Streifzüge » Print-Ausgaben » Jahrgänge 1996 - 2000 » Jahrgang 1999 » Heft 1/1999
Alex Gruber • Tobias Ofenbauer

Fetischistischer Antikapitalismus

Über den strukturellen Zusammenhang von verkürzter Kapitalismuskritik und Antisemitismus

Referat, gehalten am Seminar „Zur Kritik des modernen Antisemitismus. Elemente einer kritischen Gesellschaftstheorie“ der Basisgruppe Politikwissenschaft.

So wahr es ist, daß man den Antisemitismus nur aus unserer Gesellschaft heraus erklären kann, so wahr scheint mir zu werden, daß heute die Gesellschaft selbst nur durch den Antisemitismus richtig verstanden werden kann.

Max Horkheimer

Traditioneller und moderner Antisemitismus

Im Transformationsprozeß der feudal-absolutistischen hin zur modernen warenproduzierenden Gesellschaft unterlag auch der traditionelle, religiöse Antijudaismus fundamentalen Veränderungen. Der moderne Antisemitismus ist nicht mehr vom Verhältnis der betreffenden Gesellschaft zu den Jüdinnen und Juden unmittelbar bestimmt, wie es noch im christlichen Mittelalter der Fall war, wo die Jüdinnen und Juden aufgrund der Nichtzugehörigkeit zu der die Gesellschatt bestimmenden Religion als Randgruppe ausgemacht wurden. Er hat vielmehr politisch-ökonomische Gründe und ist „als objektive Ideologie nichts, ohne die Gesellschaft, die sich in ihm reflektiert“. [1]

Der Transtormationsprozeß war begleitet vom Übergang konkreter, persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse in die abstrakte, warenförmige Herrschaft des Kapitals und schaffte damit Konflikte, die in der spezifischen Entwicklung neuer ökonomischer Machtverhältnisse gründeten. Begleitet wurde dieser Prozeß von der Herausbildung des bürgerlichen Staates, mit seiner Garantie der de iure freien und gleichen Staatsbürger, die die notwendige Grundlage für die freie Konkurrenz der Warenbesitzer (auch jener der Ware Arbeitskraft) auf dem Markt darstellt. Der freie und gleiche Tausch hat aber ungleiche Voraussetzungen und Folgen. Dem einzelnen Individuum steht somit permanent die Drohung vor Augen, zum Kreislauf des Warenverkehrs nicht mehr dazuzugehören, weswegen es sich in quasi-natürliche, überindividuelle Zugehörigkeit zum Kollekuv flüchtet, um der ständig drohenden Vernichtung seiner Existenz im Falle der Nichtverwertbarkeit zu entgehen. Aufgrund des Doppelcharakters der Arbeit, die einerseits als unmittelbar private Arbeit, andrerseits als gesellschaftliche Arbeit existiert, die ihren Nutzen auf dem Markt beweisen muß und erst über diesen erfährt, stellt sich die Verwertung, die jede stofflliche Arbeitsanstrengung zur Nichtigkeit verurteilen kann, als Entwertung „ehrlicher Arbeit“ dar. Aus diesem Grund identifiziert sich das Subjekt mit dem Staat: „Er ist es an den im Namen des Konkreten — der tatsächlich geleisteten Arbeit — appelliert wird, um das Abstrakte — die Gefahr der Offenbarwerdung der Wertlosigkeit des Arbeitsproduktes im Tausch — zu eskamotieren. Er ist es, vor dem die unschuldig sich wähnende Kultur der Produktion die verderbte Zivilisation der Zirkulation anklagt.“ [2] Alles was dem bürgerlichen Subjekt bedrohlich erscheint und es in die Existenzkrise stürzen könnte, wird aus dem Subjekt ausgeschlossen und zum absoluten Feind fingiert, der bekämpft wird, um Identität zu gewinnen. Durch die solcherart verfolgte abstrakte Seite der warenproduzierenden Gesellschaft, auf die der Kapitalismus reduziert wird, spaltet das Individuum seine Teilhabe an den destruktiven Tendenzen der irrationalen Vergesellschaftung ab, die auf das „Anti-Subjekt“ projiziert und in ihm geächtet werden. Also müssen die Stigmatisierten zur Rationalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse herhalten. In dieser manichäischen Wahrnehmung werden die Juden, die fast nie vorbehaltlos akzeptierter Teil der Gesellschaften waren, in denen sie lebten, mit allen konkreten Erscheinungsformen der abstrakten Hertschaftsformen des Kapitals identifiziert.

Die traditionelle Linke, die nie eine radikale Kritik der bürgerlichen Subjektivität, der Arbeit, des Staates, der Nation, usw. und somit der kapitalistischen Totalität formulierte und zumeist in oberflächlichen, soziologischen Kategorien (z.B.: Klassen, tripple oppression) verblieb, konnte sich so aus der politischen Ökonomie des Antisemitismus nicht befreien. Auch sie versuchte, die Produktion gegen die Zirkulation auszuspielen. Dagegen ist auf die Totalität der warenproduzierenden Gesellschaft zu verweisen: „Kapital ist die unmittelbare Einheit von Produkt und Geld oder besser von Produktion und Zirkulation.“ [3]

Der Unmittelbarkeitskult der traditionellen Linken

Die traditionelle Linke ist nie über eine dichotome Betrachtungsweise der kapitalistischen Realität hinausgekommen. Sie ist auf die Erscheinungsebene des Kapitalismus fixiert und hat die erkenntniskritische Unterscheidung von Wesen und Erscheinung niemals nachvollzogen.

Ihr Bedürfnis nach Unmittelbarkeit äußert sich in der Reduzierung des Kapitalismus auf oberflächliche Erscheinungen. Es wird nicht versucht, die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Totalität zu bestimmen und aufzuheben, sondern lediglich ein Moment innerhalb dieser Konstellation vertreten, das in antagonistischem Widerspruch zur Gesellschaft stehen und dem zu „seinem Recht“ verholfen werden soll. Die Kategorie Wert, die das Kapitalverhältnis konstituiert, bleibt außerhalb jeder kritischen Betrachtung und erscheint lediglich in der Figur des Mehrwerts, der vom Kapitalisten bzw. der Kapitalistin einbehalten wird, also als grundsätzlich positive Kategorie, deren konkrete Erscheinung — die Geldform des Mehrprodukts — es zugunsten der Arbeiterinnen und Arbeiter umzuverteilen gilt.

Der Wert, und damit auch die wertschaffende Arbeit, wird als etwas ontologisches, überhistorisches gefaßt, das durch die Kapitalisten und Kapitalistinnen nur mißbraucht werde. Indem der Mehrwert lediglich als „unbezahlte Arbeit“ begriffen wird, die vergütet werden müßte, bleibt diese Form der Kritik in der Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit befangen und „läßt die basalen Fetischformen des modernen warenproduzierenden Systems ganz unangetastet, die eigentlich die Bedingung der Möglichkeit sind, daß die Reproduktion überhaupt die Form von Geldeinkommen annimmt.“ [4] Statt dessen wird verlangt, die gesellschaftliche Produktion von der kapitalistischen Aneignung zu befreien, womit die Ebene der Zirkulation — entgegen aller Beteuerung eine Theorie der kapitalistischen Produktonsweise formulieren zu wollen — nicht verlassen wird. „Die Besonderheit der von Marx analysierten historisch bestimmten Form der Arbeit, die als Medium gesellschaftlicher Beziehungen dient, wird zugunsten eines überhistorischen Begriffs von ‚Arbeit‘ verwischt, welcher zur Basis der Kritik an der Distributionsweise wird.“ [5] Marx hingegen formuliert in seinen ökonomiekritischen Schriften eine Kritik an Arbeit und Produktion im Kapitalismus. Er begreift Arbeit nicht als überhistorisch, sondern untersucht die historische Bestimmtheit der warenproduzierenden Arbeit: nämlich Medium gesellschaftlicher Beziehungen zu sein, die in anderen Gesellschaftsformationen offen als solche existieren. Arbeit tritt im Kapitalismus an die Stelle traditioneller, vormoderner Normen und Bindungen bzw. offener Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse und wird zum quasiobjektiven Mittel, durch das die Produkte gesellschaftlich vermittelt werden, d.h. die Verhältnisse, die die Gesellschaft in ihrem Wesen charakterisieren, existieren nur im Medium der Arbeit, die dadurch einen einzigartigen Charakter erhält. Um den Kapitalismus zu überwinden, muß also die warenproduzierende Arbeit und „ihr eigener gesellschaftlich-synthetischer Charakter“ aufgehoben werden und nicht diese durch die Befreiung von der privaten Aneignung zu sich selbst kommen. [6]

Wertschaffende Arbeit, die realiter der letzte Grund für die Geldform und alle ihre Erscheinungen bis hin zum Aktienkapital ist, wird im traditionellen Marxismus als Prinzip interpretiert, auf dem Gesellschaftlichkeit fußt, und das vom Imperialismus der Ausbeutung zu befreien wäre. Diese Wertschätzung der konkreten Arbeit teilt er mit dem Antisemitismus, mit dem Unterschied, daß dieser das „schaffende“ (industrielle) Kapital zu einer Unterabteilung der Arbeit macht und zur Jagd auf das „raffende“ Kapital des Finanzüberbaus bläst, während jener das Argument des „raffenden Zinsnehmers“ lediglich um die Stufe des industriellen Unternehmers erweitert und damit in der politischen Ökonomie des Antisemitismus verhaftet bleibt.
Damit ist nicht gemeint, daß alle traditionellen Marxisten und Marxistinnen antisemitisch wären, sondern, daß es einen strukturellen Zusammenhang zwischen der verkürzten Kritik des Kapitals und dem Antisemitismus gibt. Der Arbeiterbewegungsmarxismus war durch diese Verkürzung immer anfällig für antisemitische Motive.

Statt den Kapitalismus als komplexes gesellschaftliches Verhältnis zu kritisieren, werden also „die Herrschenden“ persönlich für die Friktionen verantwortlich gemacht, und als die schuldigen Akteure dämonisiert. Eng damit zusammenhängend sind Verschwörungstheorien, die suggerieren, jene „Herrschenden“ seien eine homogene Interessensgruppe, die zielgerichtet und klandestin die Unterdrückung der restlichen Menschheit plant. Diese Thesen, die in letzter Zeit häufig in Zusammenhang mit Diskussionen über Globalisierung und Neoliberalismus auftauchen, hängen eng mit Lenins theoretischer Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ [7] zusammen und werden auch von Linken vorgebracht, die sich nicht explizit auf Lenin berufen bzw. ihn sogar ablehnen.

Die Imperialismustheorie als höchstes Stadium der Kapitulation vor dem Kapitalverhältnis

Lenin interpretiert den historischen Übergang zum Aktienkapital als eine qualitative Veränderung des Kapitalismus: als Ablösung des freien Konkurrenz- durch den Monopolkapitalismus, der durch einige wenige „Finanzoligarchen“ kontrolliert werde und in dem das „blinde Wüten des Wertgesetzes“ partiell aufgehoben sei. [8] Dies sei durch das bürgerliche Kreditwesen verursacht, welches sich die ganze Produktion unterwerfe und seinen verwerflichen Zielen zunutze mache. Lenins Analyse beruht auf einer Fehleinschätzung der Rolle des Zinses in der kapitalistischen Gesellschaft. Dieser ist nichts anderes als die in der bürgerlichen Gesellschaft alltäglich vorzufindende Spekulation auf zukünftigen Gewinn. Der Kreditgeber bzw. die Kreditgeberin erhält für das vorgeschossene Kapital einen Teil des produzierten Mehrwerts als Vergütung, unterscheidet sich also darin in nichts von seiner industriellen Kollegin oder ihrem industriellen Kollegen. Dem fetischistischen Bewußtsein wird das Kapital jedoch immer suspekter, je weiter es sich von der Produktion wegbewegt. Dem sogenannten gesunden Menschenverstand bleiben die Verhältnisse unbegriffen: er will Untrennbares gegeneinander ausspielen, weil er nicht erkennt, daß das fiktive Kapital lediglich die fetischisierteste Form des Kapitals ist, in der die Verwertung in ihrer abstraktesten Form auftritt. Im Zinsertrag, also in der Bewegung Geld zu mehr Geld (G-G’) erscheint das produktive Kapital nicht mehr, Geld scheint sich selbst zu vermehren. Diese verdinglichte Wahrnehmung sozialer Verhältnisse ist allerdings nicht auf den Kapitalismus beschränkt: die Geschichte der Bedrohlichkeit und „Naturwidrigkeit“ des Zinses ist so alt wie die Geschichte des Geldes selbst. Allerdings nimmt der Kredit erst in der Moderne eine derart zentrale Rolle ein, daß der den Zins fetischisierende Wahn allgemein gesellschaftlichen Charakter erhält.

Die moralische Unterscheidung in „gute“, die Produktion besorgende („schaffende‘“) und „schlechte“, die Spekulation besorgende („raffende“) Kapitalistinnen und Kapitalisten darf kritische Theorie also nicht nachmachen. Zinstragendes Kapital ist nicht isoliert zu betrachten und aus dem gesamtgesellschaftlichen Kontext zu entlassen, sondern es ist immer die Rückbezüglichkeit zur kapitalistischen Totalität herzustellen. Antikapitalismus, der sich an bloßen Aspekten abarbeitet wird dadurch unrichtig. Dennoch erscheinen solche strukturell antisemitischen Vorwürfe in der Linken immer wieder, etwa in Überlegungen zur Asienkrise. Die Krisenerscheinungen der Finanzmärkte und Nationalökonomien werden auf Finanzspekulationen und den „Casino-Kapitalismus“ zurückgeführt. „Die besonders verabscheuungswürdigen spekulativen Finanztransters werden von ihr (der Soli-Bewegung; d.V.) argumentativ konterkariert mit den Direktinvestitionen in sogenannte produktive Sektoren, die Arbeitsplätze schaffen und positive Entwicklungen hervorbrächten (...)“ [9] Es geht dieser Form von Kritik nicht um die Analyse der ökonomischen Rolle des Kredits für die kapitalistische Produktionsweise, sondern um die Überführung der moralischen Niedertracht der „Finanzkapitalisten und -kapitalistinnen“. Damit kommt die „linke“ Suche nach dem Subjekt, das alles beherrscht, an ihr Ende.

Diese Interpretation folgt nicht aus einer immanenten Kritik der Gesellschaft, sondern einer von außen herangetragenen Moral: Willkür und Allmacht sind schließlich die recht unökonomischen Charakteristika, die den multınationalen Konzernen nachgesagt werden. [10] Die „Finanzoligarchen“ seien unproduktive Kapitalisten, die jene Allmacht und Willkür einsetzen und so der ganzen Gesellschaft schaden und die mögliche Emanzipation hintertreiben würden. Dabei würden sie von der bürgerlichen Regierung unterstützt, die der „verlängerte Arm der Kapitalistenklasse“ sei, und deswegen durch eine zu ersetzen wäre, die auf Seiten der „Unterdrückten“ steht. Solch theoretische Verirrungen findet man heute vor allem in linken Diskussionen über Neoliberalismus, Weltwirtschaftsgipfel oder MAI, wo behauptet wird, den „Staat vor seiner ReGIERung (sic!) schützen“, [11] also den (Wohlfahrts-)Staat gegen den Markt und seine (politischen) Agenten mobilisieren zu müssen, „Da wird nicht gegen den Staat als Garanten einer unmenschlichen Ordnung gekämpft, weil die unmenschliche Ordnung (...) als ‚das zynische Großkapital‘ vorgestellt wird. Kapitalismus erscheint so als sozial zu kontrollierende und in nützlichen und überschaubaren Einheiten produktiv am Gemeinwohl sich beteiligende Form des nationalen Wirtschaftens.“ [12] Die verkürzte Kritik der politischen Ökonomie, die Identifizierung der Erscheinungsformen des Kapitalverhältnisses mit seinem Wesen, geht meist einher mit einer mangelhaften Theorie des Staates. Der moderne Staat wird weder in seiner Genese noch in seiner Funktion als Organisator der Reproduktion des Kapitalverhältnisses erkannt. Durch eine Überstrapazierung der Autonomie des Politischen verschwindet jeder strukturelle Zusammenhang zwischen Warenproduktion und staatlicher Ordnung, Der Staat wird nur als inhaltlose Form begriffen, die im Moment von den Interessen der herrschenden Klasse dominiert wird. Ergo: Eroberung des Staatsapparates und Transformation dessen in den proletarischen Staat, statt Kritik moderner Staatlichkeit. „Die Sozialisten vertraten gegen das Bürgertum dessen eigene fortgeschrittene Phase und strebten schließlich eine bessere Regierung an.“ [13] In den Phantasien vom Sozialstaat oder den Vorstellungen der antimonopolistischen Demokratie leben diese etatistischen Illusionen in den aktuellen Debatten weiter. Es ist kein Wunder, daß der Großteil der linken „Kritik“ als empörter Gestus über den „Sozialabbau“ daherkommt. Die traditionelle Linke denunziert bürgerlich-liberale Politik als gegen das Allgemeinwohl gerichtete und damit ihren eigenen, idealistischen Ansprüchen zuwiderhandelnde. Die Forderungen, diesen angeblich nicht realisierten Maßstäben doch endlich gerecht zu werden, lassen sich also auf die etwas widersprüchliche Formel zusammenfassen: Emanzipation durch „bessere“ Herrschaft, also „Befreiung“ durch den Zwangscharakter des Politischen.

Ähnlich stellen sich auch Antisemiten und Antisemitinnen die herrschende Politik vor: überall sehen sie „Bonzen“ und „Parasiten“ am Werk, die das Volk ausbeuten und der Internationalisierung preisgeben, weil sie nur den kurzfristigen Profit der Finanzkapitalisten und nicht das Allgemeinwohl im Auge hätten, daß also „das internationale Finanzkapital über die regierenden Systemparteien an der Zerstörung von Sozialstaat und Kultur (...) arbeitet.“ [14] Es ist also kein Zufall, daß rechte Zeitungen in Deutschland ihre LeserInnenschaft auffordern, die PDS zu wählen, weil diese „derzeit der Pfahl im parlamentarischen Fleisch der Bundesrepublik Deutschland (ist) und (...) gegenwärtig die einzige Partei, die sich gegen die neoliberalistische Globalstrategie wendet.“ [15]

Das Kapital verwandelt sich für Lenin, der das Zinskapital nicht als „fetischartigste Form“ (Marx) erkennt, in ein unmittelbar personalistisch verstandenes Herrschafftsverhältnis, also in „bewußte Verfügung über die Zusammenhänge der kapitalistischen Reproduktion.“ [16] Demgegenüber wäre Herrschaft unter den Bedingungen warenförmiger Vergesellschaftung als Verfügungsgewalt über den wertförmigen Reichtum zu fassen, dessen Form den bürgerlichen Subjekten allerdings selbst bereits bewußtlos vorausgesetzt ist. Das bedeutet, daß das Kapital das „automatische Subjekt“ [17] der bürgerlichen Gesellschaft ist und nicht die von personalisierender Theorie ausgemachten „Herrschenden“. In der traditionellen Linken wird Herrschaft zu einer bloßen Willenskategorie, und alle gesellschaftlichen Friktionen werden als Folge dieses (bösen) Willens der Kapitalisten und Kapitalistinnen begriffen. „So entsteht zwangsläufig ein binäres und verdinglichendes, ein personalisierendes und moralisierendes Denken, das eine Clique von bösen Herrschenden annehmen muß, die mittels direkter Repression, Korruption durch Sozialpolitik und gemeiner Propaganda in den Medien die Guten, die Beherrschten niederhalten.“ [18] Ein Teil dieser Propaganda zur „Niederhaltung und Spaltung der Unterdrückten“ soll der Antisemitismus sein. Er wird als Mittel zur Durchsetzung außerhalb seiner selbst liegender Ziele interpretiert, das beliebig einsetzbar wäre und von den wahren Herrschaftsverhältnissen ablenke. Im Anschluß daran wird der Nationalsozialismus als eine besonders abscheuliche Form der Klassenherrschaft gesehen, die den Antisemitismus zur Ablenkung von inneren Widersprüchen und zur Spaltung der Arbeiterklasse benutzte. „Der Faschismus an der Macht ist die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, aın meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ [19] oder kurz: „Hinter dem Faschismus steht das Kapital!“ ist die gebetsmühlenartig vorgebrachte Definition, die der traditionellen Linken zum Faschismus einfällt. Diese Theorie ist nicht zu Unrecht als Definition kritisiert worden, „die sich den Faschismus in ihrer Gegenüberstellung von aggressiver, unproduktivem Finanzkapital und dem um die Früchte seiner Arbeit betrogenen Volk nahezu so vorstellt, wie der Faschist sich die jüdische Weltverschwörung“. [20] Vom Nationalsozialismus oder der Vernichtung des europäischen Judentums spricht jene Linke nur, wenn auch noch diese des ökonomischen Nutzens für die „Herrschenden“ überführt werden soll.

Diese Linke interpretiert den Antisemitismus nicht als der kapitalistischen Produktion entsprechende Basisideologie, sondern als historisch spezifische Form des Diskurses. Er sei nichts anderes als eine spezifische Weise, über Juden und Jüdinnen zu sprechen. Es gelte also diesem Gespräch entgegenzuarbeiten und es zu unterbrechen, indem der Antisemitismus seiner Funktion für „die Herrschenden“ überführt und letztendlich dekonstruiert werde. Dagegen wäre festzuhalten, daß Antisemitismus nicht das gesellschaftliche Gespräch über das Judentum, sondern eine objektive Ideologie der warenproduzierenden Gesellschaft ist, die ihren Grund in der realen Produktion von Wert, der basalen Vergesellschaftungskategorie, hat. Eine Kritik des Antisemitismus, die sich über den Zusammenhang von Warenform und Denkform keine Gedanken machen will, kann diesen nicht begreifen, weil sie ihn als Irrtum ohne gesellschaftliche Notwendigkeit, als bloßen Zufall behandelt. [21] Ideologie ist aber mehr und anderes als diskursiv erzeugte Propaganda, die bewußt eingesetzt wird, und die ebenso bewußt durch Aufklärung aus der Welt zu schaffen sei. Sie ist Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Rationalisierung des Irrationalen, und entspringt den basalen Vergesellschaftungsformen und ist deswegen nur gemeinsam mit der sie erzeugenden Gesellschaft abzuschaffen.

[2Krug, Uli 1995: Der Fall Deutschland. Sonderweg oder Exempel?; in: Bahamas, Nr. 18, S. 38 (kursiv im Orig.)

[3Marx, Karl 1983: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie; in: MEW 42, Berlin S. 251 (kursiv im Orig.)

[4Kurz, Robert 1995: Politische Ökonomie des Antisemitismus, Die Verkleinbürgerung der Postmoderne und die Wiederkehr der Geldutopie von Silvio Gesell; in: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschafi, Nr. 16/17, S. 204

[5Brick, Barbara/Postone, Moishe 1982: Kritischer Pessimismus und die Grenzen des traditionellen Marxismus; in: Bonß/Honneth: Sozialforschung als Kritik, Frankfurt/Main, S. 200

[6vgl. ebd., S. 203f.

[7vgl. Lenin, W.I. 1946: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Wien

[8vgl. Bösch, Robert 1995: Unheimliche Verwandtschaft. Anmerkungen zum Verhältnis von Marxismus-Leninismus und Antisemitismus; in: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft, Nr 16/17, S. 163f.; Zur Kritik an Lenins Annahmen über die Monopole und das damit verbundene Verschwinden der Konkurrenz vgl. Held, Karl/Ebel, Theo 1983: Krieg und Frieden. Politische Ökonomie des Weltfriedens, Frankfurt/Main, S. 48-65

[9Stock, Christian 1998: Furchtbar gut gemeint. 30 Jahre Ideologieproduktion in der Solidaritätsbewegung; in: Jungle World, Nr. 45/1998, S. 16

[10vgl. Held, Karl/Ebel,Theo 1983: a.a.O., S. 53

[11rapidité, 3/98, S. 2

[12Wertmüller, Justus/Salzborn, Samuel 1998: Volksbefragung zur sozialen Frage. Eine Tatortbesichtigung aus Anlaß des DVU-Erfolges; in: Bahamas, Nr. 26, S. 17

[13Horkheimer, Max 1981: Autoritärer Staat; in: Dubiel, Helmut/Söllner, Alfons: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialisımus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942, Frankfurt/Main, S. 60

[14Nation & Europa 3/98; zit. in: Wertmüller, Justus/Salzborn, Samuel 1998: a.a.O., S. 15

[15zit. in: ebd.

[16Bösch, Robert 1995: a.a.O., S. 164

[17Marx, Karl 1993: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Der Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin; S. 169

[18Haury, Thomas 1992: Zur Logik des bundesdeutschen Antizionismus; in: Poliakov, Leon: Vom Antizionismus zum Antisemitismus, Freiburg i.Br., S. 139

[19Dimitroff am 2.8.1935 auf dem VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale; zit. in: Hecker, Konrad 1996: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, München, S. 305f.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1999
, Seite 10
Autor/inn/en:

Alex Gruber: Studierte Politikwissenschaft in Wien, von Dezember 2003 bis 2006 Redaktionsmitglied von Context XXI.

Tobias Ofenbauer:

Tobias Ofenbauer studiert Politikwissenschaft in Wien.

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