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Gerold Wallner

Haslinger lesen und wie’s eins nicht tun sollte

Im Heft 5/95 von „konkret“ hat Erwin Riess eine Kritik an dem Roman „Opernball“ von Josef Haslinger vorgelegt. Darauf habe ich eine Replik an „konkret“ geschickt, die aber in der Folge nur im Freundeskreis zirkulierte. Hier sollen die wesentlichsten Argumente noch einmal dargestellt werden.

Haslinger hat ein Buch geschrieben, dessen grotesker Aufhänger ein Anschlag auf den Opernball ist, dem alle Anwesenden zum Opfer fallen, inclusive eines Politikers, der als Jörg Hai­der erkannt werden könnte. Unter diesem Vor­wand liefert Haslinger ein Werk, das eins so von ihm nicht erwartet hätte. Es fehlt der Ton der demokratischen Besoffenheit, es fehlt der Appell an die Gemeinschaft der Guten. Dieses Buch hat nur mit den Befindlichkeiten einer Gesellschaft und ihrer sie tragenden und aus ihr gewordenen Glieder zu tun, es ist nichts als Thema da in die­sem Buch außer Geschwätzigkeit und Gewalt. In welchem Verhältnis die beiden zu einander ste­hen, und warum sie zu einander in einem Ver­hältnis stehen, ist, wovon das Buch handelt. Ich möchte diesen Punkt besonders betonen, da immer wieder zwei Argumente gegen „Opern­ball“ ins Treffen geführt werden — nicht nur von Herrn Riess. Das eine lautet, Haslinger hätte sich an der korrekten Darstellung der Dinge vergan­gen, das zweite, an der politisch korrekten Pra­xis. Herr Riess wirft ihm beides vor. Nun ist es auch so, daß — einmal von Oklahoma und Tokyo abgesehen — ein Giftgasanschlag auf den Opern­ball relativ unwahrscheinlich ist. Aber damit nicht genug, geht Haslinger so weit, zu überle­gen, wenn so ein Anschlag auf die Spitzen der Gesellschaft schon erfolgen könnte, welche Inter­essen dem zugrunde liegen sollten und welcher Natur sie wären. Und da wird keins ausgespart, nicht einmal die Fernsehanstalt, die die Exclusiv­rechte am Opernball erstanden hat.

Und einem Reporter dieser Fernsehanstalt ist just bei dieser Übertragung des Balls und des Anschlags der Sohn gestorben. Also macht sich Fraser — so heißt dieser Reporter, eigentlich ein leitender Redakteur — auf, die Hintergründe auch seiner eigenen Tragödie zu erforschen. Was die Leserinnen und Leser des Romans aber nun gebo­ten bekommen, ist kein Thriller, in dem der Held Fallen, Fußangeln, Widrigkeiten sachlicher und menschlicher Natur und am Schluß den großen Bösewicht höchstpersönlich überwinden muß, um die Wahrheit herauszufinden, die Menschheit zu retten und die Übeltäter ihrer verdienten Strafe zuzuführen. Vielmehr erfährt eins alles mögliche über die sogenannte gute Gesellschaft, ihre mora­lischen Vorzüge und Liebenswürdigkeiten, über ihre Zwänge und Ängste, über das Leben der Polizisten und ihren nicht ganz leichten Beruf, über Fraser selbst, seine Ehe und seinen Sohn, der als Drogensüchtiger schon einmal beinahe umkam und vom Vater auf ziemlich gewaltsame Art gerettet wurde. Da ist auch sehr ausführlich die Rede von einem „Ingenieur“ genannten Indi­viduum, das zusammen mit einer recht obskuren Sekte in den Anschlag verwickelt gewesen sein will, das am Ende des Berichts auch sich selbst um s Leben bringt in einem aufgesetzten Schluß, der eher eine Signalwirkung hat: „So, es gibt eine Lösung, ein Bösewicht ist gestorben; ihr könnt zu lesen aufhören.“. Natürlich ist mit dem Ende des Buchs das Ende der Geschichte nicht da. Alles bleibt offen: hat die Sekte aus Eigenem gehandelt, oder gibt es wirklich die Hintermänner, die Has­linger als mögliche einführt, als solche, denen so ein Attentat zuzutrauen ist? Alles bleibt offen: sind die Berichte, aus denen der Roman aufge­baut wird, überhaupt glaubwürdig? Eine endlose Aneinanderreihung von Tonbandprotokollen, glaubwürdig oder nicht, liegt als unstrukturierte Erzählung vor, unterbrochen von den Aufzeich­nungen Frasers über sich selbst und seine Fami­liengeschichte, ebenso höchst subjektiv und geschönt oder nicht.

Hier setzt die Kritik dann ein, auch die von Herrn Riess. Aus dem Vorangegangen ist wohl klar, daß hier kein Krimi, kein Thriller vorliegt, bei dem am Ende das Gute zu seinem Recht kommt. Was Herr Riess nun aber vorwirft, ist etwa, daß, als Folge fehlender inhaltlicher und formaler Eindeutigkeit, sich der Autor mit Neo­nazis in einem unverantwortlich großen Ausmaß auseinandersetzt, ihnen zu viel Raum in der Erzählung einräumt; ja, er zeiht ihn sogar nicht reflektierter Sympathien für sie. Er wirft Haslin­ger auch vor, daß er eine Gesellschaft beschreibt, die es so nicht gibt, daß Haslinger sich zwar alle relevanten Themen der letzten Zeit als Material für seinen Roman zu eigen macht, aber vor die­sen Themen in Wirklichkeit verstummt; und nicht nur verstummt, sondern sie auf höchst fahr­lässige Weise umdeutet. Für Herrn Riess bedeu­tet das, daß Haslinger die Begriffe vernebelt und leichtfertig mit Tabus umgeht. Das liest sich dann — ganz beleidigte Aufklärung und political cor­rectness — so: „Haslinger borgt sich das tabui­sierte Bild des Gastods, und er tut dies mit einer Selbstverständlichkeit, als handelte es sich um irgendein beliebiges Tableau, eine jener unzähli­gen Menschheitskatastrophen eben, deren unter­schiedslose Aneinanderreihung nach revisioni­stischer Auffassung Geschichte ausmacht. Die Fiktion ist aber nicht befugt, sich leichtfertig über historische Tabus hinwegzusetzen, und der infla­tionäre Gebrauch desWorts ‚vergasen‘ stellt einen solchen Tabubruch dar. Darüber hinaus finden sich in Opernball weitere Tendenzen zur Relativierung des Holocausts.“ Und weiter: „... in der Tat gibt es keine langweiligeren Menschen als jugendliche Faschisten, und ein umsichtiger Autor würde schon aus Gründen des geistigen Selbstschutzes vermeiden, sie in das Zentrum einer Erzählung zu rücken“.

Herr Riess fordert von Haslinger ein, daß er sich gefälligst an einen erarbeiteteten und gülti­gen Kanon zu halten habe, der etwa dem ent­spricht, was Haslinger mit Lichtermeeren und wohl definierten sozialen Gegnern bislang ver­bunden hat. Insofern verlangt er auch, daß das literarische Werk Haslingers sich darauf zu beschränken habe, denunziatorische Schriftstel­lerei mit politischem Mut zu verbinden, aufzu­klären, kenntlich zu machen, und zwar so, daß die Sache möglichst klagsfähig sein soll. Als Vor­bild wird Bettauer hervorgeholt, und wer nicht wie Bettauer schreibt, schreibt schlecht. Doch Haslingers Thema ist nicht der aufklärerische Gestus. Im Gegenteil ist das Thema, das eigent­liche, nicht das Heranwachsen aus dem schlecht gereimten noch fruchtbaren Schoß, sondern der Einbruch irrationaler, individualisierter, asozia­ler Gewalt ohne Rückkopplung in eine Gesell­schaft, der alle Menschen schon so gleich sind, daß sie an dieser Gleichgültigkeit zerbrechen werden, sofern sie sich nicht zum Herrscher über ihre Umgebung aufzuschwingen mühen. Das ist das Thema von „Opernball“ und der darin beschriebenen Gewalt, ob diese nun der Rechts­streit des Dichters mit seinem Mäzen, der Dro­gentrip mit folgendem Entzug des Sohnes Frasers oder das Attentat auf die gute Gesellschaft, der kalte Putsch gegen die schlechte Gesellschaft ist; was dann auch als dasselbe daherkommt: die gute und gleichzeitig schlechte Gesellschaft, in der sich eins bewegt.

Während Herr Riess Jelineks letztes œuvre „Die Kinder der Toten“ über den grünen Klee lobt und die repetitive Darstellung von Vampirismen und Untoten als höchst gelungenes Transparent­machen österreichischer Verhältnisse feiert, die Ausschlachtung des Todes Rudi Nierlichs und anderer Typen der österreichischen Gesellschaft im Genre des Horrorromans ästimiert, fordert er von Haslinger angesichts dessen „eigentlichen Themas“ einen Realismus ein, der sich an der beschriebenen Gesellschaft (oder besser: Gesel­ligkeit) gründlich blamieren würde. Heraus käme so etwas wie ein neuer Simmel, denn mittlerweile kommen Roman und Wirklichkeit auf negative Weise zur Deckung, eine Erkenntnis, zu deren Aufnahme es nicht mehr der Anschläge von Tokyo und Oklahoma bedurft hätte; und das bezieht sich jetzt nicht auf den gegebenen, vor­liegenden Band und die bestätigende Zufälligkeit der Attentate, sondern auf allgemeine künstleri­sche Beschreibung der die Kunst umgebenden und hervorbringenden Wirklichkeit selbst. Ich habe weiter oben davon gesprochen, daß Haslinger sich als Thema stellt und beschreibt die Befind­lichkeit einer Gesellschaft, die auf sich selbst zurückgeworfen ist, die (allerdings auf negative Weise) zu sich kommt. Ich möchte darauf ein klein bißchen näher eingehen.Vor nicht allzu lan­ger Zeit, vor etwa fünfzig bis hundert Jahren noch, war eine gegebene künstlerische Aussage von einem einheitlichen, inhaltlich und formal gleichermaßen eingehaltenen Prinzip bestimmt. Vor dem Hintergrund einer vorgeschobenen Situation — wie real oder irreal sie auch sein mochte — trafen dramatis personae aufeinander, die wie in einem Reagenzglas (oder einem Mysterienspiel) durch die Darstellung ihres Parts und die Abgleichung ihres Parts mit dem anderer exemplarisch das Schicksal der Menschheit auf sich nahmen und durch ihr abbildhaftes Handeln gesellschaftliche Beziehungen und Vorgänge (zumindest ideologisch) transparent machten. Die Schicksale dieser Kunstgestalten eröffneten dadurch ein weites Feld für mittelmäßige Schul­lehrer, die hinfort ihre Anbefohlenen mit Fragen der Art: „Wie hättest Du an Stelle von Wilhelm Teil beim Apfelschuß gehandelt?“ quälen durften.

Die Standardantwort auf diese pädagogische wie kunstkritische Zumutung ist immer noch: „Hier handelt es sich um eine konstruierte Situa­tion, die uns die Kunst, nicht aber das Leben bie­tet; ich kann nicht sagen, was ich an Teils Stelle gemacht hätte, ich kann höchstens ein paar Refle­xionen über Handeln und Sein anbringen, die genauso spekulativ wie die Figur sind, an der sie exemplifiziert wurden.“ Dies gilt für die „Brüder Karamasow“ genauso wie für die „Stadt in der Wüste“, den „Untertan“ ebenso wie für den „Zauberberg“. Dies gilt aber nicht mehr für die heutige Gesellschaft. Hat früher ein Kunstwerk noch vorweggenommen, was im Allgemeinen undenkbar war und nur als Kunstwerk goutiert, aufgenommen und bedacht werden konnte, ver­sehen mit der Anmerkung, hier solle uns etwas gesagt, hier sollen wir vorbereitet und vielleicht sogar gewarnt werden, so ist heute die Inkubati­onszeit zwischen künstlerischer Äußerung und realem Sachverhalt abgelaufen. Was einst als Kunstwerk provozierte und so mit höheren Wei­hen versehen noch durchgehen mochte, ist heute fade geworden: die Dialoge von Wladimir und Estragon erinnern nur noch an ein abgestande­nes Ehedrama.

Dafür aber finden sich Romane, die nicht mehr als kunstvolles Ebenbild einer Gesellschaft sich gerieren, auch nicht als sensibler Ausblick aus der Gegenwart in welche Zukunft auch immer, sondern als Klischee im photographi­schen Sinne sich auf die Wirklichkeit legen und mit ihr verschmelzen; natürlich verstummen vor diesem Vorgang Kategorien wie Realismus oder Naturalismus, vielmehr verschafft sich ein Blick Geltung, der an Virtualität und medialer Vielfalt sich schulen mußte. Die Aussage, die diese Form von künstlerischer Äußerung transportiert, lau­tet: „Die Kunst ist nicht mehr der Exerzierplatz von Wirklichkeit, wo geübt und vorgestellt wird, was einst sein könnte, die Kunst hat vielmehr diese Funktion verloren und ist bloß noch iden­tifizierendes Abbild einer Welt, die wie ein schlechter Roman ist.“ Das gilt übrigens für „Schubumkehr“ genauso wie für „American Psy­cho“, für die Malerei von Lassnig ebenso wie für die Musik von Essl. Damit möchte ich noch nicht ein Qualitätsurteil über die Werke und Personen abgegeben haben. Im Gegenteil, wo etwa Lassnig ihre große analytische und fachliche Kompetenz ins Treffen führt, tendiert Haslinger dazu, dies aufzugeben, von Menasse und seiner „Schu­bumkehr“ ganz zu schweigen.

Die Frage ist also: hat Herr Riess Haslinger richtig kritisiert? Ich glaube, daß nicht und will noch einmal die wesentlichen Differenzen zwi­schen mir und Herrn Riess herausstellen. Herr Riess läßt sich auf den vorgefundenen Text erst gar nicht ein, sondern legt jeder Beschäftigung damit ein Raster für soziale und literarische Betrachtung vor, das nur seine eigene einge­schränkte Sichtweise eines enttäuschten guten Menschen beweist. Dazu kommt noch ein über­aus penetrantes Sendungsbewußtsein, das mit dem Wissen darüber ausgestattet ist, wie ein guter Mensch schreiben und was ein guter Mensch lesen soll. Als Grundlage für diese Anmaßung dient ein manichäisches Konzept von Gut und Böse, das wieder nur bestimmten Cha­raktermasken ihren Auftritt erlaubt: wer Kol­portage schreibt, muß wie Bettauer schreiben, muß aufrütteln, Sympathie erwecken, den Teufel an die Wand malen und gleichzeitig bannen; wer Überfälle begeht und sich in irrationale Welter­lösungsphantasien versteigt, kann kein guter Mensch sein; wer kein guter Mensch sein kann, ist ein böser Neonazi; wer einen bösen Neonazi falsch darstellt, kann kein guter Schriftsteller sein — der Kreis schließt sich. Es ist dieses hermetische Weltbild, das Herr Riess zu seiner Kritik verführt, die am Schluß vollkommen versandet; seine Behauptung, Haslinger hätte einen Landserro­man verfaßt, macht letztendlich eine Auseinan­dersetzung mit Herrn Riess zum Schattenboxen.

Ich will also lieber versuchen, ein anderes Finale zu präsentieren, und das könnte so gehen: Wir leben heute in einer Welt, die mit ihrer künst­lerischen Entäußerung zur Deckung kommt. Das Unwahrscheinliche geschieht nicht mehr in der Konstruktion, das Exemplarische geschieht nicht mehr in der Darstellung; das Unwahrscheinliche begegnet heute einem unaufdringlich auf Schritt und Tritt, das Exemplarische ist zum Alltäglichen geworden (die Gesellschaft als ideologisches Konstrukt, als künstlerische Aussage ist tatsäch­lich mit sich selbst als (sich be-) herrschendes Ver­hältnis eins geworden). War „Alles ist erlaubt (wenn Gott denn tot ist)“ noch vor nicht allzu langer Zeit ein Satz, der in Kunst und Philosophie des langen und breiten gewälzt wurde, so ist „anything goes“ zum nicht hinterfragten Allge­meingut geworden. Künstler wie Haslinger rea­gieren darauf, daß sie dieses „anything goes“ abrufen. Sie stellen dar, was ründ um sie ist. Sie verschwenden keinen Gedanken an Analyse oder andre Formen von Einsicht, sie fragen nicht, was der Gesellschaft an negativer Entwicklung zuzu­trauen wäre und ob eins davor warnen sollte. Sie zeichnen einfach ein unkompliziertes Bild dessen, was so geschieht. Darin liegt sowohl die Stärke als auch die Schwäche von Haslingers Buch. Die Stärke ist ein Realismus, der sich nicht an Cha­raktermasken orientiert, sondern an Wirkungs­losigkeit; selbst wo bis zur Kenntlichkeit beschriebene Figuren den Roman bevölkern, beschreiben sie nicht eine soziale Schicht mit zuordbaren Machenschaften, sondern bloß soziale Möglichkeiten, die zu nützen schon eine ziemlich beliebige Angelegenheit geworden ist, weil sie allen offen stehen. Dieser Realismus ist photographisch (technisch reproduzierbar) treu. Das ist aber auch seine Schwäche. Er läßt sich von der Perspektivlosigkeit der beschriebenen Zustände vereinnahmen und affirmiert sie. Nicht, daß Haslinger mit dem Feind fraternisiert, wie Herr Riess glauben machen möchte; nein, es gibt nichts Gutes zu verteidigen, geschweige denn Aussichten in eine Entwicklung zu beschwören (sei es zum Guten, sei es zum Bösen), und so läßt Haslinger sein republikanisches Pathos ersatzlos schweigen. Herr Riess macht’s ihm zum Vorwurf.

Derweilen sind Welt und Roman schon in eins gefallen, und so geschah’s.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1996
, Seite 8
Autor/inn/en:

Gerold Wallner:

Freier Autor und Anbieter antiquarischer Bücher in Wien.

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