MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 57
Christine Weber-Herfort
KZ Neuengamme:

Dokumente des realexisierenden Kapitalzynismus

Der Hamburger Mäzen Jan Philipp Reemtsma hat die Unternehmen, die vom KZ Neuengamme, südöstlich von Hamburg, profitierten, angesprochen und um die Unterstützung bei der Neugestaltung der Gedenkstätte auf dem ehemaligen KZ-Gelände gebeten. Die Antworten der Herren aus Industrie und Politik wurden in einer Wanderausstellung präsentiert.

Zwangsarbeiterinnen beim Bau des Diestel-Kais
Bild: leinen los/Landeszentrale f. polit. Bildung Hamburg
Zwangsarbeiterinnen beim Steineklopfen
Bild: leinen los/Landeszentrale f. polit. Bildung Hamburg

Am 31. August 1938 wurde vor einem Hamburger Notar der Kauf eines Grundstückes in Neuengamme, südöstlich vor der Stadt gelegen, abgeschlossen. Erwerber des Grundstückes war die SS. Sie errichtete auf ihm ein Außenlager des KZs Sachsenhausen, ab 1940 firmierte es als selbständiges KZ Neuengamme. Bis Kriegsende wurden dort und in den 78 Außenlagern in und um Hamburg 106.000 Menschen inhaftiert, 55.000 erlebten den Tag ihrer Befreiung nicht mehr.

Sie wurden erschossen, gehenkt, vergast, totgeschlagen, für medizinische Experimente mißbraucht, viviseziert, durch Benzin- und Phenol-Injektionen ermordet. Die meisten jedoch starben an Entkräftung. In den Todeslisten steht: Herzmuskelschwäche, Lungenentzündung, Durchfall, Diphterie. Sie waren 20, 25 oder 45 Jahre alt. Sie kamen aus Katowice und Leningrad, aus Kopenhagen und Budapest. Sie hießen Stefan Szynkaruk, Maria Opice oder Arne Jul Hanson. Hier in Neuengamme waren sie Sklaven. Für „Rheinmetall“, für die Werft „Blohm und Voß“, für „Philips“ oder „Continental“. Etwa zehn Firmen und auch die Städte Hamburg, Bremen und Kiel bedienten sich des Menschenmaterials.

Das KZ-Gelände ist heute in einem denkwürdigen Zustand: Ein Teil wurde und wird als Gefängnis (!) genutzt, viele Gebäude stehen leer. Es gibt ein bescheidenes Dokumentationszentrum. Seit 1984 stehen die nicht als Strafanstalt genutzten Gebäude unter Denkmalschutz. Aber ein Gesamtkonzept für die Nutzung der Mahn- und Gedenkstätte wurde bisher nicht realisiert.

Jan Philipp Reemtsma, Sohn des Nazi-Finanziers und Zigarettenfabrikanten Philipp Reemtsma, verwendet sein Erbe für ungewöhnliche Zwecke, er organisiert und finanziert Stiftungen, wissenschaftliche Institute, die sich mit Geschichte und Zeitgeschichte, insbesondere dem Faschismus beschäftigen. 1988 legte er der Hamburger Wirtschaft und dem Senat folgenden Plan vor: Mit Spenden der privaten Wirtschaft sollte die heruntergekommene Gedenkstätte Neuengamme zum Ort der Forschung und Dokumentation gemacht werden. Drei Millionen wurden veranschlagt. Reemtsma wandte sich an 31 Firmen und Behörden, die im Faschismus Zwangsarbeiter aus dem KZ Neuengamme für sich schuften ließen.

Kein Handlungsbedarf

Die Antworten der Herren aus den Chefetagen von Industrie und Politik sind Dokumente des realexistierenden Kapitalzynismus. Die Schriftstücke und die Antworten oder Nachfragen von Reemtsma werden in der Wanderaustellung „In Erinnerung an Neuengamme — Industrie, Behörden und Konzentrationslager 1938-1945“ gezeigt. Hier einige Beispiele aus der gesammelten Ignoranz, die auch Gradmesser für gesellschaftliches Bewußtsein ist:

„Was den Handlungsbedarf angeht, muß ich mich als die falsche Adresse ansehen“ — scheibt der Wirtschaftssenator Hamburgs, Wilhelm Rahlfs. Aus der Sicht seiner Behörde könne er keinen Beitrag zur Finanzierung leisten.

Ewald Gondznik — zum Beispiel — hat zwei Jahre für genau diese Verwaltung Sklavendienst geleistet beim Bau eines Kanals in die Elbe. „Von sieben Uhr früh bis fünf Uhr abends, mit nur einer halben Stunde Mittagspause, wurde im Laufschritt gearbeitet ... Aus einem breiten verschlammten Wassergraben wurde ein befahrbarer Kanal ... Für das schnelle Tempo der Arbeit hatten schon der Kommandoführer, die SS ... mit Knüppeln gesorgt. Beim Rückmarsch ins Lager schleppten die Häftlinge täglich Tote und Schwerkranke, deren Zahl bei ungünstigem Wetter 20 bis 30 erreichte ... .“

Der Inhaber der „Jastram“-Motorenfabrik schiebt die Verantwortung auf die Kulturbehörde, die für die „Aufarbeitung unserer tragischen Vergangenheit Sorge zu tragen“ habe. Herr Dipl. Ing. P. Jastram will noch nicht einmal einen symbolischen Betrag überweisen.

„Wenn ich einen symbolischen Betrag zahlen würde, würde ich damit ... symbolisch eine Verpflichtung akzeptieren. Die will ich aber nicht gelten lassen.“

Der KZ-Häftling Jan H. van Bork schildert seine Erfahrungen mit „Jastram“: „Vom April 1942 bis Kriegsende, 29. April 1945, war auf dem Terrain des Konzentrationslagers Neuengamme eine Abteilung der Motorenfabrik ‚Jastram‘ errichtet. Nach einem Jahr standen vier Fabrikhallen ... Überholen von Motoren, Umbau von Motoren von Dieselöl auf die Benutzung von Holzgas, Bau von Holzgeneratoren, Bau von Schnellbooten ... die SS hatte die Gewohnheit, in der Fabrik herumzulaufen. Und wenn jemand Stillstand, schlugen sie drauflos.“

In besonderer Weise profitierte die Firma DEGESCH — Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m.b.H., 1936 mehrheitlich im Besitz der Konzerne „Degussa“ und „IG Farben“. Als Alleinherstellerin von Zyklon B lieferte sie das Gift für die Massenvernichtung in Auschwitz-Birkenau. Auch in Neuengamme wurde Zyklon B verkauft. 1942 180 Kilo, die zur Entlausung und zur Massentötung gebraucht wurden. Ende 1942 wurden bei zwei Aktionen 448 sowjetische Kriegsgefangene im Arrestbunker mit Zyklon B ermordet. Die Firma DEGESCH schweigt auf die Anfrage nach Beteiligung an einer Neugestaltung ihrer alten Wirkungsstätte, wie im übrigen die Mehrzahl der angeschriebenen Firmen.

Nur drei Firmen stellten Spenden in Aussicht: die „Volkswagen AG“, die Hamburger Elektrizitätswerke und das „Drägawerk“, das im Zweiten Weltkrieg gut an der Gasmaskenproduktion verdiente.

Die „Krupp GmbH“ teilt freundlich mit, daß sie das Konzept für die Erneuerung der Gedenkstätte Neuengamme für „durchaus bedenkenswert“ halte. Zu bedenken gibt sie aber, daß „die Firma Krupp bereits im Jahre 1959 als erstes deutsches Großunternehmen einen für damalige Zeiten sehr namhaften Betrag zur Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus“ zur Verfügung gestellt habe. Es war in der Tat ein namhafter Betrag.

1959 betrug das Vermögen des Großunternehmers eine Milliarde Dollar; nachdem es ihm ursprünglich vom Nürnberger Gerichtshof wegen der Kriegsverbrechen abgenommen worden war, wurde es ihm 1959 wieder zurückgeschenkt. Von seinen 1.000.000.000 Dollar spendierte er nicht ganz freiwillig US-$ 10.000.000. Ein Hundertstel also.

Nur wer nachweisen konnte, daß er im Sinne der Nürnberger Rassegesetze Jude oder Halbjude war, bekam 1959 ein Almosen für jahrelange mörderische Zwangsarbeit für „Krupp“. Keiner mehr als 3.300 Mark. Bei der Almosenverteilung durch „Krupp“ gingen nichtjüdische Zwangsarbeiter leer aus. Oder doch nicht ganz. Sie erhielten einen Brief, der zum Antisemitismus animierte: „... müssen wir Ihnen mitteilen, daß in Anbetracht der erheblichen Belastungen betreffs der jüdischen KZ-Häftlinge wir uns bedauerlicherweise nicht in der Lage sehen, weitere Gelder zu erübrigen. Wir bitten um Verständnis.“ Darum bittet der „Krupp“-Konzern noch immer. „Nach unserem Verständnis ist die Errichtung und Erhaltung von Gedenkstätten ... eine öffentliche Aufgabe“, heißt es in dem Brief an Reemtsma.

‚Biologische Lösung‘ für die Verfolgten

Warum sollte die Industrie auch für die Errichtung einer Gedenkstätte zahlen, wo sie sich doch schon seit Ende des Krieges erfolgreich gewehrt hat, überhaupt etwas für die Arbeit der sieben Millionen Sklaven zu bezahlen. Allein aus Polen haben sie drei Millionen Menschen verschleppt und der Vernichtung durch Arbeit’, wie es im Nazi- Jargon hieß, zugeführt. 800.000 Menschen leben noch. Sie waren Zwangsarbeiter 2. Klasse, denn die ‚Rassentheorie‘ wendeten die Faschisten sogar auf die Sklaven an. Zwangsarbeiter aus dem westlichen Ausland gehörten zur ‚artverwandten Bevölkerung‘, Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion waren ‚artfremd‘. Das ging so weit, daß Westarbeiter zum Teil im Sarg, Ost-Zwangsarbeiter aber immer in Ölpapier in die Grube geworfen wurden.

Nun ist es ja nicht so, daß die Bundesrepublik keine Entschädigung für durch Nazis erlittenes Unrecht gezahlt hätten. Es gibt ein Entschädigungsgesetz, das allerdings auf Zwangsarbeiter nicht zutrifft und ebenso aktive KommunistInnen ausgrenzt. In anderen Fällen war man allerdings nicht so knausrig. Der ehemalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier erhielt z.B. 1965 eine Entschädigung von 280.000 Mark für eine durch die Nazis verhinderte — und später nachgeholte — Professur. Oder Franz Schlegelberger, ab 1941 Reichsjustizminister, im Nürnberger Prozeß zu lebenslanger Haft verurteilt. Er war 1951 schon wieder frei, erhielt eine Pensionsnachzahlung von 160.000 Mark und eine Monatspension von 2.994 Mark. Oder der KZ-Arzt Dr. Eisele in Buchenwald. Er wurde zunächst zum Tode verurteilt, 1952 begnadigt. Er erhielt 3.000 Mark Spätheimkehrerhilfe und 25.000 Mark Existenzaufbauhilfe sowie die Zulassung als Kassenarzt. Und während die Verfolger oft in Amt und Würden blieben, die Kapitalisten von damals die Kapitalisten von heute sind, wartet man bei den Verfolgten auf die ‚biologische Lösung‘, denn bald wird keiner mehr da sein, der noch eine Entschädigung verlangen kann.

Er habe, sagte Philipp Reemtsma, schon mit Ausreden, Lügen und Heuchelei gerechnet, als er an die Unternehmen die Briefe mit der Bitte um Unterstützung der Neugestaltung der Gedenkstätte Neuengamme schrieb. Erschüttert habe ihn der moralische Konkurs, denn, „den Aufwand der Lüge hält kaum einer für nötig, die Anstrengung der Heuchelei kommt aus der Mode, die Selbstdisziplin des Verschweigens ist ... verlernt“.

Ein Volk, so sagte es einmal Franz Josef Strauß, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, habe ein Recht, von Auschwitz nichts mehr zu hören. Die wirklich Mächtigen im (in diesem unserem) Lande handeln längst danach.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1990
, Seite 58
Autor/inn/en:

Christine Weber-Herfort:

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