FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 132
Guntram Hämmerle

Entfremdetes Eigentum

Was Eigentum heißt, wird seit über tausend Jahren durch das römische Recht festgelegt. Nach diesem wird das Eigentum für den Menschen zu einem allgemein gültigen Rechtsverhältnis, welches festlegt, worüber er ungehindert verfügen kann oder nicht. Das Eigentum entsteht nach dieser bestehenden Rechtsordnung auf mannigfache Weise: durch Vertrag, Erbschaft, Gesetz, Arbeit, Okkupation. Es gründet also demnach in einem Akt des Erwerbs.

Demgegenüber werden wir schon nachdenklich, wenn wir das Wort Eigentum aufmerksam aussprechen, und dies vollends, wenn wir dieses Wort für sich selbst, also aus der von ihm genannten Sache, sprechen lassen. Was sagt uns dieses Wörtchen „eigen“ und welcher Sinn verbirgt sich in dem „eignen“, „zueignen“, „zu eigen sein“? Indem wir nach diesem Sinn fragen, verlassen wir offensichtlich den Bezirk, in dem das Eigentum als ein allgemeines Rechtsverhältnis verstanden wird.

Kindhaftes Eigentum

Der Bereich, in dem es so etwas wie Eigentum gibt, liegt im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Dieses Verhältnis zeigt sich am unmittelbarsten, urtümlichsten und reinsten in der Welt des Kindes. Aus ihr wollen wir uns zunächst einen Hinweis geben lassen, um dem näherzukommen, was dieses „Zu-eigen-Werden“ im Grunde ist. Dies bedingt allerdings zuvor, daß wir uns freimachen können von allgemein üblichen Vorstellungen für das, was sich uns aus diesem Hinweis zuspricht. Sein Dasein erfährt das Kind in den Begegnungen mit Menschen und im Spiel mit den Dingen, seinen Spielsachen. Die Beziehung zu diesen hat insofern etwas Besonderes an sich, als sie sich auf eine ganz eigene und unabhängige Weise vollzieht. Wir wissen, daß das Kind zwei Arten von Spielsachen unterscheidet: solche, die es sich ohne weiteres wegnehmen läßt — und solche, die ihm so vertraut sind, daß ihr Verlust ihm größten Schmerz zufügen würde. Worin liegt dieser Unterschied der Beziehung? Das eine ist ihm von Anfang an fremd geblieben, das andere dagegen ist ihm auf seine Weise vertraut geworden. In diesem Vertrautsein wird es von diesem Ding auf eine besondere Weise angegangen. Der abgewetzte Teddybär, den es mit ins Bett nimmt, mit dem es spielt und Gespräche führt, gehört ihm selbst, weil er ein Stück seines Selbst geworden ist. Das ist mehr als nur eine Metapher, denn indem das Kind bei den ihm so vertrauten, ihm durch sein Tun und seine Gespräche zu eigen gewordenen Dingen ist, ist es bei sich selbst.

Auch wir Erwachsenen kennen das „„Bei-sich-selber-Sein“ und gebrauchen es sogar oft in unserer Umgangssprache. Auch wir sehnen uns danach, weil wir wissen um das Beruhigende, um das Freie und um das Friedliche dieser Weise des Daseins. Denken wir nur an unsere Lieblingsbeschäftigung oder unser Steckenpferd und alles, was unser Zuhause ausmacht. Ja, zu Hause, das heißt: bei sich selber sein, kann der Mensch nur wahrhaft dort, wo sein Wesen wohnt. Das Wohnen, unsere Familie, unser Haus und die Dinge, mit denen wir umgehen, dieser Bereich, der unser Selbst im Innersten und Ganzen angeht, ist es doch, der uns als das Eigenste des Lebens überhaupt erscheint. Die mit Liebe hergerichtete Wohnung, mit unseren besten Kräften bewohnt, wird unser Zuhause, das heißt, unser Eigenes, indem wir uns selber an sie verschenken. Und erst in unseren Mühen, unserem Zutun finden wir uns selber darin wieder.

Wir wollten uns einen Hinweis geben lassen, um zu erfahren, was das „Zu-eigen-Werden“ sei. Dabei wurde uns zunächst deutlich, daß mit dem „Zu-eigen-Werden“ etwas geschieht, was uns zu uns selbst bringt. Um diesem zu entsprechen, muß freilich ein Sich-finden-Wollen vorangehen.

Wir sind in unserem Fragen an einen Punkt gelangt, der einiger Erläuterungen bedarf. Es könnte sein, daß wir uns zu schnell von den geläufigen Vorstellungen und Meinungen entfernen. Darum sei ein Beispiel angeführt für das, was wir im Auge haben. Der Bezug zwischen Mensch und Eigentum zeigt sich auf eine besondere Weise im Leben des Bauern. Ihm ist sein Hof, sein Land, sein Vieh und alles, was dazugehört, in dem Sinne Eigentum, daß er in all dem durch Anbau und Pflege, mit Sorge und Mühe, im Glück und im Unglück wohnt. Solches Wohnen gehört zu seinem Wesen und in ihm erfüllt sich sein Dasein. Es erfüllt sich dergestalt, daß er sich darin verschwendet und in diesem Sich-Verschwenden sich erst selber hat. Die so verstandene Sorge ist offensichtlich eine andere als die Sorge unserer heutigen staatlichen und privaten Fürsorge-Apparaturen und sonstigen sogenannten Wohlfahrtseinrichtungen. Diese Sorge will nicht Sorgen abnehmen, sondern sie ist ein immerwährendes Verweisen und Zurückweisen des Menschen in den Wesensgrund seines Lebens, aus dem er er selbst zu sein vermag.

Für das im Leben des Bauern sichtbar gewordene Zusammengehören von Wohnen und Eigentum sprechen das Erlebnis und das Schicksal der Millionen von Flüchtlingen ein deutliches Wort. Ihnen ist nun, was ihnen damals gehörte, in einem viel tieferen Sinn „zu eigen“ geworden, als es dies in seinem bloßen Vorhandensein je war. Vielen von ihnen ist in diesem Verlust erst recht der lebendige Bezug, der hier waltet, offenbar geworden. Wohl ist die Sache verloren, aber der Bezug zu ihr, das wahrhaft Verbindende, ist dadurch erst zum Bewußtsein gekommen. Indem die Sache als Besitz verlorenging, ist sie ihnen zum Eigentum geworden. Indem sie ihre Heimat, den Bereich ihres Wohnens verlassen mußten, haben sie aus diesem Verlust erst recht erfahren, was Eigentum ist. In solcher Erfahrung wohnt auch das Geheimnis so mancher Abschiede, die dann als Abschied zugleich erst die Ankunft sind.

Totes Eigentum

Wir fragen „Was ist Eigentum?“ und haben versucht, sein Wesen zu erfahren. Als das Wesen einer Sache gilt nach alter Lehre jenes, was und wie sie ist. Wenn wir also nach dem Eigentum fragen, um sein Wesen zu erfahren, so gilt es, jenem näherzukommen, was das Eigentum erst als Eigentum ausmacht und was jenes Tragende und Waltende in ihm ist. Solange uns dies nicht gelingt, wird es freilich etwas vereinzelt Abgesondertes, uns Gegenüberliegendes bleiben, also hier ein Mensch — dort ein Eigentum. Es wird so als etwas Neutrales vorgestellt und wir werden deshalb in dem Willen verhaftet bleiben, daß es der menschlichen Ordnungsbefugnis zu unterstellen sei. So allerdings treiben wir am Wesen des Eigentums vorbei. Der juristischen Auslegung vom Eigentum liegt eine Vorstellung zugrunde, wonach der Mensch für sich genommen, also als Person, schon Mensch sei und die Dinge als Besitz oder in Besitz zu nehmende erst noch hinzukommen. In Wahrheit jedoch beruht das Menschsein in einem immerwährenden Bezug zwischen Mensch und Umwelt. Deshalb kann auch das Wesen des Eigentums niemals aus einem bloßen Gegenüberstellen von juristischer Person und verfügbarer Sache, also einer Zweiheit, sondern nur aus der ursprünglichen Form des Zusammengehörens von Menschen und Dingen erfahren werden. Dieses Zusammengehören von Menschen und Dingen ermöglicht uns einen Einblick in den Grund des Sachverhaltes, dem die Erörterung gilt. Denn zusammengehören heißt, auf das Wesen des anderen hören, heißt hören, was sich uns aus dem Wesen des anderen zuspricht, und heißt, dem so Zugesprochenen entsprechen.

Wenn von Eigentum die Rede ist, stellen wir uns gewöhnlich zuerst ein eigenes Haus oder zumindest eine eigene Wohnung vor. Es muß also hier eine ursprüngliche Verbindung walten zwischen Wohnen und Eigentum, die womöglich so stark ist, daß das eine ohne das andere nicht denkbar ist. Wenn dies so ist, dann muß doch Wohnen eigentlich mehr sein als nur eine Unterkunft innehaben, wie das so viele Leute heute meinen. Wohnen heißt auch bleiben, sich aufhalten. Wohnen geschieht also auch am Arbeitsplatz, auch an der Maschine. Für den Fahrer eines Fernlastzuges zum Beispiel ist sein Verhältnis zur Autobahn eine Weise des Wohnens. Wohnen ist hegen, ist pflegen und heißt: in unsere Hut nehmen. War es nicht solches Wohnen, das wir in der Welt des Kindes, im Leben des Bauern und in der Erfahrung der Flüchtlinge mit dem „Zu-eigen-Sein“ meinten? Wohnen ist die Art und Weise, wie wir auf der Erde sind. Wohnen ist somit ein Grundzug unseres Seins überhaupt. Bedenken wir daher wohl, daß in unserem Verhältnis zum Eigentum erst recht offenbar wird, inwieweit wir Heutigen dieses Wohnen in seinem wesentlichen Sinn überhaupt noch vermögen.

Wert und Rechtsverhältnis

Wir sprachen zu Anfang unserer Besinnung von den Bemühungen um eine neue Gesellschaftsordnung und fragten uns dabei, ob diese unter Voraussetzungen unternommen werden, die uns versprechen, dem Wesentlichen näherzukommen. Solange allerdings versucht wird, das Eigentum als etwas naturrechtlich für den Menschen Sichergestelltes zu dogmatisieren, wird der Weg zu seinem Wesen versperrt. Dort, wo Eigentum beginnt, vollzieht sich noch kein rechtlicher Vorgang — Eigentum gibt es bereits vor jeder vertraglichen und legalen Bindung. Sein Anfang ist dort, wo sein Wesen beginnt.

Die scheinbar große Frage, die uns so sehr beschäftigt, nämlich: was das überhaupt sei und wie das sei, Eigentum zu haben oder ohne Eigentum zu sein, ist nur denkbar und möglich im Sinne eines Rechtsverhältnisses. Wenn das Thema unseres Gesprächs der „Wert“ des Eigentums ist, so nicht deshalb, um unsere Gedanken in den Bereich eines Rechtsverhältnisses zurückzuweisen, sondern ganz im Gegenteil, das Wort „Wert“ spricht hier im Sinne von Wesensfülle, also von jenem, was das Eigentum als solches ausmacht und erfüllt. Die Fülle des Eigentums ist der jeweils im Umgang mit den Dingen erst eröffnete und so aus ihnen empfangene Reichtum an Welt. Dieser Reichtum weist freilich über die Zone von „haben“ oder „nicht haben“ weit hinaus in einen Bereich, in dem allein Freiheit und Friede sich ereignen können. Dort, und nur dort, ist es möglich, Mensch zu sein. Um dies zu vermögen, bedarf es einer Mächtigkeit des Geistes, die ihren Ursprung in der inneren Befähigung hat, auf den Wesensreichtum der Dinge zu hören und ihn sich selbst anzueignen. Dies heißt uns jenen Abstand zu den Dingen üben, der stehenlassen kann, was da ist, und der uns das Eigene so gibt, daß wir es auch wieder entlassen können aus unserem Leben. Solcher Mut zur inneren Freiheit kann uns fähig machen, zugleich zu schenken und in der rechten Weise zu besitzen. Das eine kann ohne das andere nicht sein. Wer das Vergängliche nicht erträgt, wird nie vermögen, das Unvergängliche zu empfangen. „Denn eben das Vergängliche, diese vom Hingang lebenden Dinge, trauen uns, den Vergänglichsten, ein Rettendes zu“ — sagt Rilke in der neunten Duineser Elegie. Nämlich jenen Reichtum an Welt, von dem wir sprachen und der soviel sein kann wie Seele, Geist, Form, Erinnerung, Sorge, Erkenntnis, Erlebnis. Im Eigentum west Freiheit und Friede, weil der Mensch hier nicht Knecht von bloßem Besitz ist, sondern am Wesen des Eigentums selbst teilhat.

Mit dem Beginn der Industrialisierung und der damit verbundenen Arbeitsteilung ist das Eigentum in ein neuartiges Verhältnis zu uns gerückt. Aber unser Verhältnis zu ihm ist damit eigentlich noch kein neues geworden, sondern nur fragwürdiger als je zuvor. Unsere Besinnung darf sich daher nicht verleiten lassen, ein neues Verhältnis suchen zu wollen, sondern sie muß sich damit bescheiden, das uns Gewohnte neuerlich in Frage zu stellen. Die Fragwürdigkeit des Eigentums setzt in besonderer Eindringlichkeit ein mit dem Denken von Karl Marx und seiner Ausstrahlung auf die industrielle Arbeitswelt. Das Zentrale dieses Denkens ist seine Deutung der menschlichen Arbeit und deren Verhältnis zum Eigentum. Ob die bisherige Auseinandersetzung mit den Grundgedanken von Karl Marx überhaupt zureicht, möge offenbleiben. Für unseren weiteren Gedankengang wollen wir uns Wesentliches aus dem Denken von Karl Marx vergegenwärtigen, gleichsam, um unseren eigenen Weg zu verdeutlichen. Wir fragen demgemäß, was Arbeit ist, um deren Verhältnis zum Eigentum zu erfahren.

Wahres im Marxismus

Offensichtlich wird heute in unserem technischen Zeitalter die Arbeit als etwas angesehen, dessen Zweck außerhalb seiner selbst liegt. Demnach würde ihr Verhältnis zum Eigentum darin beruhen, daß die Arbeit das Mittel ist, durch das man Eigentum schafft und erwirbt.

Wenn also die Arbeit nichts anderes ist als nur Mittel zum Zweck, dann freilich hätte Marx mit der daraus folgenden Selbstentfremdung des Menschen recht. Und wer von uns könnte leugnen, daß ihm die geschichtliche Entwicklung in vieler Hinsicht recht gegeben hat? Marx denkt die menschliche Arbeit als ein Mittel zum Zweck, sie ist Produktion und wird Kapital. Demzufolge sieht er in ihr den unbedingten Willen zur Macht angelegt. Das Eigentum wird Kapital und herrscht so als eine Macht über den Menschen, die ihn um das Ergebnis seiner Arbeit bringt, nämlich, seine Welt für sich und als Freier verfügbar zu haben.

Demgegenüber wollen wir uns noch einmal das Leben des Bauern vergegenwärtigen, dessen Land in dem Sinne sein Eigentum ist, daß er mit seiner Arbeit, nämlich Anbau und Pflege, Sorge und Mühe, in ihm wohnt. Hier ist also Arbeit offenbar als eine Weise des Wohnens im Eigentum gedacht. Der Bauer weiß aus einer tiefen und ursprünglichen Erfahrung, daß ihm durch seine Arbeit nicht Macht geschenkt wird, sondern daß Mächtigeres waltet, wenn Trockenheit herrscht, Hochwasser verheeren oder Seuchen wüten. Für ihn ist die Arbeit in sich ein natürliches Selbstbescheiden auf das Wesen der Dinge, in denen und mit denen er wohnt und lebt. So ist denn auch eines der großen Zeichen der Geschichte, daß der Mensch, wo immer er Macht hat und diese auszuüben beginnt, er auch seine Ohnmacht erfährt.

Die Wesenszüge der Arbeit zeigen sich schon im Spiel des Kindes, denn sein Spiel ist ihm nicht der Gegensatz zur Ruhe, sondern das Spiel ist sein Tun, darin es sich selbst und seine ihm eigene Ruhe findet. Aus dem Spiel erst entwickelt sich das urtümliche Bedürfnis des Schaffens und Hervorbringens. Im Wesen der Arbeit wohnt also das Spielerische, und deshalb kann Arbeit auch den Spielcharakter beibehalten, wenn sie getan werden muß. Das wesensmäßige Zusammengehören von Arbeit und Spiel und ihr Abgleiten in eine Mittel-Zweck-Funktion läßt sich noch an einem uns allen sehr naheliegenden Vorgang verdeutlichen, nämlich an der Entwicklung des Sports. Das, was früher noch eine reine Form des Spiels war, hat die gleiche Veränderung erfahren, die wir auch an der Arbeit feststellen. Nicht nur die Entwicklung zum Berufssport ist damit gemeint, sondern die Form, in der wir heute den Sport als Wettkampf sehen. Was für den Schwimmer ein Spiel im Element war, auch dann, wenn er sich im sportlichen Sinne oft selbst überwinden mußte, wird in der heutigen Art des Wettkampfes vielfach nur noch zu einer bloßen Überwindung des Elementes und damit zur Arbeit als Mittel-Zweck-Funktion.

Bei den sogenannten Naturvölkern vollzieht sich die Arbeit häufig in einem großen, Gemeinschaft stiftenden Rhythmus, der mit Gesang und Tanz verbunden ist. Hier gehört die Arbeit zur Daseinserfüllung und geschieht darum in einer freudigen und oft geradezu festlichen Art. Die innere Beziehung zur Arbeit macht den einzelnen nicht klein, sondern hebt sein Selbstbewußtsein, indem er sich dem Ganzen hingibt und Größerem dient. Dies erleben wir in anderer Weise in der Tätigkeit des Künstlers. Beethoven empfand aus seiner Arbeit heraus eine Weise des Glücks, die urmenschliche Erfahrung der Arbeit als schöpferisches Tun. So ist die Arbeit kein Gegensatz zur Muße, wie denn auch die Muße nicht Untätigkeit ist. Die Arbeit ist eine Weise des Wohnens, wenn Wohnen, wie wir sagten, der Grundzug unseres Seins ist. Die Arbeit kann daher auch niemals nur ein Mittel zum Erwerb von Eigentum sein, weil sie ihrem Wesen nach in das Eigentum selbst gehört und damit in das Menschsein überhaupt. Wir arbeiten nicht nur um des Leibes willen, sondern wir arbeiten auch mit dem Leib selbst. Die Arbeit ist die Gestalt des Daseins im Eigentum.

Eigentum als Daseinsform

Hier drängt sich mit aller Schärfe die Frage auf, inwiefern zwischen diesen Gedanken und unserer heutigen industriellen Arbeitswelt überhaupt noch eine Verbindung besteht. Die Frage greift zu weit, wenn sie als eine allgemeine gestellt ist und demnach eine allgemeingültige Antwort erheischt. Sie ist aber zu Recht gestellt an uns und jeden einzelnen, denn Eigentum ereignet sich nur in einem jeweils einzigen Bereich und auf eine jeweils einzigartige Weise. Jeder hat sein Eigentum als das jeweils Seinige. Die Frage bleibt daher bestehen als eine ernsthafte Besinnung auf das Wesen dieser Bezüge. Auch dann, wenn sie uns deutlich gemacht hat, daß sie in den Grund unseres Anliegens weist.

Es wird niemals wirklich die Absicht der industriellen Arbeitswelt sein, etwa Miteigentümer an einer Maschine oder einem Fabrikationsgebäude im rechtlichen Sinne zu sein, sondern sie wird einen echten und berechtigten Anspruch auf eine Arbeitsweise erheben, die ein Wohnen und ein „Bei-sich-selber-sein-Können“ gewährt. Der ursprüngliche Anspruch des Menschen geht niemals darum, ob ihm etwa der Hobel in rechtlichem Sinne gehört, sondern sein eigentliches Anliegen erfüllt sich im Hobeln selbst, das heißt, den Hobel als Hobel, seinem Wesen entsprechend, handhaben zu können. Die Arbeit ist die Gestalt des Daseins im Eigentum. Indem wir allerdings begonnen haben, sie zu rationalisieren, haben wir ihr Wesen verunstaltet und damit uns selbst rationalisiert.

Allen Menschen, auch den scheinbar ärmsten, ist von der Natur das größte und allerdings auch unbedingte Eigentum geschenkt: nämlich die Zeit. Die Art und Weise, wie wir es vermögen, in der Zeit zu sein und damit unser Leben zu erfüllen, ist das „Eigentümliche“, das Grundeigentum des Menschseins. Dem entgegen haben wir in einem tragischen Mißverstehen begonnen, auch die Zeit selbst zu rationalisieren, indem wir sie in die sogenannte Arbeitszeit und Freizeit teilen und noch dazu glauben, damit einen Fortschritt getan zu haben. Einen Fortschritt wohl, aber fort von uns selbst. Schon das sinnlose Wort Freizeit macht uns den unheimlichen Irrtum deutlich. Aber nicht genug damit: sogenannte Funktionäre und Manager sehen die Erfüllung ihrer Tätigkeit darin, für ihre Interessenten um die Verlängerung dieser Freizeit zu kämpfen. Hier liegt die eigentliche Not unserer technischen Welt begründet. Doch wir hören wohl Hölderlins Wort: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Und darum fragen wir erneut: „Was ist Eigentum ?“

Marx sagt in seiner Schrift „Die heilige Familie“:

Das Proletariat vollzieht das Urteil, welches das Privateigentum durch die Erzeugung des Proletariats über sich selbst verhängt, wie es auch das Urteil vollzieht, welches die Lohnarbeit über sich selbst verhängt, indem sie den fremden Reichtum und das eigene Elend erzeugt. Wenn das Proletariat siegt, so ist es dadurch keineswegs zur absoluten Seite der Gesellschaft geworden, denn es siegt nur, indem es sich selbst und sein Gegenteil aufhebt. Alsdann ist ebensowohl das Proletariat wie sein bedingter Gegensatz, das Privateigentum, verschwunden.

Falscher Reichtum, falsche Armut

Wie aber ist es, wenn Eigentum nicht etwa der Ursprung eines sozialen Gegensatzes, sondern der Einsatz des Menschseins schlechthin ist? Dann ist zwar Marx in seiner Erkenntnis bestätigt, nicht aber der Ausblick, den er und seine Jünger zu sehen glaubten. Denn es gibt keine Macht und kein Recht, das jenen Tiefgang haben könnte, das Eigentum in seiner Wesensexistenz zu gefährden — es sei denn das Eigentum und damit das Menschsein selbst. Unser Fragen muß daher tiefer reichen als jene Vorstellungen und Meinungen wie: Eigentum als Mittel zur Herrschaft, Eigentum als Diebstahl, Abschaffung des Eigentums, Eigentum als Besitz, der mit der Sorge um seine Erhaltung und Vermehrung die Freiheit raubt. Dies alles entspräche nur falschem Reichtum wie falscher Armut. Eigentum hat seinem Wesen nach nichts mit arm und reich im sozialen Sinne zu tun, weil es ja in und mit uns anwesend ist.

Von Predigern und Dichtern wird oft über den Segen der Armut gesprochen. Dabei entsteht vielfach die Meinung, als sei Reichtum als solcher etwas Schlechtes. In Wahrheit will solches Aufrufen zur Askese aber nur das Sichfreimachen vom bloßen Besitz, das heißt, von der Verknechtung unter Güter, die einem nicht eigentlich Eigentum geworden sind. Über der Angst um die Sicherung und Vermehrung solchen Besitzes verkümmert dann alles, was das Leben eigentlich reich macht. Dieser Not sind wir alle, auch die Armen, unterworfen, indem gerade sie den Reichen oft ihren leeren Besitz neiden, ihm also genauso verfallen sind wie jene. Weil wir nicht mehr vermögen, im eigentlichen Sinne zu wohnen, haben wir auch vergessen, was das war: ein Palast, ein Park, ein Fest — anderes als Luxus oder Verschwendung im schlechten Sinne. Es ist auch eine ernste Frage, ob die Aufforderung des Christentums, den sogenannten weltlichen Gütern zu entsagen, nicht in vielfach falscher Auslegung großes Unheil angerichtet hat. Denn nicht darum geht es, die irdischen Güter aufzugeben, im Gegenteil, sie sich in der rechten Weise anzueignen. Der Aufruf zur Armut und Askese kann so zu einer Versündigung an der gottgewollten Aufgabe des Menschseins werden.

Eigentum als Ordnungsmacht

Wir sprachen am Anfang von den Bemühungen, die überall unternommen werden, dem Zusammenleben der Menschen auf dieser Erde jene Ordnung zu geben, in der Freiheit und Friede gedeihen können. Und wir fragten uns dabei, ob diese Bemühungen unter Voraussetzungen unternommen werden, die versprechen, dem Wesentlichen näherzukommen. Freiheit und Friede werden freilich nie gedeihen können im Bereich irgendeiner sozialen Bewegung, weil diese ihrem Wesen nach immer die persönliche Wirklichkeit ausschließt. Im Eigentum selbst wohnt die größte Ordnungsmacht überhaupt. Nicht Religion, sondern die Ideologien sind Opium fürs Volk. Deshalb brauchen wir auch keine Ideologie gegen den Osten oder Westen, sondern was uns eigentlich not tut, ist die Besinnung auf uns selbst. Deswegen mußte auch unser Fragen zuerst darauf angelegt sein, uns bewußt zu werden, was Eigentum eigentlich ist. Marx hat die Selbstentfremdung des Menschen kommen sehen; unsere Aufgabe ist es, unser eigenes Wesen wiederzufinden. Hören wir abschließend, was Martin Heidegger in seiner Schrift „Der Feldweg“ sagt:

Das Einfache ist entflohen. Seine stille Kraft ist versiegt. Wohl verringert sich die Zahl derer, die noch das Einfache als ihr erworbenes Eigentum kennen. Aber die Wenigen werden überall die Bleibenden sein. Sie vermögen einst aus der sanften Gewalt des Feldweges die Riesenkräfte der Atomenergie zu überdauern, die sich das menschliche Rechnen erkünstelt und zur Fessel des eigenen Tuns gemacht hat. Der Zuspruch des Feldweges erweckt einen Sinn, der das Freie liebt und auch die Trübsal noch an der günstigsten Stelle überspringt in eine letzte Heiterkeit. Sie wehrt dem Unfug des nur Arbeitens, der, für sich betrieben, allein das Nichtige fördert.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1964
, Seite 599
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Guntram Hämmerle:

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