Eine „nährende Sexualität“ zu kultivieren, bedeutet die „umfassenden und tragenden Aspekte“ innerhalb einer Gesellschaft nicht zu vernachlässigen. Eine Abwertung der einerseits so positiv besetzen und andererseits so bedrohlichen, weil zur Regression animierenden Bilder vom „Umfassen und Tragen durch eine gute und sinnvolle Sozialpolitik“ [1] trägt zu größerem Leiden bei als die Angst vor der Regression, wie sie etwa in negativen medialen Bildern vom „Sozialschmarotzer“ deutlich wird.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Organisation von Gesellschaften und unserem intimen Beziehungsleben, und ich denke, dass durch den Aspekt des „Nährenden“ dieser Zusammenhang deutlich werden kann.
Wenn wir uns verliebt öffnen und eine andere Person an uns ziehen, diesen Moment von großer Distanz und Leichtigkeit und süßer Nähe in einem sexuellen Akt erleben, geschieht das, weil es ein Hochgefühl von fließender Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit im gegenseitigen Nähren gibt. Sexualität übernimmt im Gegensatz zu zerstörerischen Impulsen, wie Gleichgültigkeit, Poker Facing, Coolness sehr stark die Funktion eines gegenseitigen, partnerschaftlichen Nährens. Und gerade weil es in der Beziehungsgestaltung „Sexualität“ diese stark positive und nährende Komponente gibt, wird diese immer wieder ins Gegenteil verkehrt, kommt es also gerade hier zu intensiven zerstörerischen Vorgängen.
Es ist notwendig, Zusammenhänge zwischen der Möglichkeit, Sexualität auf nährende oder zerstörerische Weise zu gestalten, und gesamtgesellschaftlichen Weisen, „Nahrungsströme“ in Form von Anerkennung, in Form von Kapitalien, materiellen und symbolischen Gütern zu verteilen, in einer Weise deutlich zu machen, wie dies Christian Maier im Folgenden tut.
Der Vater der ‚Urhorde‘, den Freud in Totem und Tabu (Freud, 1912/13) eingeführt hatte, wurde in der späteren Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse wie folgt charakterisiert: „Seine intellektuellen Akte waren auch in der Vereinzelung stark und unabhängig, sein Wille bedurfte nicht der Bekräftigung durch den anderer. Wir nehmen konsequenterweise an, daß sein Ich wenig libidinös gebunden war, er liebt niemand außer sich, und die anderen nur, insoweit sie seinen Bedürfnissen dienten. Sein Ich gab nichts Überschüssiges an die Objekte ab.“ (Freud, 1921, S.138)
Die Vaterimago, die Freud hier entwarf, ist das Bild eines wenig gebundenen Herrschers, sicherlich nicht das Bild eines „nährenden“ Vaters. Freuds Urvater passt zu den Herrschaftsverhältnissen der industrialisierten Länder mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung, in denen das Zurückhalten von Gefühlen bis hin zum Anhäufen von „Kapital“ hoch besetzt ist und die gesellschaftlichen Verhältnisse die narzisstischen Gratifikationen gegenüber den objektbezogenen Befriedigungen begünstigen. [2]
Mein Verständnis von Sexualität stimmt mit dem psychoanalytischen Begriff von Sexualität [3] insofern überein, als ich davon ausgehe, dass sich der Begriff des Sexuellen nicht auf genitale Aktivitäten beschränkt, sondern eine sehr viel größere Anzahl notwendiger körperlicher und zwischenmenschlicher Aktivitäten umfasst. Meinem Verständnis nach ist Sexualität und die Gewinnung von Lust nur in einer Verbindung mit „Grundbedürfnissen“, die physiologischer und sozialer Natur sein können, sinnvoll zu verstehen. Die Nahrungsaufnahme als physiologisches Bedürfnis ist damit ein Teil von Sexualität und wird von mir als Metapher für bestimmte Aspekte von Sexualität eingesetzt.
Zurück zu Christian Maier. Wir kennen das negative Bild dieses Vaters, wir könnten es auch das negative Bild der Eltern nennen, das Maier hier mit Hilfe eines Freud-Zitates evoziert. Wir werden, verwandeln uns immer wieder selbst — und andere verwandeln sich für uns — zu dieser unergiebigen, geizigen, mit der eigenen Kraft, Energien und Gefühlen zurückhaltenden, sehr sehr strategisch „investierenden“ Bezugsperson, die sparsam und ungeheuer „ökonomisch“ mit ihren emotionalen, körperlichen, sensitiven, erfahrungs- und erlebnismäßigen „Ressourcen“ haushalten muss!
Und dennoch gibt so eine Figur wie dieser „libidinös wenig gebundene Vater, der die anderen nur liebt insoweit sie seinen Bedürfnissen dienen“ eine sehr attraktive Projektionsfläche für die eigenen Wünsche nach Bedürfnislosigkeit, Stärke, Autonomie und Unabhängigkeit ab. Mit unserer Bekräftigung wird so eine ungebundene Bezugsfigur zur völlig autarken „Zugmaschine“ einer Bewegung, die scheinbar „keiner Bekräftigung“ durch andere bedarf und deren Kraftquellen und Energieströme — selbst wenn sie öffentlich sind — geheim und unsichtbar bleiben, geschützt von den massiven Identifikationssehnsüchten mit einem unantastbaren, immunen und „bedürfnislosen“ Reichtum. Dieser selbstbezogene, immer bereits gegen einen möglichen Angriff oder eine Ausbeutung von Außen gerichtete Reichtum, diese Selbstimmunisierung gegen Schwäche, Bedürfnis- und Bittstellungen, gegen Angewiesenheit, Legitimitätsverlust und Selbstauslieferung, so Maiers Überlegung, macht einen „nährenden Austausch“, macht die Vorstellungen, die Gedanken- und Erlebniswelt eines „nährenden“ Austausches unmöglich!
Jedes Lächeln, jeder warme Ton, jeder Kuss, jede Berührung, jeder Händedruck, jedes freundliche Wort, jede sexuelle Regung, Annäherung und Phantasie wird getragen von der unabänderlichen Notwendigkeit eines gegenseitigen, und sei es sehr aggressiv gefärbten, Austausches, der in einer forcierten kapitalistisch orientierten Dynamik unter dem beständigen Druck gegenseitiger Ausbeutung stattfinden muss.
Die Fähigkeit, uns in ein „nährendes“ Gegenüber zu verwandeln, das produktiv, kreativ, gebend, spendend mit anderen Menschen in Beziehung treten kann, bedarf zur Entfaltung „geschützter Räume“, in denen eine hohe Sensibilität für unsere Bedürfnisse und Sehnsüchte vom sozialen Umfeld entwickelt, getragen und geleistet werden muss. Diese geschützten Räume, diese „geschützten“ Weisen des Miteinander-Umgehens bedürfen zur Kultivierung öffentlicher positiver Symbolisierungen, die verhindern, dass diese geschützten Räume und nährenden Ströme totgeschwiegen, wegrationalisiert, eingespart und entwertet werden.
Diese „geschützten“ Räume oder „nährenden Ströme“, in welchen ein sehr intimer Austausch überlebensnotwendiger Energien, eine notwendige Weitergabe von Emotionen und Anerkennung gegenseitiger Bedürfnisse stattfindet, erfahren in der medialen Öffentlichkeit und damit im öffentlichen Bewusstsein kaum wirksame, nur sehr eingeschränkte Symbolisierungen, die Herkunft und Bedingung der Erhaltung dieser „geschützten Räume“ nicht thematisieren.
Politische Eliten stellen sich am Besten selbst in der Öffentlichkeit als gebende, kraftstrotzende, spendende, handgreifliche, nahe, begreifbare Bezugsperson dar, deren Kraftquellen, Bedürfnisse, deren „intime“ Beziehungen und hochsensible Freundschaftsverbindungen, deren finanzielle und soziale „Kapitalflüsse“ im Verborgenen stattfinden. Wie soll es zu Symbolisierungen von nährenden Austauschvorgängen kommen, wenn alle, die es nur irgendwie leisten können, unmittelbar nach dem „Abstillen“ so tun als hätten sie keine Lust erfahren, nichts verdient, nicht abgecasht, sie keinen weitläufigen Freundeskreis, sie „keine Nahrung“ aus einem gesamtgesellschaftlichen Pool an Ressourcen bezogen?
Jemand, die/der selbst wohlgenährt ist, ohne von anderen, in „medial symbolisierbaren Denkstrukturen“, also auf „sichtbare“ Weise etwas wegzunehmen, zu brauchen, entspricht den von Maier skizzierten, von kapitalistischer Ideologie durchdrungenen, gesellschaftlichen Verhältnissen, in welchen es keinen gemeinsamen Pool an Ressourcen, kein „öffentliches Allgemeingut“, d.h. aber auch kein gemeinsames Verschmelzen, keine gemeinsame und nährende Sexualität geben kann, ohne dass diese geplündert, entwertet, geschlossen, privatisiert, für andere unzugänglich gemacht oder versteckt, bzw. schwer zugänglich gemacht werden muss.
Wie sieht eine Person, eine Institution aus, die der Öffentlichkeit, dem gemeinsamen Pool zwischen zwei Menschen scheinbar immer nur gibt, nie aber etwas daraus zu entnehmen scheint, eine völlig immunisierte und bedürfnislose Produktivitätsmaschine also, wie sieht so eine Person, behängt mit allen symbolisch wirksamen wirtschaftlichen, politischen und akademischen Weihen vor der Folie von Sexualität aus?
Sympathisch, attraktiv. Wir bekommen alle gerne, wir geben alle ungern, wir leben in ständiger Angst, dass unsere Rechnung nicht stimmt.
Aber es stellt sich ganz sicher bei genauem Hinsehen, Erleben und Erfühlen heraus, dass die Poker Faces, jene vordergründig Bedürfnislosen und also auch scheinbar nicht Bedrohlichen, deren geheimnisvolle Kraftquellen für uns so unsichtbar sind, die so smart, so cool, so sexy sind, dass wir annehmen, sie haben mit unserer energetischen Ökonomie nichts zu tun, durch sie unsere Gier beflügelt und unseren Geiz abgesichert fühlen, dass also diese Personen, die wir sehr bewundern, die wahrhaften Minusposten auf unseren emotionalen, finanziellen und sozialen Bilanzen sind, weil ihre Herkunft aus einem gemeinsamen Pool an Ressourcen und Anerkennung nicht mehr erkennbar ist.
Klaus Ottomeyer formuliert dieses Verhältnis einer wenig nährenden Bezugsperson, einer wenig nährenden Gesellschaftsordnung, das Christian Maier oben skizziert, in folgender Weise. Die Bedrohung, die in einer forciert kapitalistisch organisierten Gesellschaft von der Aggressivität, der Konkurrenz, der Abgrenzung und dem Poker Face unseres Gegenübers strukturell ausgeht, führt zu einem beständigen Mangel und einem beständig zu versteckenden Bedürfnis nach nährenden menschlichen Beziehungen, wobei sich diese Bedürfnisse, weil sie nicht erkannt, nicht ausgesprochen, nicht öffentlich symbolisiert werden dürfen, in Form eines zerstörerischen Hungers und rücksichtsloser Ausbeutung gegen andere und uns selbst richtet.
In der kapitalistischen Gesellschaft aber, wo eine extreme Knappheit an zwischenmenschlichen „Bindemitteln“ herrscht, an gemeinsamen Gegenständen für eine fundierte Perspektivenübereinstimmung und ein wechselseitiges Verstehen — in dieser Gesellschaft muß es notwendig zu einer Überlastung der sexuellen Bindung mit unbefriedigten sozialen Ansprüchen kommen. Wenn ich auf Grund der enttäuschenden Erfahrung im kapitalistischen Markt- und Produktionsbereich beständig mit der angstvollen Frage herumlaufe, ob es eine verlässliche Bindung zwischen mir und den anderen überhaupt gibt, dann bietet sich die Sexualität — und hier insbesondere die leicht meß- und zählbare genitale Betätigung — als kurzfristiges Beruhigungsmittel und als buchstäblich handgreiflicher Gegenbeweis für diese verbreitete Angst geradezu an. Die Fetischisierung von genitaler Sexualität, Potenz, Orgasmushäufigkeit usw. in der bürgerlichen Gesellschaft muß man vor diesem Hintergrund interpretieren. [4]
Was ist das für eine „zählund messbare“ Sexualität, bei der wir nie aus dem Bilanzenmachen herauskommen, auch wenn eine scheinbar übermächtige, immunisierte Bezugsperson jede Angst vor dem Ausgebeutet-Werden zu verdrängen scheint?
Die Menge an Filmen, d.h. öffentlichen Bildern und Denkstrukturen über dieses Sujet einer/s dominanten, mehr oder weniger zerstörerischen, Nahrung zurückhaltenden Partnerin/s in einer sexuellen Beziehung stellen eine Norm in der medialen und künstlerischen Darstellung von Sexualität dar. Sie gilt auch für kritisches Kino, ich erinnere an „Tropfen auf heiße Steine“ nach dem Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder, das Zuschauerinnen wie Figuren durch das Gefangensein in einem ewig gleichen sexuellen Wiederholungsschema quält, ohne zu Gegenentwürfen vordringen zu können.
Eine nährende Sexualität im Gegensatz zu einer zerstörerischen Sexualität muss sich etwas von der Rechnungslegung emanzipieren können, eine nährende Sexualität bedarf einer Gesellschaft, die sich geschützte Räume leisten kann und will, in welchen die Menschen unabhängig von Status, Einkommen und sozialer Herkunft, so viel aufnehmen und bekommen können wie sie brauchen, um anstehende unumgehbare Auseinandersetzungen durchzustehen.
Schneelied
Mein Brunnen ist im Schnee versunkenUnd du sankst mitVon euch zweien habe ich getrunkenSooft ich littJetzt in der Zukunft trink ich ScherbenUnd eß mein Blut dazuIch will bei Gott um Schneeschnee werben: Kälte sättigt fast wie duin: ’Königinnenflug’ von Margit Macho
Literatur:
- Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt: Suhrkamp. 1973
- Margit Macho: „Schneelied“, in: Königinnenflug. Gedichte. Dublin/New York/Vienna: Edition Mosaic. 1998
- Möhring/Apsel: Interkulturelle psychoanalytische Therapie. Frankfurt: Brandes und Apsel Verlag GmbH. 1993
- Klaus Ottomeyer: Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten im Kapitalismus. Hamburg: Rowohlt. 1984
- Thomas Rauschenbach: Das sozialpädagogische Jahrhundert. Analysen zur Entwicklung Sozialer Arbeit in der Moderne. Weinheim: Juventa. 1999
[1] Eduard Heimann: 1980. S.290f in: Thomas Rauschenbach:
Das sozialpädagogische Jahrhundert. Analysen zur Entwicklung Sozialer Arbeit in der Moderne. Weinheim: Juventa 1999 S. 27 „Sozialpolitik ist der institutionelle Niederschlag der sozialen Idee im Kapitalismus und gegen den Kapitalismus, der Idee also von einer sozialen Freiheitsordnung, welche die arbeitenden Menschen umfassen und tragen soll. ... Der Kapitalismus muß ihm wesenswidrige Verwirklichungen zulassen, er muß sich also Sozialpolitik aufzwingen lassen, weil er auf die Menschen der sozialen Bewegung angewiesen ist.“
[2] Christian Maier: Der Fremde und der Zauberer, in: Möhring/Apsel: Interkulturelle psychoanalytische Therapie. 1995. S.175
[3] Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt: Suhrkamp. 1973. S. 466 „In der psychoanalytischen Erfahrung und Theorie bezeichnet Sexualität nicht allein die Aktivitäten und die Lust, die vom Funktionieren des Genitalapparates abhängen, sondern eine ganze Reihe von Erregungen und Aktivitäten, die bereits in der Kindheit bestehen und eine Lust verschaffen, die nicht auf die Stillung eines physiologischen Bedürfnisses (Atmung, Hunger, Ausscheidungsfunktion) reduzierbar ist.“
[4] Klaus Ottomeyer: Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten im Kapitalismus. Hamburg: Rowohlt. 1984. S.137