das war das, was ich wollte.

Ich war da demokratischer als die Demokraten. Die waren schlamipiger als ich und erst später merkte ich, dass nicht ich vorn Weg, sondern eher hintennach war, weil die anderen zumindest pragmatisch mehr begriffen hatten als ich in meinem überdrehten Idealismus, Auch die zehn jahre Kommunalpolitik in Heidenreichstein haben dazu beigetragen. Inzwischen sind mir die Praktiker der Ohnmacht um einige Nuancen sympathischer als die Priester der Macht. Zur letzten Sorte gehören viele linke Intellektuelle. Zuineist wider Willen.

Dass Demokratie und Diktatur zwar nicht identisch, aber eng verwobene Formen der Kapitalherrschaft sind, wollte mir erst allmählich dämmern, Lenin und Trotzki halfen hier etwas auf die Sprünge, Insofern ist mir auch heute noch der Bolschewismus die liebste Sozialdemokratie. Nun bin ich zwar kein Sozialdemokrat mehr, wollte ja nicht einmal einer sein als ich noch einer gewesen bin. Zu fragen, was Demokratie ist, woher sie rührt, warum sie allseits angebetet und angefleht wird, diese Grundfragen stellten sich mir immer dringlicher. 25 Jahre ist es ungefähr her, dass sich mein steigendes Unbehagen und die Wertkritik ein Stelldichein gaben.

Inzwischen hat mich dieses Leiden an und mit der Demokratie verlassen und ich habe auch keine Phantomschmerzen mehr. Es war aber nicht enttäuschte Liebe, sondern vielmehr der Prozess einer Ernüchterung‚ der da vor langer Zeit eingesetzt hat und noch immer andauert. Demokratie ist jedenfalls die verfänglichste und klebrigste Kategorie des bürgerlichen Ebensoseins, sie pickt an allem und haftet an jedem. Nichts ist so anlassig wie die Demokratie, Die allgemeine Ergriffenheit zeigt an, dass das Loskommen schwierig ist. Für viele unvorstellbar. Demokraten, das sind wir doch alle

Auch wenn ich einiges in diesem Wandlungsprozess noch nicht richtig zu fassen kriege, so demonstriert er mir doch eindeutig, dass die Demokratie nur noch in Sackgassen verweist. Mit ihr ist kein anderer Boden beschreitbar als der vorhandene. Demokratie führt ins Gehabte. Und davon habe ich wahrlich genug. Perspektiven gibt es nur jenseits von ihr, nicht in ihr. Democrazy‚ das war einmal. Zuneigung zur Demokratie wird zusehends nekrophil. Es ist Leichenliebe für Unentwegte. Wer heute noch demokratiebewegt ist, sollte sich nach 1848 beamen lassen Doch selbst dort könnte einem unser junger Genosse Friedrich Engels über den Weg laufen und forsch meinen: „Aber die bloße Demokratie ist nicht fähig, soziale Übel zu heilen, Die demokratische Gleichheit ist eine Chimäre, der Kampf der Armen gegen die Reichen kann nicht auf dem Boden der Demokratie oder der Politik überhaupt ausgekänipft werden.“

Dogmatisch Wie ich bin, wage ich aber keine Gegenrede.

Franz Schandl

Die Herrschaft des Redakteurs, durch ihn, für ihn, in ihm und über ihn

Verdruss plagt mich keiner in Sachen Demokratie; dazu fehlt jeglicher Anlass. Da sich mir, selbst unter Aufbietung meiner höchsten, wenn auch enden wollenden Aufmerksamkeit das Demokratiewesen schon in Schulzeiten nicht offenbaren wollte oder konnte, sah ich mich außerstande, irgendwelchen konkreten Nutzen in ihm erkennen zu sollen. ja ich glaube, ich habe nicht das Geringste zu schaffen mit ihm, denn es ist nicht auszuschließen, eher gar wahrscheinlich, dass sein Geist mich unausgesetzt und allenthalben durchweht und ich es bloß deshalb, also wegen seiner Omnipräsenz, nicht zu fassen bekomme.

Eine in früher Kindheit noch bewusst wahrgenommene Anwehung demokratischer Gesinnung verspürte ich beim Anblick einiger Menschen, wie sie mit Papierstücken hinter windigen Wänden verschwanden, um kurze Zeit später wieder daraus hervorzutreten. Schuh und Strumpf waren zu sehen gewesen von außen — genauso wie gänzlich anderen Orts. Mir kamen sofort Zweifel an der Redlichkeit dieses Vorgangs; was hatten diese Leute denn zu verbergen? Jedenfalls nichts Stubenreines! — Was sonst konnte drin in den Kabinen statthaben?

Jetzt soll ich mir was für diese Homestory hier einfallen lassen; es sei noch etwas Platz vorhanden — und die Printausgabe kommt eben mit dern horror vacui nicht anders zu Rande. Na gut, ich wurde gebeten oder bot mich an und fülle nun die Zeilen. Hätten wir redaktionsintern darüber abgestimmt, so hätt ich bestimmt gegen „Demokratie“ als Schwerpunktthema votiert; wahrscheinlich gegen eine satte Mehrheit von geschätzten 70 bis 80 Prozent, das sind immerhin vier bis fünf meiner liebenswürdigen KollegInnen. Die wären über mich drübergefahren. Selbstverständlich wäre ich pikiert gewesen, die übrigen hätten trotz und wegen ihres Siegs einen Querulanten in ihrem Kreise zu erwarten gehabt, der seinem Unmut über das Ergebnis durch Hintertreibung des Vorhabens Platz macht. Es käme zu verhohlenen Geplänkeln oder offenen Konfrontationen mit entsprechend einhergehenden und unausbleiblichen Folgen für unser Projekt.

Fiir die nächste Nummer würde ich daher — irn Trauerfall der Einführung von Demokratie — für eine geheime Abstimmung plädieren: Niemand käme unter Rechtfertigungsdruck, keiner wüsste von den Wünschen und Vorstellungen der anderen, keine Diskussion, keine Anfechtung — das jeweilige Resultat liegt allen unzweifelhaft vor, objektiv, transparent und kühl prozentuiert; bereinigt von jeglichem Ringen mit persönlichen Unsicherheiten und Zwiespältigkeiten‚ die doch lediglich die Redaktionsarbeit strapazieren. Niemand braucht sich noch um Betroffenheiten anderer zu kümmern, ja, niemand weiß überhaupt von ihnen und die unweigerliche Argwohnhege machte uns sicherlich deutlich, dass uns einfach noch nicht die Weihe wahrer demokratischer Gefasstheit zuteil wurde.

Um einer sauberen und anonymen Abstimmungsatmosphäre Rechnung zu tragen, werden wir in den kolossalischen Büchersteilwänden der Redaktionsräumlichkeiten kleine Sichtschutzabstimmungskästen einlassen, um dem demokratischen Akt die gebührend gravitätische und seriöse Anmutung zu verleihen. Haben wir uns erst einmal mit diesem effektiven und rationalen Instrument überaus gemeinsamer Entscheidungsfindung angefreundet, können wir es bald in allen Arbeitsbereichen zur Anwendung bringen; ruckzuck, Mehrheit überfährt Minderheit — unsere Demokratie wird immer direkter. Das Verfahren selbst darf freilich nicht Gegenstand des Verfahrens werden — wozu soll das auch gut sein, deswegen haben wir es ja doch! Und auf so einen Stuss muss auch erst einmal einer kommen! Meinem Unverstand eröffnete sich sodann die kaum erhoffte Möglichkeit, doch noch Einblick in das Demokratiewesen zu gewinnen, und in diesem Fall hätte ich selbstverständlich für den gegenständlichen Schwerpunkt votiert und etwas Sachlicheres hier zu berichten gehabt

Severin Heilmarm

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
2014
, Seite 27
Autor/inn/en:

Severin Heilmann:

Geboren 1976. Mitglied im Kritischen Kreis.

Franz Schandl:

Geboren 1960 in Eberweis/Niederösterreich. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Wien. Lebt dortselbst als Historiker und Publizist und verdient seine Brötchen als Journalist wider Willen. Redakteur der Zeitschrift Streifzüge. Diverse Veröffentlichungen, gem. mit Gerhard Schattauer Verfasser der Studie „Die Grünen in Österreich. Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft“, Wien 1996. Aktuell: Nikolaus Dimmel/Karl A. Immervoll/Franz Schandl (Hg.), „Sinnvoll tätig sein, Wirkungen eines Grundeinkommens“, Wien 2019.

Martin Scheuringer:

Geboren 1980, lebte bis 1999 im Mühlviertel und in Linz, seit 1999 in Wien. Studium der Soziologie und Philosophie, seit 2005 Mitglied der Redaktion der Streifzüge. Vater zweier Töchter und eines Sohnes. Würde gerne in die Praxis desertieren, findet aber das passende Fragment noch nicht.

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