MOZ » Jahrgang 1989 » Nummer 43
Frank Ballot
Junge AlgerierInnen in Frankreich:

Generation zwischen den Stühlen

„Der Patron schaut Dir ins Gesicht und nicht in den Ausweis“ — diese Erfahrung macht die 2. und 3. Generation algerischer und marokkanischer Einwanderer, die sich weder als Araber noch als Franzosen begreifen.

Nein, arabisch träumt Rachid schon lange nicht mehr. Wie sollte er auch? Mit den Geschwistern und den Freunden spricht er nur französisch, und der Kontakt zu den Eltern beschränkt sich auf die alltäglichen Routineangelegenheiten. Früher war das anders. Da saß man abends noch oft zusammen, und vor allem der Vater wußte viel zu erzählen. Von dem algerischen Dorf, aus dem er vor über dreißig Jahren aufgebrochen war, oder von dem großen Haus, das er dort für die ganze Familie bauen wollte — eines Tages, wenn die Schinderei auf den französischen Baustellen zu Ende und er ein wohlhabender Mann sein würde. Dann kam der Sturz vom Gerüst: sechs Operationen und ein halbes Jahr im Krankenhaus. Geblieben sind ein kaputtes Bein und eine kümmerliche Invalidenrente. Seitdem erzählt der Vater nichts mehr von Algerien.

Rachid hat Algerien im Alter von vier Jahren verlassen. Im vorigen Sommer war er nach langer Zeit zum ersten Mal wieder dort, auf Verwandtenbesuch. Ginge es nach ihm, könnte es ruhig das letzte Mal gewesen sein: „Da unten kriegst du nicht einmal ein Bier! Ständig mußt du anstehen. Und sagst du etwas, heißt es gleich: ‚Hau doch ab zu deinen Franzosen, wenn es dir hier nicht paßt!‘“ Da bleibt er lieber gleich hier, in „Les Flamants“, im Norden von Marseille. Hier weiß er wenigstens, wo es langgeht.

Von „Heimat“ spricht Rachid nicht. In der Tat ist es auch kaum vorstellbar, daß die in den 69er Jahren eilig hochgezogenen, zwischen Bahnlinie und Schnellstraße eingeklemmten Betonsilos mit ihren ewig dreckigen Treppenhäusern und nie funktionierenden Fahrstühlen bei irgend jemandem Heimatgefühle auslösen könnten. In „Les Flamants“ wohnen nur die, die nicht anders können: sozial Schwache, „Problemfamilien“ und eben Ausländer.

Wer hier aufgewachsen ist, hat schlechte Karten auf dem Arbeitsmarkt. Beengte Wohnverhältnisse, frustrierte Lehrer und der Flipperautomat als Höhepunkt des kulturellen Angebots sind nicht gerade die besten Voraussetzungen für gute Schulnoten und eine erfolgreich abgeschlossene Berufsausbildung. Wenn man dann noch einen dunklen Teint und krauses Haar hat, braucht man sich um die wenigen angebotenen Stellen gar nicht erst zu bemühen. Rachid kann ein Lied davon singen. Obwohl er mit großer Anstrengung seinen Abschluß als Dreher geschafft hat, ist er seit über zwei Jahren arbeitslos. Und wenn er sich einbürgern ließe, was auf Grund seines langen Aufenthaltes in Frankreich ja prinzipiell möglich wäre? Er winkt nur ab: „Der Patron guckt dir ins Gesicht und nicht in den Ausweis. Manche lassen sich von der staatlichen Arbeitsvermittlung ohnenhin nur ‚richtige‘ Franzosen schicken, auch wenn das offiziell verboten ist.“

Schuld ist immer „der“ Araber

Wie Rachid geht es heute in Frankreich vielen der schätzungsweise eine Million junger Afrikaner der „zweiten Generation“. Die Rückkehr in die „Heimat“ ist für sie nicht einmal mehr ein Mythos. Ihre Zukunft können sie sich nur hier vorstellen, wo sie großgeworden sind. Doch ihr Adoptivland zeigt ihnen die kalte Schulter. Für viele Franzosen ist „der Araber“ sogar zum Sündenbock schlechthin geworden. Nicht so sehr der Araber, den man vielleicht persönlich kennt — etwa der tunesische Ladenbesitzer von nebenan, bei dem man abends um elf noch seine Flasche Rotwein kaufen kann — sondern eben „der“ Araber. Ein diffuser Kollektivbegriff, der keinerlei Unterschied macht zwischen Algerier und Marokkaner oder Tunesier, zwischen bärtigen Alten und turnschuhtragenden Jungen, zwischen Inhabern der französischen „carte d’identité“ und solchen, die nur die „carte de résident“ vorweisen können.

Dieser Araber ist es, der an allem Schuld hat: an der Arbeitslosigkeit und der steigenden Kriminalität, am Schmutz in den Straßen und — wie „Le Monde“ unlängst ironisch bemerkte — sogar an den Niederlagen des Fußballclubs „Olympique Marseille“. Nichts macht diese feindselige Haltung deutlicher als die Tatsache, daß im selben Jahr, in dem das offizielle Frankreich mit großem Pathos den zweihundertsten Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte feiert, in Hunderte von Gemeindeparlamenten die rechtsradikale „Front National“ einzieht. Eine Partei, deren Vorsitzender Jean-Marie Le Pen arabische Frauen als „läufige Hündinnen“ bezeichnet und deren Spitzenkandidat bei den Kommunalwahlen in Marseille damit gedroht hat, daß im Fall einer Niederlage seine Anhänger das „Araberproblem“ mit dem Gewehr lösen könnten.

Urteilt man nach den Berichten über rassistisch motivierte Gewalttaten, wie sie nahezu jede Woche in der französischen Presse zu lesen sind, scheint das Gewehr schon jetzt ein fester Bestandteil der franko-arabischen Beziehungen zu sein. Da wird in Lyon ein junger Marokkaner grundlos vom Fenster eines Hochhauses aus erschossen, in Grenoble ein anderer Marokkaner niedergestreckt, weil sein Moped zu laut war, und in Reims ist es ein vermeintlicher Ladendieb algerischer Herkunft, der das Opfer einer schwerbewaffneten Bäckerin wird.

Sicher, von staatlicher Seite wird jede Form von Fremdenfeindlichkeit verurteilt. Das hinderte vor zwei Jahren den damaligen Inneminister Charles Pasqua jedoch nicht daran, laut über Gemeinsamkeiten zwischen der „Front National“ und seiner gaullistischen RPR nachzudenken und sich auch sonst durch eine recht hemdsärmelige Ausländerpolitik beim rechten Wählerspektrum zu empfehlen, beispielsweise durch die spektakulär inszenierte Ausweisung von „Illegalen“. Die derzeit regierenden Sozialisten steuern da zweifellos einen konzilianten Kurs — erst Anfang dieses Jahres kündigte Präsident Mitterand eine Erleichterung des Einbürgerungsverfahrens an —, doch das kommunale Wahlrecht für Nicht-Franzosen ist und bleibt auch für sie ein heißes Eisen.

Der Mythos vom kosmopolitischen Franzosen

Die große Masse der jungen NordafrikanerInnen in den Vorstadtsiedlungen nimmt den Staat freilich so oder so nur als Obrigkeit wahr, die ihnen die Polizei mit ihren ständigen Ausweiskontrollen und willkürlichen Leibesvisitationen auf den Hals schickt. Wer da seinen Ausweis nicht dabei hat oder sich durch gezielte Beleidigungen provozieren läßt — Duzen ist ohnehin die Regel — findet sich schnell auf dem zentralen Kommissariat in der Innenstadt wieder, häufig wie ein Schwerverbrecher in Handschellen.

Und wer das Pech hat, erst mitten in der Nacht wieder entlassen zu werden, muß eben zwei Stunden zu Fuß nach Hause gehen. Mitunter enden aber solche Begegnungen auch tödlich. Vor allem, wenn es um die Verfolgung jugendlicher Autodiebe geht, versteht die Polizei keinen Spaß. Fast immer sind die Täter jung und unbewaffnet, und fast immer handeln die Polizisten in „Notwehr“ ...

(Fotos: P. Deloche)

Wie kann das alles geschehen in einem Land, das doch das revolutionäre Gebot der Brüderlichkeit im Staatswappen führt und dessen Bevölkerung zu mindestens einem Drittel aus den Nachkommen früherer Einwanderer besteht?

Tatsächlich ist Frankreich nie das kosmopolitische Land gewesen, als das es in der offiziellen Revolutionsrhetorik gepriesen wird. Vor allem „La France profonde“ war im Kern stets bäuerlich-konservativ geprägt, Fremden gegenüber mißtrauisch. Dieses Mißtrauen wurde umso stärker, je mehr das Land aus demographischen Gründen auf die Fremden angewiesen war. So galten die um die Jahrhundertwende massenhaft eingewanderten Italiener als „Barbaren“ und „Heuschrecken“, und die Polen, die in, den zwanziger Jahren in das lothringische Bergbaugebiet kamen, wurden als „Polacken“ und „Weihrauchfresser“ beschimpft. Auch die Weißrussen und die Armenier, die Spanier und die Portugiesen — sie alle mußten eine lange Durststrecke der Ablehnung durchstehen, bis sie — meist erst ihre Kinder als „richtige“ Franzosen anerkannt wurden. Hatten sie es aber einmal geschafft, waren es häufig sie, die am lautesten riefen: „La France aux Français!“ In Frankreich sagt man „Le dernier qui entre, ferme la porte.“ Frei übersetzt: wer es als jeweils letzter geschafft hat, ins Haus zu kommen, hält die Türe zu — und sperrt die von draußen Nachrückenden aus.

Die Situation, in der sich die Araber und Nordafrikaner heute befinden, ist also keineswegs neu, und es ist auch nur scheinbar paradox, wenn die „Front National“ viele Anhänger hat, deren Namen durchaus nicht französisch klingen, sondern italienisch, spanisch oder polnisch. Nur: die Tür wird diesmal von innen ganz besonders fest zugehalten. Die Gründe dafür sind die allgemeine Massenarbeitslosigkeit, aber auch alte, im nationalen Unterbewußtsein verwurzelte anti-arabische Ressentiments. Diesen zufolge stellen die Araber von jeher eine Bedrohung Frankreichs dar — von den maurischen Invasoren, die 735 im letzten Augenblick von Karl Martell bei Poitiers zurückgeschlagen wurden, über die nordafrikanischen Korsaren, die im Mittelalter die Küsten der Provence unsicher machten, bis hin zu den algerischen Freiheitskämpfern der FLN (Front de Libération Nationale), den „Ölscheichs“ von 1973 und den libanesischen Terroristen von 1986. Viele Franzosen halten die Araber wegen ihrer islamischen Kultur zudem für nicht „integrationsfähig“. Und in der Tat gibt es manches an arabisch-islamischen Wertvorstellungen, was gerade im laizistischen Frankreich Irritationen auszulösen vermag.

Weder Le Pen noch Khomeini

Vor einigen Wochen erregte sich die Öffentlichkeit über den Fall einer jungen Marokkanerin, die von ihrem Bruder erschossen worden war, weil sie durch ihre Beziehung zu einem Franzosen die Familienehre „beschmutzt“ hatte.

Jedoch sind solche Dramen spektakuläre Einzelfälle, ganz abgesehen davon, daß sich vor dreißig Jahren in einer sizilianischen Einwandererfamilie ohne weiteres ähnliches hätte ereignen können. Für die überwiegende Mehrheit der Jungen wird der Islam dagegen mehr und mehr zu einer reinen Feiertagsreligion, vergleichbar mit dem Christentum. Das heißt, man geht an hohen Feiertagen mit der „freitäglich“ herausgeputzten Familie in die Moschee, hält sich im Ramadan soweit wie möglich an das Fastengebot und trinkt keinen Alkohol — jedenfalls nicht in Anwesenheit von Älteren.

Vereinfacht läßt sich diese Einstellung auf die Formel bringen: weder Le Pen noch Khomeini. Man will weder seine islamischen Wurzeln völlig verleugnen noch den Freiraum missen, den eine westlich-laizistische Gesellschaft letztlich eben doch bietet. Nicht von ungefähr finden sich solche Freiräume in Frankreich vor allem dort, wo Toleranz und Weltoffenheit schon immer anzutreffen waren, nämlich im kulturellen Bereich. So gibt es denn auch inzwischen eine kleine, aber wachsende Gruppe von jungen Franko-Arabern, für die das „Sitzen zwischen den Stühlen“ eine Herausforderung ist, ihre Umwelt mit geschärften Sinnen wahrzunehmen und dies in künstlerische Kreativität umzusetzen. Der Stückeschreiber Farid Chopel, der Filmemacher Mehdi Charef — dessen Film „Tee im Harem des Archimedes“ auch bei uns bekannt wurde — oder der Schriftsteller Nacer Kettane, sie alle sind stolz darauf, eine andere Sichtweise in die französische Kulturszene einzubringen und durch ihr Beispiel die sich verloren fühlenden Altersgenossen zu ermutigen.

Deutlicher Ausdruck des sich allmählich herausbildenden kulturellen Eigenbewußtseins ist der „rai“, eine Synthese aus Rock und Populärmusik der algerischen Großstädte. Diese Musik, deren Texte oft geistliche und weltliche Autoritäten gleichermaßen provozieren, ist zwar in Algerien entstanden, feiert ihre größten Erfolge mittlerweile aber unter der frankoarabischen Jugend. Allerdings nicht nur dort. Wenn Cheb Khaled, der „König des Rai“, im überfüllten Pariser „Bobigny“ auftritt und unter Begleitung von Elektrogitarre und Synthesizer „L’amour est bon, maman“ singt, geht seine kehlige Stimme auch so manchem jungen Franzosen unter die Haut.

Überhaupt scheint die französische Jugend weit weniger antiarabische Ressentiments zu kennen als die Generation ihrer Eltern. Als die von dem Martinique-Franzosen Harlem Désir gegründete Bewegeung „SOS-Racisme“ vor einiger Zeit den Slogan „Touche pas à mon pôte“ — „laß’ meinen Kumpel in Ruhe“ — prägte, steckten sich viele junge Franzosen die Plakette als Zeichen ihrer Solidarität an. Erstaunlicherweise sind es gerade die Arbeitslosigkeit und die Wohnsituation in den tristen Sozialsiedlungen, die Angehörige beider Gruppen aneinander rücken lassen. Was bei den älteren Franzosen zu aggressiver Abwehr führt, gibt ihren Kindern eher das Gefühl, mit den gleichaltrigen „Arabern“ auf demselben Abstellgleis zu stehen.

Auch Rachid aus Marseille hat inzwischen diese Erfahrungen gemacht. Sein bester Freund ist neuerdings ein Franzose. Er hat ihn auf dem Arbeitsamt kennengelernt — beim Warten.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1989
, Seite 29
Autor/inn/en:

Frank Ballot: Mitarbeiter der Zeitschrift „Blätter des Informationszentrums Dritte Welt“, lebt in Freiburg/BRD.

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