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Perrine Wilhelm

Gewalt und Politik bei Günther Anders und Hannah Arendt

Vortrag an der Tagung „Technik – Macht – Gewalt. Günther Anders und die Politik / das Politische“, Freiburg 16.–18. November 2017

Dieser elfte der zweiundzwanzig Beiträge konfrontierte am zweiten Tag präzise das Tagungsthema. Günther Anders’ späte Thesen zur Gewalt hatten dem beinahe Neunzigjährigen fast ausschließlich heftigen Widerspruch, Schelte und die Verdächtigung als senil eingetragen. Er selbst konstatierte schmunzelnd, dass man offenbar noch nicht einmal seine Gedichte zur Kenntnis genommen hatte, zumal das 1930 entstandene Über einen Fehler unserer Tugend,* und auch die Ketzerei Bad Ischl. Die Beichte** nicht ernstgenommen hatte.

Perrine Wilhelm wählte einen anderen Zugang: Ohne in der Sache selbst*** zu urteilen, zeigt sie den Gegensatz zwischen Anders’ Thesen zur Gewalt und Hannah Arendt sowie eine Affinität zu Walter Benjamin, die jene oft wütende Schelte der Achtzigerjahre naiv erscheinen lässt.

* Tagebücher und Gedichte, Beck: München 1985, S.279 ff., online im FORVM: G.O., Lob der Unangenehmheit, Heft 496-498, Juni 1995, S. 98 f.
** Ketzereien, Beck: München 1982, S. 333 ff.
*** Gewalt – Ja oder Nein. Eine notwendige Diskussion,
Droemer-Knaur: München 1987

Günther Anders 1990 bei Elisabeth Freundlich
Bild: Lotte Tobisch, © Barbara Urbanek

Günther Anders’ und Hannah Arendts Stellungen zur Gewalt in den letzten Jahren ihres Lebens und ihrer philosophischen Karriere sind scharf entgegengesetzt. In der Tat unterscheidet Hannah Arendt 1970 in ihrem kurzen Text Macht und Gewalt die instrumentelle Gewalt von der politischen Macht. Für Arendt handelt es sich darum, einen neuen Begriff der Macht zu formulieren, der im Gegensatz zur traditionellen Auffassung von Macht als Herrschaft steht. Diese Tradition fängt für Arendt mit Plato an und findet ihren Höhepunkt in Max Webers Theorie der Macht. Diese definiert die Macht als die Möglichkeit, einen fremden Willen dem eigenen zu unterwerfen, und stellt sie als eine Beziehung zwischen Befehl und Gehorsam dar. Arendts philosophische Neuheit bestand darin, einen wirklich politischen Machtbegriff zu entwickeln, der die Macht als eine Beziehung mit dem Anderen begreift und nicht als eine Herrschaft über den Anderen. Nur diese klare Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt kann Arendt zufolge den wirklichen Sinn der Politik erklären und die konfliktgeladene Beziehung zwischen Politik und Gewalt erläutern. Im Gegensatz dazu übt der 84-jährige Anders 1986 scharfe Kritik am zivilen Ungehorsam und ruft zu gewaltsamem Handeln gegen die pro-nuklearen Politiker auf. Anders’ Thesen in den Gesprächen, die das Buch Die Gewalt: ja oder nein, eine notwendige Diskussion versammelt, sind nämlich so überraschend wie provokativ. Während Arendt die Wichtigkeit des zivilen Ungehorsams für die Veränderung des Rechts und im Kampf für die Bürgerrechte betont, rügt Anders seinerseits die pazifistischen Demonstrationen gegen die Atombombe und die zivil genutzte Kernenergie als bloße und wirkungslose „Happenings“. Anders zufolge hat uns die technische Lage in einen atomaren Notstand versetzt, der Gewalt nicht nur erlaubt, sondern empfiehlt: die Gewalt wird in diesem Notstand zu Notwehr. Diese schockierende Legitimation der Gewalt, die schon zu Anders’ Zeit Anstoß erregt hat, wollen wir genauer erläutern.

Die Konfrontation von Anders’ und Arendts Thesen über Gewalt führt uns zu der folgenden Fragestellung: Hat Anders’ „Gelegenheitsphilosophie“ mit einer Phänomenologie des Handelns nichts zu tun? Läuft Anders’ Philosophie, sowohl in ihren anthropologischen Grundlagen, als auch in ihrer Diagnose unserer Zeit als „Endzeit“, Gefahr, den Sinn der Politik und des freien Handelns zu verpassen? Oder führt das utopische Vertrauen auf eine Phänomenologie des Handels dazu, die wachsende Gefahr der technischen Bedrohung aus den Augen zu verlieren? Mit anderen Worten, ist Anders’ und Arendts Meinungsverschiedenheit über Gewalt der Ausdruck eines unlösbaren Widerspruchs zwischen einer Phänomenologie der Technik und einer Phänomenologie des Handelns?

Diese Untersuchung wird sich in drei Teile gliedern. Erstens wollen wir der Arendt’schen Vorstellung des friedlichen Handelns ihren ganzen Sinn wiedergeben, um zu zeigen, dass sie sich Anders Argument des zivilen Ungehorsams als bloßer Happenings widersetzt, und dass Gewalt nur eine Gefahr für die Macht darstellen kann. Aber andererseits ist Anders’ Ablehnung des Pazifismus in Gewalt, ja oder nein kein Vertrauensmangel und keine Missachtung der Macht des gemeinsamen Handelns, sondern eine verzweifelte Klarheit über die Technokratie, in der wir leben. Vielleicht können wir in einem dritten Teil einen anderen Sinn der Gewalt wiederfinden, den Benjamin in seinem Essay Zur Kritik der Gewalt entworfen hat, und in dem sie eine reine Form außerhalb des Rechts trägt, um eine Mediation zwischen den Menschen und einen Appell gegen die Katastrophe darzustellen.

Arendts phänomenologische Trennung zwischen Macht und Gewalt. Gewalt als eine Gefahr für das Handeln der politischen Akteure

Der von Arendt betonte Unterschied zwischen Macht und Gewalt beruht auf einem eigentlich politischen Machtbegriff, der gänzlich verschieden von der traditionellen Auffassung der Macht als Herrschaft ist. Deshalb hebt Arendt in Macht und Gewalt hervor: „Erst wenn man diese verhängnisvolle Reduktion des Politischen auf den Herrschaftsbereich eliminiert, werden die ursprünglichen Gegebenheiten in dem Bereich der menschlichen Angelegenheiten in der ihnen eigentümlichen Vielfalt wieder sichtbar werden“ (Arendt, 1970, 45). Um jenseits der philosophischen Tradition eine andere Auffassung der Macht zu finden, bezieht sich Arendt auf die politische Erfahrung der Griechen, die die Isonomie als Prinzip der Verfassung der athenischen Polis eingesetzt haben. Arendt definiert die Isonomie als eine „Organisation der Gleichen im Rahmen des Gesetzes“ (ebd., 41). Die Griechen erinnern uns daran, dass die Macht nicht auf dem Verhältnis zwischen Befehlenden und Gehorchenden beruht, sondern nur einer Gruppe gehört, deren Mitglieder Gleiche unter Gleichen sind und sich besprechen, um gemeinsam zu handeln. Arendt zufolge entspricht die Macht „der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“ (ebd., 45). Für Arendt ist die Macht nur Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, wie die Gruppe zusammenhält. Sie kann nicht Besitz eines Individuums sein, und wenn man von einem „mächtigen Mann“ spricht, ist er es Arendt zufolge in einem übertragenen Sinn. Tatsächlich sollten wir lieber von einem „starken Mann“ sprechen, da die Stärke die Eigenschaft eines unabhängigen Dinges oder einer unabhängigen Person ist. Die Stärke ist mit der Gewalt verbunden, weil sie von den Gewaltmitteln vervielfacht werden kann, im Gegensatz zur Macht, die ihre Legitimität aus der Zahl ihrer Unterstützer bezieht. „Zu den entscheidenden Unterschieden zwischen Macht und Gewalt gehört, dass Macht immer von Zahlen abhängt, während die Gewalt bis zu einem gewissen Grade von Zahlen unabhängig ist, weil sie sich auf Werkzeuge verlässt“, betont Arendt in Macht und Gewalt (ebd., 43).

Aus dieser Auffassung der Macht als des Besitzes einer handelnden Gruppe folgt, dass eine Regierung ihre Legitimation in der aktiven Unterstützung der Bürger findet, die dieser Regierung ihre Zustimmung geben. Die Macht einer politischen Institution, eines Staats oder einer Regierung, kommt Arendt zufolge nur aus der bürgerlichen Unterstützung und deren Zustimmung. „[W]as den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat. […] Alle politischen Institutionen sind Manifestation und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt“, erläutert Arendt (ebd., 42). Das bedeutet, dass alle Regierungen auf Meinung beruhen, das heißt: auf der Zahl von Meinungen, die zu ihren Gunsten votieren. Und es bedeutet vor allem, dass die Bevölkerung ihre Zustimmung einer Regierung oder einem Gesetz entziehen kann. Im Gegensatz zum fraglosen Gehorsam gegenüber Gewalt, ist die Unterstützung einer Regierung niemals bedingungslos. Deshalb ist auch die friedliche Handlung des zivilen Ungehorsam eine Manifestation der Macht, in der eine Mehrheit der Bevölkerung einem Gesetz seine Unterstützung entzieht und zusammenhandelt, um diesem Gesetz zu widersprechen und es zu ändern. Für Arendt sind das gewaltfreie und gemeinsame Handeln und der zivile Ungehorsam die einzige Art, die Macht zum Vorschein zu bringen. „Von „gewaltloser“ Macht zu sprechen, ist ein Pleonasmus“, sagt uns Arendt (ebd., 57). Nur ein gewaltloses Handeln kann die historischen Verfahren abbrechen und etwas Neues zum Vorschein bringen.

Aus diesem Standpunkt scheint Anders’ Kritik der gewaltlosen Demonstrationen die Macht des Handelns, das sich immer auf der Bühne des öffentlichen Raumes abspielt, zu verfehlen. Tatsächlich benutzt Anders die Metapher des Theaterspiels, um zu zeigen, dass der Pazifismus nur eine heuchlerische Komödie sei, welche zur Beruhigung des Gewissens diene, aber keine politische Wirkung auf die Technokratie hat. Die gewaltlosen Aktionen der Studentenbewegung der sechziger Jahre sowie die Demonstrationen gegen die Atomkraft der achtziger Jahre schillern für Anders zwischen Schein und Sein. Sie sind nur „Schein-Aktionen“ oder „Happenings“ (Anders, 1992, 24). Anders erläutert: „Die diese [Aktionen] durchführten, glaubten zwar, die Grenzen des Nur-Theoretischen überschritten zu haben, aber sie blieben doch „actores“ nur im Sinne von Schauspielern. „Sie spielten nur Theater. Und zwar aus Angst vor dem Wirklichhandeln. In Wirklichkeit lösten sie keinen Schuss, sondern nur einen Schock aus. Sogar einen, der genossen werden sollte. Theater und Gewaltlosigkeit sind eng verwandt.“ (Ebd., 24). Arendt ihrerseits betont auch die Verwandtschaft der gewaltlosen Aktion mit dem Theater, aber um die Macht der Erscheinungen und des durch ein friedliches Handeln ausgelösten Schocks zu zeigen. In „What is Freedom“ hebt Arendt hervor, dass die freie Aktion zur Virtuosität des politischen Akteurs gehört. Das gemeinsame Handeln nähert sich Arendt zufolge den Leistungskünsten oder „performing arts“ (Arendt, 2006, 153) wie Theater und Tanz, im Gegensatz zu den schöpferischen Künsten oder „creative arts of making“ (ebd., 153) wie der Malerei. In On revolution erinnert Arendt daran, dass alle politische Akteure auf der öffentlichen Bühne ihre Rollen spielen, und dafür die entsprechenden Masken (auf Lateinisch „persona“) tragen. Für Arendt ist der öffentliche Raum der Politik der Ort der Erscheinungen, und in der Politik Heuchelei zu suchen, stellt die Gefahr dar, eine Unterscheidung zwischen Sein und Schein in diesem öffentlichen Raum wiedereinzuführen.

Für Arendt sind die friedlichen Demonstrationen einer Bewegung des zivilen Ungehorsams wirkliche Manifestationen der Macht. Aber die phänomenologische Unterscheidung zwischen Gewalt und Macht, die Arendt durch phänomenologische Übungen im politischen Denken wiederentdeckt und die unsere politische Bedingung erklärt, ist jedoch in den wirklichen politischen Lagern nicht so deutlich und getrennt. Arendt erläutert: „Auch Macht und Gewalt treten gewöhnlich, wie wir sehen werden, kombiniert auf und sind nur in extremen Fällen in ihrer reinen Gestalt anzutreffen – woraus man natürlich nicht folgern kann, dass Autorität, Macht und Gewalt alle auf dasselbe hinauslaufen“ (Arendt, 1970, 48). Die Regierungen stützen sich auf ihre institutionelle Gewalt und auf die Macht, die die Zustimmung der Bevölkerung ihr verleiht. Arendt zufolge hat es nie „einen Staat gegeben, der sich ausschließlich auf Gewaltmittel hätte stützen können“ (ebd., 51). Selbst eine totalitäre Herrschaft braucht die Machtbasis, die ihr Geheimpolizei und deren Netz von Spitzeln sichern. Und im Spiel zwischen der Macht und der Gewalt in den wirklichen Staaten kann die Manifestation der Macht der Bevölkerung immer die Oberhand über die Gewalt des Staats haben, auch wenn dieser Staat über die entwickeltesten technischen Mittel verfügt. In unserer Lage ist, Arendt zufolge, eine Revolution immer möglich, trotz der exponentiellen Stärkung der Gewaltmittel des technischen Zeitalters. Zwar haben die Gewaltmittel des Staats eine absolute Überlegenheit über die Gewalt, die Revolutionäre ausüben können. Aber sobald die Macht der Bevölkerung sich ausgedrückt hat, sobald die Mehrheit ihre Zustimmung der Regierung ausdrücklich entzogen hat, hört die Repression auf. Die Gewaltmittel werden zwecklos, wo Armee und Polizei den Befehlen nicht mehr gehorchen. Die Lösung des Konflikts hängt also von den Meinungen gegen oder für die Regierung ab. Arendt fasst es zusammen: „Begrifflich gesprochen heißt dies: Macht gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen, Gewalt jedoch nicht. Gewalt ist ihrer Natur nach instrumental; wie alle Mittel und Werkzeuge bedarf sie immer eines Zwecks, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt. Und das, was eines anderen bedarf, um gerechtfertigt zu werden, ist funktioneller, aber nicht essentieller Art“ (ebd., 52). Was ihre Legitimität in sich selbst trägt, ist nur die Macht.

Allerdings, auch wenn in politischen Lagen, wo Gewalt und Macht zusammengebunden sind, die Macht die Oberhand über der Gewalt hat, so bleibt dennoch auch dort Gewalt eine Gefahr für die Macht. Arendt betont, dass in den Fällen, wo die Macht und die Gewalt in Reingestalt auftreten (zum Beispiel während einer feindlichen Besatzung eines Landes), sie einander gegenseitig zerstören können. Die Gewalt kann die Macht und die politischen Verbindungen zwischen den Leuten zerstören. Aber sie kann diese Verbindungen nicht wiederherstellen. Nur die Macht einer Gruppe kann durch ein unvorhersehbares Handeln etwas Neues in der Welt bringen und den Lauf der historischen Vorgänge abbrechen. Die Gewalt kann nur als Instrument in einem von vornherein festgestanden Vorgang dienen. Am besten kann sie eine Regierung gegen eine andere austauschen, aber sie kann die Struktur der Macht nicht ändern. Macht ist ein Selbstzweck, da sie ihre Legitimität aus dem Machtursprung bezieht, der mit der Gründung der gemeinschaftlich handelnden Gruppe zusammenfällt. Im Gegensatz dazu ist Gewalt nur ein Instrument, das erst durch einen Zweck gerechtfertigt werden muss. Die Gewalt kann also für bestimmte Fälle, wie z. B. Notwehr, gerechtfertigt werden. Sie ist aber niemals legitim und kann das politische Handeln im öffentlichen Raum nicht ersetzen. Und vor allem ist es Arendt zufolge dem Sinn der politischen Macht zuwider, Gewalt als Zweck der Politik einzusetzen. Im Kontext der Studentenbewegung der Sechziger Jahre widerspricht Arendt den Argumenten der Neuen Linken (New left), die nach Jean-Paul Sartre und Franz Fanon für die Apologie der Gewalt und ihre Anwendung in der Politik empfänglich waren.

Aber ist Anders blind davor, welche Gefahr die Gewalt für die Macht und die Politik bedeutet, ganz wie bestimmte Theoretiker der neuen Linken? Unterschätzt er wirklich die Macht als Handeln des zivilen Ungehorsams oder ist er sich der technischen Lage der dritten Industriellen Revolution so bewusst, dass er Gewalt als letzte Chance der Menschheit sieht?

Die Gewalt als eine Notwehr unter der totalen Herrschaft der atomaren Drohung. Anders’ Auffassung vom Widerstand in der Endzeit

Anders macht keine begriffliche Unterscheidung zwischen Gewalt und Macht, denn mit der dritten Industriellen Revolution, das heißt mit der Erfindung der Atombombe, wäre diese Unterscheidung überholt, antiquiert, so wie viele andere philosophische Unterscheidungen [1]. Der Super-GAU von Tschernobyl, der sich kurz vor den Gesprächen zwischen Anders und Manfred Bissinger (Anders, 1992) ereignet hatte, erinnert die Menschheit daran, dass sie nur in der Welt einer Fristverlängerung existiert. Mit den Atombomben ist der Mensch von nun an fähig, sich selbst in seiner Gesamtheit zu vernichten, und er muss die vernichtende Allgewalt der technischen Mitteln ermessen und erfinden, obwohl diese Pflicht die Vorstellungs- und Gefühlsfähigkeiten des Menschen übersteigt und überfordert. Das Prometheische Gefälle (Anders, 2002a) zwischen dem Menschen und seinen Gewaltmitteln zu überwinden, wird zur größten moralischen Pflicht unserer Zeit. Deshalb ist die Epoche, in deren wir leben, die letzte vor dem Zeitenende; sie ist für Anders die „Endzeit“ (Anders, 1972). Alle unserer Aktionen müssen daraus bestehen, die Apokalypse zu verschieben. Die Ausübung von Gewalt ist also für Anders kein politisches Mittel, um nur eine Regierung zu ändern, sondern gleichzeitig ein moralisches Recht und eine moralische Pflicht: „Wer also dazu verurteilt gewesen ist und noch heute ist, diese pausenlos gellende Epoche Tag für Tag und Jahr für Jahr zu durchgehen […] Der kann nicht und darf nicht Anwalt der Gewaltlosigkeit um jeden Preis werden oder sein oder bleiben, weil Erpresste und Angegriffene – und das konzediert nicht nur das Völkerrecht, sondern sogar das Kirchenrecht – zur Notwehr gegen Gewaltdrohungen und erst recht gegen Gewaltakte legitimiert sind, sogar verpflichtet sind.“ (Anders, 1992, 93). Die Gewalt ist durch den Notstand, den die Drohung der technischen Apokalypse schafft, gerechtfertigt. Aber worin besteht dieser atomare Notstand? Lässt er keinen Platz für ein mögliches politisches Handeln übrig, welches diesen Notstand wie einen anderen historischen Prozess abbrechen könnte?

Die Atombombe bedroht die Existenz der ganzen Menschheit und verwendet die Conditio Humana des Menschen bis zu seiner Psyche, zu den Beziehungen zwischen seinen Fähigkeiten. Die Antiquiertheit des Menschen bedeutet auch die Antiquiertheit seiner Freiheit und seiner Handlungsfähigkeiten. In Gewalt, ja oder nein betont Anders, dass das technische Problem unserer Zeit nicht ist, wie wir etwas bekommen und herstellen können, sondern „how to get rid of it“ (ebd., 136), wie wir es abschaffen können. Wir können eine Bombe zerstören, und vielleicht alle nuklearen Installationen abrüsten, aber wir, das heißt die Menschheit im Ganzen, können nicht die Pläne der Bomben vergessen. Für Anders sind diese Pläne wie platonische Ideen, die unsterblich sind. Das führt Anders zu einem überraschenden Aphorismus: „die platonischen Ideen machen die Möglichkeit des Massenmordes unsterblich“ (ebd., 140). Wir können der Endzeit, wo der Mensch durch das prometheische Gefälle zwischen Herstellungs- und Vorstellungsfähigkeit zerrissen wird, und der atomaren Drohung, die Anders zufolge schon eine totale Herrschaft ist [2], nicht entfliehen. In Gewalt, ja oder nein, verweist Anders auf das Buch Der Atom-Staat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit seines Freundes Robert Jungk, um zu zeigen, dass wir den totalitären Staat mit der Atombombe schon erreicht haben, und dass dieser Atom-Staat Maßnahmen ergreift, die „totale Freiheitsberaubung“ (ebd. 28) sind. Diese totale Herrschaft des Atom-Staats und die Freiheitsberaubung der atomaren Drohung schaffen den Notstand, wo das politische Handeln nicht mehr möglich ist, und woraus wir durch keine politische Unterhandlung hinausfinden können. Gewalt wird als Notwehr eine moralische Pflicht, weil politische Aktion im Atom-Staat nicht mehr möglich ist. Ganz gleich, ob die friedlichen Demonstrationen eine Wirkung in der vor-apokalyptischen und demokratischen Epoche hatten, in der Endzeit sind sie wirkungslose Happenings geworden. Der Atom-Staat macht die gewaltlosen Aktionen zu Schein, zu Happenings, weil sie nichts gegen die ernsteste Drohung unserer Zeit ausrichten können, weil sie vor der Bombe lächerlich sind. Deshalb appelliert Anders an physische Gewalt, nicht mehr gegen Maschinen, sondern gegen die Menschen, die uns bedrohen. In einer ketzerischen Redewendung stoßt Anders das alte Verbot um, das gebietet „du sollst nicht töten“. Anders ergänzt also dieses Verbot: „Du darfst – vielleicht sogar: du sollst – diejenigen töten, die die Menschheit zu töten bereit sind; und die es anderen Menschen, also uns, zumuten, ihre Bedrohungen gutzuheißen, gar an ihren Taten teilzunehmen.“ (ebd., 145).

Außerdem hat Anders (2002a, 9) hervorgehoben, dass wir in einer Technokratie im eigentlichen Sinne des Wortes leben, das heißt nicht unter der Regierung von Technokraten und Spezialisten der Technologie, sondern unter der Herrschaft der Maschinen und der technischen Herstellung selbst. Tatsächlich haben die Maschinen eine Tendenz zur totalitären Herrschaft, die zu ihrem Wesen gehört (ebd., 439). In einer wirtschaftlichen Lage, wo alles, was produziert werden kann, produziert werden muss, richten die Maschinen eine ganze Umwelt ein, wo sie ihre „Maximalleistung“ (Anders, 2001, 50) erreichen können. Der „Traum der Maschinen“ (Anders, 2002b, 110, 123/ 2001, 48) ist, sich die ganze Welt zu Verfügung zu stellen, sodass die Welt selbst ein Gerät wird. Die Maschinen tendieren dazu, die ganze Welt in einem Macrogerät zusammenzuschließen, sodass nichts außerhalb dieser „Weltmaschine“ (Anders, 2001, 52) bleibt. Die Technik wird also zu unserem „Weltzustand“ (Christian Dries, 2013, 184). Den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt überholend, wird die Technik das neue Subjekt der Geschichte und gleichzeitig das wichtigste politische Problem unserer Zeit. Mit der Atombombe und der Tendenz der Maschinen zur totalen Herrschaft ist die Gewalt der Technik über den Menschen grenzenlos. Wenn Anders uns anweist, die Gewalt als Notwehr zu benutzen, dann also um der totalen Herrschaft der Maschinen und der atomaren Drohung zu widerstehen. In dieser technischen Herrschaft wird Anders zufolge die Gewalt ein wirklicher, ernster Widerstand, vergleichbar mit dem Widerstand gegen das Vichy- und Naziregime. Für Anders besteht die Möglichkeit eines ernsten Widerstands in der Endzeit in Gewalt.

Arendt hat in Macht und Gewalt betont, dass die Macht immer die Oberhand über die Gewalt hat, aber nur, wenn diese Phänomene nicht in ihren reinen Formen auftreten. Sie hat nämlich die spezifische Gelegenheit erwogen, wo die Gewalt alle Macht vernichtet: „Nur die oben erwähnte Entwickelung von Robotsoldaten könnte an dieser prinzipiellen Überlegenheit der Macht und der Meinung über die Gewalt etwas ändern; dann könnte in der Tat ein Mann durch das Auslösen eines Hebels vernichten, wen und was immer ihm gerade beliebt.“ (Arendt, 1970, 51). Diese Lage, wo ein knopfdrückender Mann die Menschheit vernichten kann, ist der Atom-Staat, oder die Endzeit, die Anders beschreibt. Auch Arendt zufolge werden die Macht und das politische Handeln unmöglich in dieser technischen Lage, wo Maschinen und „Robotsoldaten“ eine grenzenlose Gewalt über den Menschen haben. Aber Arendt weigert sich, die Moderne Welt als eine totale Herrschaft der Maschinen und der atomaren Drohung darzustellen. In Was ist Politik? hat Arendt betont, dass die totale Herrschaft und die Vernichtung durch die Atomkraft die größten politischen Gefahren des 20. Jahrhunderts sind, aber niemals hat sie die atomare Drohung als eine totale Herrschaft beschrieben. Für Arendt sind diese beiden Phänomene getrennt. Eine tiefe Meinungsverschiedenheit zwischen Arendt und Anders beruht also auf ihren verschiedenen Interpretationen der Modernität und der totalen Herrschaft. Wenn Arendt die totale Herrschaft mit spezifischen historischen Regierungsformen identifiziert, ist Anders zufolge unsere ganze technische Welt eine totale Herrschaft geworden. Deshalb glaubt Arendt, dass die Zukunft noch geöffnet ist, solange es Menschen gibt, die zusammenhandeln, um ihre Macht auszuüben ihre Meinungen zu offenbaren. Im Gegensatz dazu besteht für Anders die einzige Überlebenschance der Menschheit in einer gewalttätigen Notwehr.

Die Gewalt als Öffnung der technischen Herrschaft und als Aufruf zur Verantwortung. Anders’ und Benjamins Kritik der Gewalt

Anders’ Appell zu gewalttätigen Aktionen in Gewalt, ja oder nein ist jedoch problematisch, da er Anders’ Auffassung der Gesellschaft in der dritten Industriellen Revolution als einer Technokratie, eines technischen Systems, wo Produktion und Maschinen selbst die Herrschaft ausüben, zu widersprechen scheint. Denn die Unsterblichkeit der Pläne und Ideen der technischen Produkte und vor allem der Bomben, machen die bestimmten Exemplare dieser Apparate und ebenso die Menschen, die sie benutzen, austauschbar. Wenn die Technik in ihrer Gesamtheit das wirkliche „Subjekt der Geschichte“ (Anders, 2002b, 272, 280, passim) geworden ist, scheint es zwecklos, einige Maschinen oder einige bestimmte Mitglieder einer Machtelite anzugreifen. Warum also hat Anders dazu aufgerufen, bestimmte Politiker mit gewalttätigen Aktionen zu bedrohen? Können wir den Regierenden, die eine pro-nukleare Politik betreiben, für die atomaren Drohung noch die Verantwortung zuschreiben? Lässt die Herrschaft der Maschinen, die Anders beschreibt, überhaupt noch Raum für eine menschliche Verantwortung in der Geschichte?

In der Technokratie und in der Endzeit wird für Anders die Verantwortung der Menschen und der Politiker nicht so offensichtlich. Anders betont nämlich (2002a, 255ff.), dass, im Gegensatz zur Atombombe selbst, die existentielle Situation, die die Bombe bedeutet, von den Politiken und Wissenschaften nicht geplant war. In der Tat überfordert die Atomkraft die Vorstellungsfähigkeiten aller Menschen, auch der Regierenden. Die Bombe ist kein Mittel in den Händen von Politiker mehr, weil ihre Vernichtungskraft für sie zwecklos ist, da sie die ganze Menschheit bedroht. „Damit ist gesagt, dass die Bombe niemandem eindeutig zugerechnet werden kann; dass die moralische Lage ganz undurchsichtig bleibt. Was das Gerät nur noch gefährlicher macht. Denn eindeutig bereinigen lassen sich nur diejenigen moralischen Probleme, bei denen Schuldige und Unschuldige unzweideutig auseinandergehalten werden können.“ (ebd. 255). Das bedeutet jedoch nicht, dass die nukleare Apokalypse ein „Selbstmord der Menschheit“ (ebd.) wäre. Die Menschheit im Ganzen ist nicht schuldig für Anders; der Menschheit die Schuld zurechnen ist für ihn „ein herrliches Alibi“, mit dem niemand als aktuell schuldig befunden wird. Deshalb gibt es Anders zufolge aktuelle Schuldige erst nun, da wir wissen, was die Bombe bedeutet. Schuldig wird, wer Apokalypse-blind bleibt und wer die Anderen vor der Apokalypse nicht warnt: „nun wird er schuldig, wenn er denen, die noch nicht sehen, die Augen nicht öffnet, und denen, die noch nicht verstehen, die Ohren nicht vollschreit.“ (Ebd., 256). Die Tatsache, dass die technische Lage und die atomare Drohung die Handlungs- und Vorstellungsfähigkeiten der Politiker überschreiten, soll keine Ausrede sein, um sie von ihren Verantwortungen zu entbinden und ihnen zu erlauben, vor der Apokalypse blind zu bleiben. In Die Atomare Drohung hebt Anders hervor, dass diese Apokalypse-Blindheit der führenden Politiker gerade der Grund ist, aus dem ihre Angst vergrößert werden muss: „die Gefahr besteht ja in der Tat in nichts anderem als darin, dass gerade sie, die über Sein oder Nichtsein entscheiden, nicht wissen, was sie tun; und darin, dass gerade sie nicht den Mut zur heute gebotenen Angst aufbringen, ja noch nicht einmal wissen, dass der heute gebotene Mut in diesem Mut zur Angst zu bestehen hat.“ (Anders, 2003, 45). Für Anders besteht also unsere moralische Pflicht darin, unsere Angst, und die Angst unserer Zeitgenossenen, der atomaren Gefahr gewachsen zu machen. Diese Auffassung der Verantwortung und des Muts als „Mut zur Angst“ führt Anders zur Notwendigkeit, die Politiker und Technokraten mit Gewalt zu bedrohen, weil es ihm zufolge kein anderes Überlebensmittel gibt, als diejenigen zu bedrohen, die uns bedrohen.

Anders sieht also die Gewalt als ein Mittel, unseren Politikern die Augen über die atomare Gefahr zu öffnen, um sie an ihre Verantwortung zu erinnern. Die Gewalt ist nicht als ein politischer Selbstzweck gedacht, sondern als reines Mittel, die Blindheit vor der Atomdrohung und die Herrschaft der Technokratie zu überwinden, damit die Verantwortung der Menschen wieder möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkt kann Anders’ Auffassung der Gewalt mit Walter Benjamins Begriff der Gewalt als „reines Mittel“ (Benjamin, 2009) verglichen werden. Benjamin unterscheidet nämlich zwischen der staatlichen Gewalt, die durch das positive Recht legitimiert wird, und einer „reinen“ Gewalt, die außerhalb und jenseits des staatlichen Rechts ausgeübt wird. Für Benjamin begründet das positive Recht einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Gewalten. Diese Unterscheidung „findet zwischen der historisch anerkannten, der sogenannten sanktionierten und der nicht sanktionierten Gewalt statt.“ (ebd.). Im Staat wird Gewalt nur legitim, wenn sie sanktioniert und historisch anerkannt ist. Das bedeutet, dass die Rechtordnung gesetzliche Zwecke einrichtet und legitimiert, die die individuellen Zwecke der einzelnen Personen begrenzen. Die legitime Gewalt begrenzt also die natürliche Gewalt, die die Personen benutzen wollten, um ihre individuellen Zwecke zu erreichen. Benjamin betont auch, „daß das Interesse des Rechts an der Monopolisierung der Gewalt gegenüber der Einzelperson sich nicht durch die Absicht erkläre, die Rechtszwecke, sondern vielmehr durch die, das Recht selbst zu wahren“ (ebd.). Benjamin hebt also hervor, dass die Gewalt, wenn sie nicht in den Händen des Rechtes liegt, „durch ihr bloßes Dasein außerhalb des Rechtes“ (ebd.) liegt. Das positive Recht stützt sich folglich auf einen historischen Kreis von zwei Funktionen der Gewalt, der „rechtsetzenden“ und „rechtserhaltenden“ Gewalt, die nur die Interessen des Rechts und des Staats wahrnehmen, und die die gesellschaftliche Gerechtigkeit nicht verteidigen. Im Gegensatz dazu hebt Benjamin eine Gewalt als „reines Mittel“ hervor, und gibt das Beispiel – das aus Georges Sorels Réflexions sur la violence (Sorel, 2016) kommt – des proletarischen Generalstreiks, weil er auf die Zerstörung des zentralisierten und disziplinarischen Staates abzielt, während die andere Streikart, der politische Generalstreik, nur nach der Bewahrung dieses Staates strebt. Nur der proletarische Generalstreik kann Benjamin zufolge die Gewaltverhältnisse des Staates, die durch das positive Recht ausgeübt werden, umstürzen.

Anders’ Auffassung der Gewalt ist Benjamins Idee eines reinen Mittels sehr ähnlich. Die Gewalt ist nämlich für Anders unsere einzige Chance, den Machtverhältnissen der Technokratie zu entkommen und die Apokalypse-Blindheit zu bekämpfen, um das Ende der Welt zu hinauszuschieben. Nur eine gewalttätige Aktion kann die totale Herrschaft der Maschinen und der atomaren Drohung abbrechen und öffnen, sodass die Menschen wieder verantwortlich für ihr eigenes Überleben sein können. Wie ein reines Mittel stellt die Gewalt für Anders eine „mittelbare Lösung“ (Benjamin, 2009) dar, das heißt eine Lösung, die durch die Mediation der Anderen sich verwirklichen kann. Die Gewalt ist also für Anders kein politisches Handeln, das die Legitimation eines Rechts erzielt, sondern ein Mittel, eine Mediation, die die Menschen und die Politiker zur Verantwortung gegen die Apokalypse aufruft. Anders nimmt dann eine politische Rolle ein, die des Agitators, des Panikmachers, der die Gewalt befürwortet, um das Gewissen zu wecken. Gewalt ist dann ein reines Mittel im kantischen transzendentalen Sinne: Sie ist die Bedingung der Möglichkeit, eine politische Debatte in der apokalyptischen Wüste unserer Endzeit neu zu eröffnen. Der Aufruf von Anders scheint erhört worden zu sein: Die zahlreichen Debatten, die in dem Band „Gewalt, Ja oder Nein enthalten sind, unterstreichen, dass ein politischer Raum der Reflexion immer noch eröffnet werden kann.

Anders’ Rechtfertigung der Gewalt kann also Arendts Argumenten gegen jede Identifikation der Gewalt als ein politisches Mittel standhalten. Zwar hat Anders die Tragweite und die Rolle des politischen Handels heruntergespielt, um zu zeigen, dass der zivile Ungehorsam und die friedlichen Demonstrationen bloße Happenings sind, die nur zur Beruhigung des Gewissens dienen. Aber diese Kritik der Gewaltlosigkeit gilt für unsere Epoche, die die Endzeit, das heißt die Zeit der atomaren Drohung ist. Im Gegensatz zu Sartre versteht Anders nicht die Gewalt als ein Mittel für eine Gruppe, ihre Freiheit wiederzuerlangen. Anders verwechselt nicht die Gewalt mit dem Politischen oder mit der Macht, da in der Endzeit das politische Handeln nicht mehr möglich ist. Sartre sagt in der Einleitung zu Die Verdammten dieser Erde, die „Gewalt kann, wie die Lanze des Achill, die Wunden vernarben lassen, die sie geschlagen hat.“ (Sartre/Fanon, 1981, 25). Für Anders kann die Gewalt nichts vernarben, sondern nur unser Überleben erlauben. Die Gewalt ist also Anders zufolge nur eine Notwehr, ein Überlebensmittel. Diese Gewalt stellt nicht das Problem der Macht zwischen politischen Gruppen, sondern stellt die Menschheit der Möglichkeit ihrer Vernichtung entgegen. Deshalb wird die Gewalt eine moralische Pflicht, um die Apokalypse zu verschieben. Endlich ist sie wie Benjamins reines Mittel, eine „mittelbare Lösung“, um die totale Herrschaft der Geräte zu beenden, damit ein Raum für die menschliche Verantwortung wieder möglich wird.

Abstract

Even though Günther Anders and Hannah Arendt have worked all their lives long on the same main themes – among others, the distinguishing features of a fascist movement and of a totalitarian regime, the industrialisation and the automation of the working world, and the establishment of a consumer society –, their thoughts moved apart, particularly regarding the matter of violence. Concerning the role and the legitimacy of violence in politics, both philosophers took radical, but opposite positions. Indeed, in On violence, Arendt makes a clear distinction between violence and power in order to claim that violence can’t find any legitimacy in the public space of the plurality. On the contrary, Anders supported the idea of right to the self-defence against the nuclear threat that can annihilate humanity. According to Anders, the use of violence becomes a moral duty in the atomic age, so that we can postpone the end of the world. In these circumstances, the non-violent protests are reduced in the eyes of Anders to simple artistic happenings, to absurd and ridiculous plays. However, for Arendt, politics have a lot in common with theatre: the political action plays on a stage, where the distinction between the real being and the appearance is no more relevant. The political player appears on a public space, among his peers, and the power depends on their capacity to act together. Therefore, the violence and its instrumental essence have no place and no efficacy in politics: violence can only destroy the links between people, and the government has at its disposal weapons of destruction, which are always more dangerous than demonstrations and insurrections. Thus, the following question arises: has Günther Anders missed the impact of a pacific demonstration and the significance of a phenomenology of Action, or did the modern technology and especially the atomic bomb give another meaning to such a phenomenology? Does the question of the legitimacy of violence lead to a hopeless aporia, in which a phenomenology of Action and a phenomenology of the technical world in the atomic age are excluding each other?

([Schlüsselwörter:
Politik, Macht, Gewalt, ziviler Ungehorsam, Notstand, Notwehr, Widerstand.
Keywords:
politics, power, violence, civil disobedience, emergency, legitimate defence, resistance. )]

Bibliografie

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Anders, G. 2002b. Die Antiquiertheit des Menschen Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. 2nd edition München.

Anders, G. 2003. Die atomare Drohung: Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter. 7th Auflage, München (um das Vorwort zur zweiten Auflage erweiterte Ausgabe von Anders, G. 1972, sonst text- und seitenidentisch).

Anders, G. 1972. Endzeit und Zeitenende – Gedanken über die atomare Situation. München 1972.

Anders, G. 1992. Gewalt, ja oder nein. Eine notwendige Diskussion. München.

Anders, G. 1995. Hiroshima ist überall: Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki. Der Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly. Rede über die drei Weltkriege. 1st edition München.

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[1Die Atombombe antiquiert, unter anderem, die Unterscheidungen zwischen Mittel und Zweck (Anders, 2002a, 251ff.), zwischen Schein und Sein (vgl. dazu Anders, 2002b, 34ff, 251ff.) sowie zwischen Subjekt und Objekt, da die Technik das Subjekt der Geschichte geworden ist (ebd, 271ff.).

[2Anders spricht von einem „atomaren Totalitarismus“ und definiert die Epoche der atomaren Drohung als den „zweiten Teil“ des Totalitarismus, das ist „ein Modus der Außenpolitik, der seinerseits (abgesehen von der Drohung mit Total-Liquidierung) jederzeit damit droht und jederzeit den Versuch machen kann, auch Totalitarismus im herkömmlichen, also innenpolitischen Sinne nach sich zu ziehen; so wie dieser jederzeit damit gedroht hat, ,total‘ zu werden, also sich zur atomaren Außenpolitik zu erweitern.“ (Anders, 2003, 18). Für Anders ist bereits die atomare Lage ein Totalitarismus, da sie das Wesen des Menschen vernichtet: „die Atomdrohung […] ist nämlich nicht die Alternative zum Totalitarismus, sondern die außenpolitische Version des Totalitarismus.“ (ebd. 43ff.).

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
2021
Autor/inn/en:

Perrine Wilhelm: Master in Philosophie der Sorbonne, zudem mit Lehrbefugnis für dieses Fach an Gymnasien; derzeit Stipendiatin an der Universität Paris 8 für ihre Dissertation über Anders; hat im Team mit Annika Ellenberger und Christophe David, dem altverdienten Übersetzer der Antiquiertheit des Menschen, die Übertragung der Molussischen Katakombe ins Französische besorgt, die am 31. August 2021 in Druck ging und am 8. Oktober erscheinen soll; Mitarbeit an der Übersetzung von Blick vom Mond, der Anfang 2022 bei Heros-Limite erscheinen wird; hat begonnen, die anthropologischen Schriften von Anders zu übersetzen: Die Weltfremdheit des Menschen, und sie hat mehrere Artikel veröffentlicht, darunter über Anders´ Phänomenologie der Welt: De l’homme sans monde au monde sans hommes, Günther Anders et l’obsolescence du monde humain, in: Paula Lorelle und Jean Leclercq (Hrsg.), Considérations phénoménologiques sur le monde. Entre théories et pratiques [Phänomenologische Überlegungen über die Welt. Zwischen Theorie und Praxis], Presses Universitaires de Louvain, 2020.

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