FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 132
Hermann Mörth

Entfremdete Arbeitswelt

Vor einigen Jahren hat Fritz Klenner mit Intuition und Sachkenntnis in einem Buch, das über Österreich hinaus aufhorchen ließ, das „große Unbehagen“ beschrieben, das die spätkapitalistische Gesellschaft trotz Wohlstand und Wohlfahrt erfaßt hat. Mittlerweile sind wir noch wohlhabender geworden. Trotzdem haben wir das Gefühl, als hätte sich das große Unbehagen gesteigert. Eine mehr fühl- als erfaßbare Vertrauenskrise hat die Gesellschaft ergriffen. Das Unterbewußte, das im Untergrund der Gesellschaft rumort, gilt es bewußt zu machen: Die allgemeine Vertrauenskrise ist nichts als der unartikulierte Protest der Menschen gegen ihre fortschreitende Entmündigung, Verdinglichung und Selbstentfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft.

Da steht ein voll ausgebildeter, relativ gut bezahlter Facharbeiter tagaus, tagein, Woche für Woche und Jahr für Jahr in der lärmerfüllten Halle eines Stahlwerks, hebt mit einem Arbeitskollegen eine 70 Kilogramm schwere Blechplatte hoch, dreht sie nach beiden Seiten, legt sie wieder hin, stemmt die nächste, im Akkord natürlich — täglich einige Tonnen Blech. Materialprüfung nennt sich diese gut bezahlte, aber stumpfsinnige Beschäftigung. Wenn so ein Materialprüfer heimkommt, ist selbst der kräftigste ausgelaugt.

Arbeit als Stumpfsinn

Welche persönliche Beziehung gewinnt der einzelne Arbeiter noch zum hundertfach arbeitsteilig zergliederten Produkt seines Schaffens? Welchen Einfluß kann er auf dessen Entstehung, Verwertung und Verteilung nehmen? Er ist das winzige Schräubchen einer gigantischen Maschinerie. Sein Arbeitsplatz ist bewertet, seine Leistungsfähigkeit ausgeschöpft. Er darf weder sprechen, lachen, noch schimpfen, wenn er seine Norm erfüllen will. Er muß seinen Adam abstreifen, sobald er die Werkshalle betritt. Nicht er beherrscht die Arbeit, sie beherrscht ihn. Er ist ihr Sklave. Er beginnt sie zu hassen. Er hat zunehmend Grund dazu, weil sie ihn seiner menschlichen Würde und Freiheit immer mehr entkleidet. Jeder Handgriff wird beobachtet, gemessen, gestoppt. Sein Bewegungs-, ja sein Atmungsrhythmus wird reguliert und kommandiert. Dabei geht es in Österreich noch verhältnismäßig human zu.

In den USA, in England und in der Bundesrepublik ist der „große Bruder“ immer dabei. In Großbetrieben beobachten Fernsehaugen jeden Seitenblick, Mikrophonohren registrieren jedes Wort. Da sich der Arbeiter bei soviel Entmenschlichung nach menschlichen Beziehungen sehnt, hat man für solche in den Betrieben gesorgt. „Seeleningenieure“ der Unternehmer wenden jede verborgene Falte des Privat-, Familien- und Ehelebens der Arbeiter oder Angestellten, mit deren Zustimmung natürlich. Aber wenn sie nicht zustimmen, verwirken sie eben die Chance, „effektiv“ zu werden und verlieren ihren Platz an „Effektivere“. Ob die naiven Schwärmer, die den amerikanischen Unternehmern die Pflege der „human relations“ empfohlen haben, wohl ahnten, was daraus werden würde?

Der Arbeiter flieht aus seiner Arbeitswelt, sobald er kann. Auch relativ hohe Akkordverdienste können ihn nicht halten. Er flieht nach oben, wird Angestellter, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet. Ich kenne Facharbeiter, die eine Einkommensminderung um 50 und mehr Prozent hinnahmen, um einen Angestelltenposten zu ergattern. Ja, ich kenne welche, die sich mit einem kleinen Ausbildungstaschengeld abfanden, um einen Angestelltenberuf zu erlernen. Dies sind keine Einzelfälle. Eine Untersuchung in Frankreich hat ergeben, „daß nicht weniger als 73 Prozent der Hilfsarbeiter, 78 Prozent der Arbeiter mittlerer Qualifikation und selbst 59 Prozent der hochqualifizierten Arbeiter ihren Beruf wechseln möchten“ (Leo Kofler, Der proletarische Bürger, Europa-Verlag).

Flucht ins Büro

Die Flucht der Arbeiter in das Angestelltendasein erweist sich bald als Flucht in ein anderes Gefängnis. Die Befriedigung dauert nur so lange, bis sie merken, daß sie in der „gehobenen Stellung“ derselben Entpersönlichung unterliegen wie in der Arbeiterwelt. Ihr neu erworbenes Mittelstandsbewußtsein macht anderen Gefühlen Platz, sobald sie innewerden, daß Arbeitsplatzbewertung und Leistungskontrolle ihnen nach „oben“ gefolgt sind. Ihre Situation wurde nur noch drückender durch verschärfte Konkurrenz um bessere Beurteilung von seiten der Vorgesetzten. Die unterbewußt empfundene Schicksalsgemeinschaft mit den Klassengenossen der Arbeiterwelt weicht der bitteren Vereinsamung in einer Masse arbeitsteilig zerfaserter, um den besseren Platz kämpfender Individuen.

Trotz allen Fluchtversuchen fließen die Lebenslinien der Arbeiter und Angestellten als Objekte der geteilten Entfremdung wieder zusammen. Wir können sie als gesellschaftliche Kategorie unter dem Ehrennamen „Arbeiter“ gemeinsam behandeln. Beide sind den Gesetzen eines Wirtschaftssystems unterworfen, das sich ihrer als Mittel zur Kapitalsanhäufung bedient, jede Regung ihres Arbeits- und Privatlebens in den Dienst der Profitgewinnung stellt. Mehr als je gilt heute, was Marx vor einem Jahrhundert schrieb:

Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, weil er sich in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern erzwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um die Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer ... Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird ... Die Arbeit, in welcher der Mensch sich entäußert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung ... Endlich erscheint die Äußerlichkeit der Arbeit für den Arbeiter darin, daß sie ihm nicht gehört, daß er in ihr nicht sich selbst, sondern einem anderen gehört ... Sie ist der Verlust seiner selbst.

Fast hundert Jahre später bekräftigte Albert Einstein: „Die Verstümmelung der Individuen ist meines Erachtens das größte Übel des Kapitalismus.“ In der Götzendämmerung der Gegenwart nannte der deutsche Soziologe Prof. Hans Freyer den Arbeiter den „regulierten, ferngesteuerten Menschen der kapitalistischen Produktionsmaschinerie“.

Doch läßt nicht die verkürzte Arbeitszeit genügend Zeit für ein zweites Leben, ein Doppelleben in der Konsumwelt, auf einem Markt, der alles feilbietet, umsetzt, tauscht und verkauft, was der Arbeiter um das Opfer seiner selbst geschaffen hat? Hier aber fühlt er, daß er der Ausbeutung viel hilfloser ausgesetzt ist als im Betrieb. Hier tritt ihm die totale Preisdiktatur des durch nationale und internationale Kartelle, Konzerne und Preisabsprachen verfestigten Monopolkapitals unerbittlich entgegen. Im Betrieb konnte er durch seine gewerkschaftliche Organisation noch Einfluß darauf nehmen, wieviel er für seine Selbstentäußerung bekommt; auf dem Markt diktiert die Preisspirale. Erkämpfen die Arbeiter mehr Lohn, wird dieser auf dem Markt wieder abgewertet. Gegenüber diesen periodisch wiederholten Manövern fühlen sie sich, trotz allen redlichen Anstrengungen ihrer Organisationen und Körperschaften, ohnmächtig.

Immer noch Reservearmee

In dieser bedrückenden Situation entwickelt die Arbeiterschaft auch heute noch ein, wenn nicht revolutionäres, so doch revolutionsbereites Unterbewußtsein; sie bildet immer noch die stille Reservearmee der sozialen Revolution. Der Kapitalismus fühlt und fürchtet das ebenso unterbewußt. Deshalb bietet er gerade jetzt alle seine Fesselungs-, Betäubungs- und Verführungskünste auf, um den „gedopten“ Riesen seine soziale Situation nicht bewußt werden zu lassen. Er weckt Bedürfnisse für Unnötiges und streckt dafür das Ratengeld vor. Aus der Lohnknechtschaft beim einzelnen Unternehmen verstrickt sich der Arbeiter zunehmend in die Schuldknechtschaft des ganzen Kapitals.

Die raffiniert gelenkte Vergnügungsindustrie gaukelt eine Scheinwelt des leichten Genusses vor. Der Arbeiter verdoppelt seine Anstrengungen, um in dieser Welt ein zweites, von seiner Arbeitswelt geschiedenes, menschliches Leben führen zu können. Er schindet Überstunden und übt vielleicht noch einen zweiten Beruf aus. Er schickt auch seine Frau ins Berufsleben. Dies entfremdet die Gatten voneinander und diese wiederum von den Kindern. Dies wiederum und die daraus resultierende Sehnsucht nach menschlicher Wärme und Liebe fördert die Promiskuität. Aldous Huxley hat in seiner „Schönen neuen Welt“ bloß die gegenwärtigen Ansätze in die Zukunft projiziert. Sexualität ist dort die einzige Entschädigung für totale Entmündigung.

Die von der Schlager-, Fernseh- und Filmproduktion geprägten Leitbilder haben die Frau ab- und die Prostitution aufgewertet. Das „call-girl“, mit etwas Moralinsäure verkitscht, erscheint immer häufiger auf der Filmleinwand und den Bildschirmen. Das ist natürlich nicht nur bewußte Verführung, sondern auch künstlerischer Reflex der gesellschaftlichen Situation der Frau. Sie ist den Lockungen des Konsums, dem konventionellen Diktat der Mode am meisten ausgeliefert. Bedürfnisse und Begierden werden in ihr geweckt, die kein Durchschnittseinkommen befriedigen kann. Es gibt immer mehr besser verdienende, „unverstandene“, d.h. ihren Ehefrauen und sich selbst entfremdete Männer, die bereit sind, für einen illusionären Labetrunk relativ hohe Preise zu bezahlen. Es sind Schicksalsgefährten der allgemeinen Selbstentfremdung, die sich da auf einem von bürgerlichen Zeitungen gefällig inserierten Markt treffen. Was vermögen da alle gut gemeinten moralischen und karitativen Bestrebungen der Kirchen, Schulen und anderer Institutionen?

Mord am Geist

Die fortschreitende Entwürdigung des Menschen hat nicht nur soziale und moralische, sondern medizinische Konsequenzen. Sie spaltet in zunehmendem Maße das Bewußtsein. Wie einer Statistik der Deutschen Sozialversicherungsanstalt von Mitte August 1964 zu entnehmen ist, waren 11,4 Prozent der im Jahre 1962 erfaßten Erkrankungen von sechs Millionen Versicherten in der Bundesrepublik Geisteskrankheiten. Es ist schlimmer gekommen, als Marx und Engels im Kommunistischen Manifest wissen konnten: „Die Bourgeoisie hat ... kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung ... sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst.“ Gegenwärtig haben wir ein Stadium erreicht, das von dem Sozialpsychologen Igor A. Caruso („Soziale Aspekte der Psychoanalyse“) mit dem Satz beschrieben wird: „Jede Entfremdung kommt einem Mord am Menschen gleich, weil sie den Menschen entmenschlicht, verdinglicht.“

Zieht man den Kreis der Krise weiter: bedenkt man, daß den Menschen die wachsende Staatsgewalt und Bürokratie unheimlich, die Justiz bedrohlich, die Religion gleichgültig, die moralischen Hemmungen lästig und selbst die Wohlfahrt problematisch wurde; bedenkt man ferner, daß die älteste und am tiefsten verwurzelte Klasse unserer Gesellschaft, das Bauerntum, infolge Kommerzialisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft und infolge der Lockungen des „süßen Lebens“ in der Stadt dezimiert wird; bedenkt man ferner die Verknechtung und Verdrängung des gewerblichen und kaufmännischen Mittelstandes durch das Großkapital — dann stehen wir erst vor dem gesamten vielschichtigen Konfliktkomplex, der, unerkannt und ungemeistert, sich in eine gewaltige Eruption auflösen kann. Die Künstler sind die einzigen, die diese vorrevolutionäre Situation intuitiv erfaßt haben. Sie verzerren und zerstören Formen, Harmonie und Symmetrie. Sie reflektieren längst schon, was sich in der Gesellschaft erst anbahnt. Im gegenwärtigen Zeitalter steht der Mensch einer zweifachen Todesdrohung gegenüber: die Spaltung des Atomkerns bedroht seine physische, die Spaltung seines Wesenskerns seine geistige Existenz. Nach wie vor sind alle geistigen Mächte aufgerufen, dem jungen Marx Genüge zu tun, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1964
, Seite 603
Autor/inn/en:

Hermann Mörth: Redakteur des Linzer „Tagblattes“, gehörte als Autor der „Zukunft“ und des FORVM zu den profiliertesten sozialistischen Publizisten Österreichs.

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