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Günther Anders

Entfremdung?

Denn dieser von Marx eingeführte und nun von Allen, auch Nichtmarxisten, auch Halbgebildeten nachgeplapperte Terminus war von Beginn an wenig glücklich. In den Ohren genau Hörender müsste der eigentlich (parallel etwa zu „Enteisung“ oder „Entfettung“ bedeuten: etwas seiner Fremdheit oder Befremdlichkeit entkleiden; und nicht umgekehrt, wie Marx es gemeint hatte, und wie es die Erben des Terminus ebenfalls meinen, etwas fremd oder befremdlich machen. [1] Wer fortfährt, den Ausdruck zu verwenden, der darf das eigentlich nur dann tun, wenn er bewusst die dem Marxschen Sinne entgegengesetzte Bedeutung mit ihm verbindet – was allerdings der Wahrheit entspräche. Denn den Politikern, Industriellen, Ingenieuren und Arbeitern liegt ja nichts ferner, als ihre enormen Leistungen und Effekte, also z.B. die hergestellte atomare Gefahr, in etwas „Fremdes“ zu verwandeln.

Umgekehrt liegt ihnen ja ausschließlich daran, die unvorstellbar großen, ihnen und uns durch diese ihre Größe total fremd bleibenden Zielsetzungen und Effekte sprachlich so zu behandeln, als gehörten diese zum Alltäglichsten, Selbstverständlichsten und Vertrautesten ihres und unseres Lebens; sie also ihrer Fremdheit oder Befremdlichkeit zu entkleiden – kurz: sie (nun im korrigierten Sinne des Terminus) zu „ent-fremden“.

Aus dem Manuskript zum Dritten Band der „Antiquiertheit des Menschen“; zuerst veröffentlicht in: „Sprache und Endzeit“ (VI) § 31, FORVM Nr. 433-435, Heft Jänner-März 1990, S. 17. Mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Oberschlick.

[1Brecht, dessen Ohr untrüglich war, war das längst aufgefallen. Schon vor 60 Jahren hat er das unglückliche Verb „entfremden“ für seine Theateranweisungen durch das andere „verfremden“ ersetzt; das freilich zur Charakterisierung dessen, was wir nun im Auge haben, auch nicht geeignet wäre.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
2010
, Seite 32
Autor/inn/en:

Günther Anders:

Günther Anders wurde am 12. Juli 1902 in Breslau geboren. Nach dem Studium der Philosophie 1924 Promotion bei Husserl. Danach gleichzeitig philosophische, journalistische und belletristische Arbeit in Paris und Berlin. 1933 Emigration nach Paris, 1936 nach Amerika. Dort viele „odd jobs“, unter anderem Fabrikarbeit, aus deren Analyse sich später sein Hauptwerk ‚Die Antiquiertheit des Menschen‘ ergab. Ab 1945 Versuch, auf die atomare Situation angemessen zu reagieren. Mitinitiator der internationalen Anti-Atombewegung. 1958 Besuch von Hiroshima. 1959 Briefwechsel mit dem Hiroshima—Piloten Claude Eatherly. Stark engagiert in der Bekämpfung des Vietnamkrieges. — Auszeichnungen: 1936 Novellenpreis der Emigration, Amsterdam; 1962 Premio Omegna (der ,Resistanza Italiana‘); 1967 Kritikerpreis; 1978 Literaturpreis der ‚Bayerischen Akademie der Schönen Künste‘; 1979 Österreichischer Saatspreis für Kulturpublizistik; 1980 Preis für Kulturpublizistik der Stadt Wien; 1983 Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt; 1992 Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Günther Anders starb am 17.12.1992 in Wien.

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