FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1987 » No. 397/398
Josef Dvorak

Freud und der Antisemitismus

In seinem Buch „The Invisible Writing“ (Deutsch: Die Geheimschrift; 1954) behauptet Arthur Köstler, Freuds Text „Ein Wort zum Antisemitismus“ sei auf seine Bitten hin entstanden. Er erschien auf deutsch, mit Übersetzung ins Englische („On Antisemitism“), am 25. November 1938 in der von Arthur Köstler in Paris herausgegebenen Emigrantenzeitschrift „Die Zukunft“, Untertitel: „Ein neues Deutschland — ein neues Europa“.

„Ein Wort zum Antisemitismus“ ist in keiner der verschiedenen Ausgaben der Werke Sigmund Freuds enthalten. Lediglich die von James Strachey betreute Standard Edition (Bd. 23, S. 287-293) präsentiert eine englische Version („A Comment on Anti-Semitism“), die — bei identischem Inhalt — anders lautet als die Übersetzung in der „Zukunft“. Der Autograph befindet sich im Besitz des New Yorker Psychoanalytikers Kurt R. Eissler (Freud-Archives). Im dritten Band von „Sigmund Freud — Leben und Werk“ (S. 283) berichtet Ernest Jones, auch seinen Nachforschungen sei es nicht gelungen, die Quelle von Freuds Exzerpt zu eruieren: „Man hat die Vermutung aufgestellt, Freud habe das Zitat überhaupt erfunden und damit nur ausgesprochen, was sich für einen Nichtjuden eigentlich schicken würde. Seine Bemerkung, er habe die ursprüngliche Quelle nicht mehr auffinden können, wäre demnach ein versteckter Vorwurf gewesen.“ Das Verlangen, Proteste gegen die Judenverfolgung sollten von Nichtjuden ausgehen, findet sich auch in Freuds Brief an Lady Rhondda, die Herausgeberin der Zeitschrift „Time and Tide“, vom 16.11.1938. Er wurde am 26. November 1938 unter der Headline „A Letter from Freud“ in „Time and Tide“ abgedruckt (siehe: Standard Edition, Bd. 23, S. 301, „Anti-Semitism in England“). In deutscher Übersetzung lautet der Brief:

Ich kam nach Wien als vierjähriges Kind aus einer kleinen Stadt in Mähren. Nach 78 Jahren fleißiger Arbeit mußte ich mein Heim verlassen, sah die von mir gegründete wissenschaftliche Gesellschaft aufgelöst, unsere Einrichtungen zerstört, unseren Verlag von den Eindringlingen übernommen, die von mir publizierten Bücher konfisziert oder eingestampft, meine Kinder aus ihren Berufen vertrieben. Meinen Sie nicht, Sie sollten die Spalten Ihrer Sondernummer für die Äußerungen von Nichtjuden reservieren, die weniger persönlich betroffen sind als ich? In diesem Zusammenhang fällt mir ein alter Franzose ein, der sagt:

Le bruit est pour le fat
La plainte est pour le sot;
L’honnête homme trompe
S’en va et ne dit mot.

Ich fühle mich tief bewegt durch jene Passage Ihres Briefes, in der ‚ein gewisses Anwachsen des Antisemitismus sogar in diesem Land‘ eingestanden wird. Sollte die gegenwärtige Verfolgung nicht eher der Anlaß für eine Welle der Sympathie in diesem Land sein?

Das französische Zitat entstammt dem Theaterstück „La Coquette Corrigé“ von Jean Sauvé de la Noue (1701-1716): „Es lärmt der Laff’, es klagt der Narr; der betrog’ne Ehrenmann geht wortlos seiner Wege“.

Das von Freud erwähnte „Werk der beiden Coudenhove“ (Graf Heinrich Condenhove-Kalergi: „Das Wesen des Antisemitismus“) erschien 1901 ın erster Auflage, 1923 in zweiter (im „Neuen Geist-Verlag Leipzig“). Freud nimmt auf eine 1929 in Wien erschienene „zweite Auflage“ Bezug, die zusätzlich einen 28 Seiten langen Essay des Sohnes R. N. Coudenhove-Kalergi: „Antisemitismus nach dem Weltkrieg“ enthält. Das Titelblatt ziert ein zwischen zwei Fragezeichen plaziertes Hakenkreuz. Über den 1906 verstorbenen Vater schreibt der Herausgeber:

Was also Heinrich Coudenhove dazu trieb, gegen den Antisemitismus Stellung zu nehmen, war: sein auf eingehendste Sachkenntnis gegründeter Wille zu unvoreingenommener Wahrhaftigkeit und unparteiischer Gerechtigkeit — nicht etwa Gefühle oder Interessen. Denn er hatte weder eine besondere Sympathie für Juden noch befanden sich Juden unter seinen intimen Freunden. Dagegen hatten ihm seine Reisen und Studien die Möglichkeit gegeben, das Judentum in allen Himmelsstrichen und Berufen kennenzulernen. So war er als gründlicher Kenner der Menschen und Völker frei von den Vorurteilen seiner Heimat und immun gegen die Schlagwörter halbgebildeter Demagogen.

Beide Coudenhoves sehen eine Parallele zwischen dem Antisemitismus und der „Mißachtung gegen die Deutschen in der Welt“, und deshalb sollte „gerade Deutschland den kleinen antisemitischen Nationen vorangehen in der Kritik und Revision der Judenfrage“. Eine solche Revision sei

eine Gewissenspflicht Deutschlands, die Befreiung aus einer schweren Schuld und einem schweren Irrtum: Wer Gerechtigkeit fordert, sollte damit beginnen, sıe zu üben.

Der Herausgeber der zweiten Auflage weist auf eine „große Mission des Judentums“ hin: „Wurzelnd in allen nationalen Kulturen, kann es vorangehen in der Schaffung eines neuen Weltgewissens so wie es schon einmal durch das Christentum der Menschheit ein neues Gewissen geschenkt hat.“ Dann könne es helfen, die Prophezeiung zu verwirklichen: „Sie werden ihre Schwerter in Pflüge wandeln und ihre Speere in Sicheln.“

Beide Autoren sehen die Wurzel des zeitgenössischen Antisemitismus in der christlichen Erziehung der Kinder durch abergläubische Dienstboten und Verwandte. Diesen Ursprung im religiösen Fanatismus (die Juden werden „Christusmörder“ genannt) verschleiern die Antisemiten, indem sie sich auf Rassetheorien berufen:

Seit Freuds Entdeckungen steht unzweifelhaft fest, daß die Kinderseele die Retorte ist, in der ein großer Teil der späteren Instinkte und Gefühle entsteht. Verschüttete Kindheitseindrücke und -vorurteile senken sich ıns Unterbewußte und wandeln sich da in Instinkte.

Und

wenn erst die gebildeten Antisemiten zur Erkenntnis gelangen, daß der individuelle Antisemitismus ebenso wie der historische auf religiösem Fanatismus beruht, und daß ihre wissenschaftlichen Überzeugungen sich auf den religiösen Vorurteilen ıhrer Kinderfrauen gründen — dann können sie sich, endlich, von ihrem Wahne befreien. Wie bei der psychoanalytischen Therapie, handelt es sich hier darum, ein verschüttetes Kindheitserlebnis ins Bewußtsein zurückzurufen, um die Befreiung von einem zum Instinkt gewordenen Vorurteil durchzuführen.

Sigmund Freud selbst vermutete allerdings einen etwas tiefer liegenden Grund für den Antisemitismus: den Kastrationskomplex. Der locus classicus für diese Theorie ist eine Fußnote in der Fallgeschichte des „kleinen Hans“ („Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben“):

denn schon in der Kinderstube hört der Knabe, daß dem Juden etwas am Penis — er meint, ein Stück des Penis — abgeschnitten werde, und dies gibt ihm das Recht, den Juden zu verachten.

Die Verachtung teile „der Jude“ mit „dem Weib“. Für diesen Zusammenhang beruft sich Freud auf Otto Weiningers („jenes hochbegabten und sexuellgestörten jungen Philosophen“) „merkwürdiges“ Buch „Geschlecht und Charakter“ (1903). Nach „Das Unbehagen in der Kultur“ (1929/30) dient

„das Befeinden der Außenstehenden“ dazu, „eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden“. Aber „leider haben alle Judengemetzel des Mittelalters nicht ausgereicht, dieses Zeitalter friedlicher und sicherer für seine christlichen Genossen zu gestalten.“

Der Proklamation allgemeiner Menschenliebe durch den Apostel Paulus sei die „äußerste Intoleranz des Christentums“ gegen die „draußen Verbliebenen“ „unvermeidlich“ gefolgt, und so

war es auch kein unverständlicher Zufall, daß der Traum einer germanischen Weltherrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief.

Im dritten Teil (er war von Freud erst 1938 nach seiner Ankunft in England in Druck gegeben worden) von „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ nennt Sigmund Freud schließlich drei Wurzeln des Antisemitismus: „Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab“ (dieses Motiv scheint auch bei Coudenhove auf), zweitens die Beschneidung, „und endlich das späteste Motiv dieser Reihe“, die „Verschiebung“ des Christenhasses auf die Juden. „Alle diese Völker, die sich heute im Judenhaß hervortun“, sind „schlecht getauft“. Sie wurden durch blutigen Zwang Christen, haben ihren Groll nicht überwunden, sondern ihn „auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam“. Die „Tatsache, daß die Evangelien eine Geschichte erzählen, die unter Juden und eigentlich nur von Juden handelt, hat ihnen eine solche Verschiebung erleichtert“. So kann Freud feststellen:

Ihr Judenhaß ist im Grunde Christenhaß, und man braucht sich nicht zu wundern, daß in der deutschen nationalsozialistischen Revolution diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlichen Ausdruck findet.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1987
, Seite 16
Autor/inn/en:

Josef Dvorak:

Jahrgang 1934, gelernter Theologe und Tiefenpsychologe. Langjähriger Gerichtsreporter und außenpolitischer Redakteur bei Tageszeitungen, von 1973 bis 1995 Mitglied der Redaktion des FORVM. Er ist heute freier Forscher und Publizist und beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte der Psychoanalyse, des Okkultismus und ideologischer Minderheiten.

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