FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1972 » No. 221
Gert Schäfer

Hegel x Marx = Kofler

Zu dessen 65. Geburtstag

In einer Zeit, in der sich in der Bundesrepublik Deutschland kaum einer öffentlich als Marxist bezeichnen konnte, ohne auf das Unflätigste geschmäht, von Staatsschutzinstanzen überwacht, in seinem Beruf verfolgt und mit Inhaftierung bedroht zu werden, in dieser Zeit, also vor wenig mehr als einem Jahrzehnt, gehörte Leo Kofler zu den sehr wenigen, die unbeirrbar und aufrecht blieben. Er hat darüber hinaus die Autonomie besessen, die unvermeidliche gesellschaftliche Isolierung, das klare Wissen, in diesem Augenblick allein für eine verschwindende Minderheit zu sprechen, auch ohne den Preis der starren Anlehnung an den institutionalisierten „Marxismus-Leninismus“, sein Machtsystem und seine jeweiligen Wendungen ertragen zu können.

Leo Kofler, 1947 Professor für Geschichtsphilosophie in Halle und Direktor des dortigen Instituts für Historischen Materialismus, war schon 1951 zur Flucht aus der DDR gezwungen worden; er entkam ein paar Stunden vor dem Zugriff der Geheimpolizei.

Kofler war der Parteifeindlichkeit geziehen worden, weil er der SED bürokratisch-mechanizistisches Denken bescheinigte, auf diesem Wege eine wirklich sozialistische Gesellschaft in Deutschland aufzubauen. Er hatte im besonderen eine „völlige Neuorientierung in der Schulungs- und Erziehungspraxis“ gefordert, darauf hinweisend, daß das materialistische Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein nicht ein mechanizistisches Zweischichtenmodell und alles andere als die mindere Wichtigkeit des gesellschaftlichen Bewußtseins, gar in der Periode des Übergangs zum Sozialismus, beinhaltet, daß vielmehr der Begriff gesellschaftlicher Totalität ernst zu nehmen sei.

Es war kein Zufall, daß in der DDR nichtstalinistische Kommunisten mit dem größten Haß verfolgt wurden, und es war auch kein Zufall, daß sie in der Bundesrepublik den schwersten Stand hatten. Leo Kofler hat den Mut und die Charakterstärke bewiesen, trotz alledem seinen Kampf fortzusetzen, als marxistischer Schriftsteller, in der Arbeiter- und Jugendbildungsarbeit, als Lehrer, Theoretiker und politischer Kämpfer.

Unter den andersartigen Bedingungen der Bundesrepublik nahm er den Kampf gegen eine sich verbürgerlichende Arbeiterbewegung und gegen die Arbeiterbürokratie auf. Er verwies mit Bestimmtheit auf den theoretischen Sinn und die weltgeschichtliche Dimension des Marxismus. So ist ihm auch — als einem hegelianischen Marxisten — nicht zuletzt die Kraft theoretischer Einsicht eigen, die ebenso vor perspektivelosem Opportunismus wie vor der Verstümmelung und Unterdrückung der Wirklichkeit durch das bürokratische Machtkalkül bewahrt. So schrieb er in einem alten Aufsatz „Volkstribun oder Bürokrat?“ einmal:

Der geschichtliche Sinn einer jeden großen Bewegung, die sich die Veränderung der Zustände zur Aufgabe macht, ist, solange sie noch fern vom Ziel steht, das Denken in bedeutenden weltgeschichtlichen Dimensionen. Deshalb ist die ausgebildete Theorie, wenn auch als bewegliche und stets von neuem die Probleme durchdenkende, die Seele einer jeden solchen Bewegung. Die bedeutende Theorie ist das Gefäß des Weltgeistes (in einem nicht metaphysischen Sinne), der in ihr seine verborgensten Absichten zu erkennen gibt und durch sie sich im entscheidenden Augenblick praktisch verwirklicht. Die Theorie ist sowohl der Born, in dem sich das Wissen um die Sache über die Schranken des Augenblicks, der zu philisterhaften Enge und zur Abfindung mit dem kleinlichen Erfolg verleitet, hinaus aufbewahrt, als auch die Kraft, die der Tat nach langem Warten den Mut der Konsequenz verleiht ...

Die Theorie ist also das Sprachrohr der Weltgeschichte bis zurück in den alltäglichen Aufgabenkreis hinein, ohne dessen Beachtung sie allerdings zu einem bloßen utopischen Widerhall eines hohlen historischen Echos zu entarten droht, zu einem ethischen Postulat ohne wirkliche Beziehung zur Realität.

Die Phrase von der bürgerlichen Freiheit ist nicht deshalb Phrase, weil nicht gewisse Freiheiten das Individuum wirklich freier gemacht haben, sondern weil es durch Entfremdung seines Denkens außerstande gesetzt wird, über diese Freiheiten zu verfügen. Im Kopfe des „fortschrittliichen“ Bürokraten verkehrt sich alles. Er mißt nicht die augenblicklichen Teilaufgaben an den Bedürfnissen der Weltgeschichte, sondern diese an jenen. Sein zum technisch-formellen Vollzug herabgesunkenes Spezialistentum erzeugt den Haß gegen den theoretischen Störenfried, der ihn an seiner aufopferungsvollen Arbeit für das „Mitglied“ hindert. Das ist aber das Mitglied, wie es gerade geht und steht, in seiner totalen Entmenschlichung als Träger von zum Teil der einfachsten Notdurft dienenden, zum Teil kapitalistisch-vermaterialisierten Bedürfnissen verarmseligt ... Dieses Surrogat drängt sich dem Bürokraten als Objekt seiner Tätigkeit auf, für die er nunmehr keiner Theorie bedarf. Er geht über sie zur Tagesordnung über, zur Ordnung des Tages, die die Ordnung der Entfremdung ist.

Auch wer die hegelianisierende Konzeption des Marxismus (wie ich) nicht teilen kann, wird durch Koflers Arbeiten belehrt. Sein großes Werk zur „Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“, seine „Wissenschaft von der Gesellschaft“ sowie zahlreiche literatur- und kultursoziologische Arbeiten (zuletzt: Zur Dialektik der Kultur, Makol-Verlag Frankfurt 1972) beweisen seinen unstreitigen theoretischen Rang. Es versteht sich, daß dieser bedeutende marxistische Wissenschaftler keine Chance erhielt, an einer Hochschule der Bundesrepublik zu lehren.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1972
, Seite 41
Autor/inn/en:

Gert Schäfer:

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Personen