FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 129
Economicus

Gulasch und Weltrevolution

Es ist ein Jammer, daß die großen Augenblicke der Weltgeschichte für ihre Zeitgenossen durch nichts, aber schon gar nichts von ihren Normalaugenblicken zu unterscheiden sind. Da dröhnen keine Tuben des Weltgerichts, da verkündet kein Weltgeist auf lateinisch, daß die Würfel gefallen sind, da tritt ganz einfach Chruschtschew in Budapest vor das Mikrophon und sagt auf russisch, daß Gulasch wichtiger ist als Weltrevolution.

Und um das Gulasch geht es wirklich im Osten, seitdem Chruschtschew in der Agrarpolitik Pleite gemacht und Moskau dadurch in seinem Block an ökonomischer Leitbildlichkeit mehr verloren hat als je zuvor. Mag Chruschtschew seinen Getreuen weiterhin der Führer zur Weltrevolution sein, ihr Führer zum Gulasch ist er nicht mehr.

Als erstes kommunistisches Land ist Rumänien aus der Reihe des Comecon getanzt, und dieser „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ hat es heute mit Rat, Gegenseitigkeit und Hilfe schwer. Denn seine Versuche, durch politischen Druck eine zwischenstaatliche Produktionslenkung im Ostblock zu erreichen, haben in Bukarest offenen Widerstand und eine heftige Liebelei mit Washington, Paris, London und Wien bewirkt, eine Gefühlswallung, die von den Demokratien durch liberale Lieferzusagen aller Art offen ermutigt wurde.

Daß die Seitensprünge Rumäniens toleriert werden, hat, abgesehen von Chruschtschews wirtschaftlichen Schwierigkeiten, seinen Grund vor allem im Konflikt mit China. Dieser legt es nahe, die Spannungen im geschrumpften eigenen Lager nicht zu vermehren, sondern dem Häuflein der ideologisch Aufrechten die Wahl des wirtschaftlichen Weges weitgehend zu überlassen. Als gäbe es zwischen Ökonomie und Ideologie gar keine Beziehung oder als könnte man diese Beziehung bagatellisieren, ohne vom Marxismus endgültig abzuweichen.

Der neue Weg führt in höchst bemerkenswertem Tempo zu westlich-„kapitalistischen“ Ideen, Methoden und Organisationen. Der östliche „Monolith“ entwickelt sich zu einem polymorphen Gebilde, und dies wird durch mancherlei analoge politische Desintegrationserscheinungen im westlichen Block gefördert. Denn auch die USA müssen ihre bisher undiskutierte Führerstellung gegen die eigenen Verbündeten verteidigen, und die inneren Probleme der NATO sind nicht geringer als die des Warschauer Paktes. Beide Blöcke scheinen sich in zwei Staatengruppen aufzulösen, deren Mitglieder ein noch vor kurzem undenkbares Maß der Entscheidungsfreiheit in Anspruch nehmen. Das gilt für Frankreich, England, Griechenland und die Türkei wie für Rumänien, Polen und Ungarn.

Für Moskau und Washington wäre es schlechte Politik, durch einen harten Kurs gegen die Verbündeten die Schwierigkeiten zu vermehren, die sich für beide Supermächte außerhalb ihres Bündnissystems, vorab in Asien, zu Bergen türmen. Nachgiebigkeit, „Liberalismus“, Unterstützung der wechselseitigen Blockaufweichung scheinen das Gebot der Stunde. Moskau muß das Abrücken der kommunistischen Wirtschaft gegen Westen ebenso dulden wie Washington, unter Preisgabe der alten Embargopolitik.

Innerhalb der Sowjetwirtschaft hat das große Umdenken begonnen, seit Professor Liberman 1962 seinen neuen Plan entwickelt hat, die Betriebe am Gewinn statt am Staatsbefehl zu orientieren. Soeben hat die „Prawda“ eine Lobeshymne auf den durch Angebot und Nachfrage regulierten Markt veröffentlicht, und Chruschtschew hat befohlen, probeweise zweihundert „Liberman-Betriebe“ einzurichten.

Doch zuerst wurde die „Neue Form“ der auf Gewinn zielenden Betriebswirtschaft in Bulgarien verwirklicht. Ein großes Textilkombinat wurde versuchsweise aus dem staatlichen Plan und der bürokratischen Kontrolle entlassen, und das theoretische Organ „Novo Vreme“ wußte von einem gewaltigen Produktionserfolg zu berichten.

In Ungarn wird die Rückkehr zur Gewinnwirtschaft ebenso eifrig diskutiert wie in der Tschechoslowakei. Dort hat man auch unter dem Druck der unhaltbaren Situation mit der Reprivatisierung kleiner Gewerbebetriebe begonnen, und „Rude Pravo“ hat festgestellt, es sei wichtiger, den ständig wachsenden Bedarf an Dienstleistungen zu decken, als ängstlich darüber zu wachen, daß niemand persönliche Gewinne mache.

In Polen, wo der Privatsektor immerhin noch sehr viele Kleinbetriebe umfaßt, will man ihn jetzt zugunsten des Fremdenverkehrs auf Gaststättenbetriebe ausdehnen, denn auch die Segnungen des Ausländertourismus sind in der kommunistischen Welt entdeckt und die Grenzen für Devisenbringer weit geöffnet worden.

Weiter, immer noch weiter. Selbst in der deutschen Ostzone, wo der Grundsatz gilt: Gulasch ist, was den Russen schmeckt, soll ein neues Wirtschaftsprogramm mit „ökonomischen Hebeln“, also wohl mit gewissen Gewinnanreizen ausgebrütet werden.

Am eindrücklichsten wird die neue Wirtschaftspolitik des Ostens durch den Trend so vieler kommunistischer Staaten zu internationalen Organisationen des Westens verdeutlicht: zum GATT, zur Weltbank, selbst zur EWG, bei der vielleicht schon in Kürze Vertreter von Oststaaten akkreditiert sein werden. Das albanische Zentralorgan „Zeri i Popullit“ hat so Unrecht nicht, zu schreiben: „Marx würde sich im Grabe umdrehen.“

Ebenso recht hat aber die „Berliner Bank“ in ihren „Mitteilungen für den Außenhandel“: „Die Mitgliedschaft einer größeren Anzahl von Ostblockländern im GATT zwingt dazu, das Verhältnis zu den Staatshandelsländern, das bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, neu zu überdenken. Wenn diese Länder innerhalb des GATT ein größeres Gewicht erlangen, entsteht eine neue Situation, die das Problem eines völligen Umbaues des GATT akut werden lassen könnte.“

Damit ist deutlich ausgesprochen, daß die sich anbahnende tiefgreifende Änderung der kommunistischen Wirtschaftspolitik, vor allem die von ihr erstrebten Westkontakte, auf die wirtschaftliche Organisation der Demokratien nicht ohne Einfluß bleiben kann. Tatsächlich steht heute im Osten das ganze Wirtschaftssystem zur Diskussion, wenn diese auch mit marxistischen Phrasen verbrämt und mit jener Vorsicht geführt wird, die in der kommunistischen Welt nötig ist. Wie weit der Umbau des östlichen Staatskapitalismus gehen wird, läßt sich heute noch nicht sagen.

Für den Westen wird es entscheidend sein, ob Chruschtschew Weltrevolution meint, wenn er Gulasch sagt, oder wirklich nur Gulasch, wenn er Weltrevolution sagt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1964
, Seite 407
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