FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1973 » No. 235/236
Ernest Mandel

Die Welt ohne Dollar

1 Konzerne beherrschen Währung

Vom währungstechnischen Gesichtspunkt sind die Ursachen für die Dollarkrise leicht zu finden. Die multinationalen Konzerne außerhalb der USA (von denen die meisten unter amerikanischer Kontrolle stehen) haben flüssige oder zumindest teilweise flüssige Dollarbestände von 50 bis 60 Milliarden US-Dollar. Sie halten diese flüssigen Gelder natürlich nur solange in Dollarform, als nicht die Gefahr besteht, daß sie durch Wechselkursänderungen Verluste erleiden. Seit 1971 (de facto eigentlich schon seit 1968) sind diese Dollarbeträge bei der amerikanischen Zentralbank nicht mehr gegen Gold konvertierbar. Die Zentralbanken der anderen kapitalistischen Länder kaufen diese Dollar nur innerhalb bestimmter Grenzen. Dadurch genügt es schon, wenn nur 2 bis 3 Milliarden dieser mehr als 50 Milliarden flüssigen US-Dollar innerhalb kurzer Zeit auf den Währungsmarkt gelangen, um das System der festen Wechselkurse zusammenbrechen zu lassen. Genau diese Situation war in letzter Zeit öfters eingetreten, und sie wird sich auch in Zukunft öfter ergeben.

Die Kapitalisten wären nur dann bereit ihre flüssigen Geldvermögen weiterhin in Dollarform zu halten, wenn zumindest eine von zwei Voraussetzungen gegeben wäre: die Konvertibilität des Dollars in Gold müßte wiederhergestellt werden (bzw. in eine andere entsprechende Wertform); oder der amerikanische Imperialismus müßte seine Überlegenheit gegenüber den anderen imperialistischen Staaten im Außenhandel wiederherstellen.

Der Dollar wäre wieder das natürliche Zahlungsmittel für amerikanische Waren, die denen aus anderen Ländern überlegen sind. Keine dieser beiden Voraussetzungen kann aber erfüllt werden. Das Bestehen des amerikanischen Außenhandelsdefizits auch nach der ersten Dollarabwertung beweist es. Die Krise, in der sich das Weltwährungssystem befindet, wird sich weiter vertiefen.

Damit bestätigt sich eines der Marxschen Gesetze — mehr als ein Jahrhundert nachdem es aufgestellt wurde: nicht konvertierbares Papiergeld kann fixierte Wechselkurse über die Grenzen seines Landes unmöglich aufrechterhalten. Die zweite Dollarkrise zeigt drastisch, wie sehr die USA ihre Hegemonie in der kapitalistischen Welt eingebüßt haben, wie weit damit auch die große internationale kapitalistische Autorität verlorengegangen ist, und mit welcher Härte die interimperialistische Konkurrenz geführt wird.

2 Währungskrise statt Arbeitslose

Die Unmengen von Papierdollars, welche die kapitalistische Welt in den letzten drei Jahren überschwemmten, fielen nicht vom Himmel. Sie waren weder das Produkt „technischer“ Fehlentscheidungen der Washingtoner Finanzbehörden, noch waren sie das Ergebnis eines Plans, um den europäischen und japanischen Handel zu treffen, oder der Ausfluß eines EWG-Protektionismus. Sie sind vielmehr das Produkt der Kreditinflation und des Budgetdefizits, zu dem die Nixon-Administration Zuflucht nehmen mußte, um die Rezession 1969-1971 zu überwinden. Um diese Tatsache zu verstehen, muß zunächst das Bild des Kapitalismus, das dieser von sich selbst zeichnet, zurechtgerückt und müssen die unauflöslichen Widersprüche, in denen das internationale kapitalistische System gefangen ist, aufgezeigt werden.

Würden die USA versuchen, das während der Jahre 1969, 1970 und 1971 entstandene Zahlungsbilanzdefizit plötzlich auszugleichen, so müßte aus der Rezession eine stattliche Überproduktionskrise entstehen. Die Folge wären 10 bis 12 Millionen Arbeitslose im Gegensatz zu den 5 bis 6 Millionen, die es derzeit in den USA gibt. Das würde aber auch für die übrige kapitalistische Welt eine schwere wirtschaftliche Krise bedeuten. Die Aufgabe des Systems fester Wechselkurse ist der Preis, der dafür bezahlt wird, diese ökonomische und soziale Krise zunächst abzuwenden.

Die amerikanische Bourgeoisie und ihre Ideologen stehen der ganzen Situation hilflos gegenüber. Wenn die Bourgeoisie heute von einer Limitierung der jährlichen Geldzuwachsrate (Kreditvolumen) auf 5 Prozent spricht (gegenüber den 10 Prozent seit seit 1969), so deshalb, weil sie weiß, daß jede höhere Rate eine neue Rezession hervorrufen würde. Die einzige Hoffnung ist, wie es Burns und Friedemann ausdrückten, daß die nächste Rezession eine „Minirezession“ bleiben werde. Wir werden sehen, wieweit dieser Wunsch in Erfüllung gehen wird.

Das Dilemma, in dem sich die europäischen und japanischen Kapitalisten befinden, ist aber nicht kleiner als das, in dem sich ihre amerikanischen Kollegen befinden. Sie können zwar von Washington die Rückkehr zu einer „orthodoxeren“ Währungspolitik verlangen. Ihr Druck ist auch zweifellos dafür verantwortlich, daß sich Nixon zu den Budgetkürzungen (auf Kosten der Arbeiterklasse und der Armen) entschloß. Sie können sich z.B. weigern, die Stützung des Dollars aufrechtzuerhalten (was die Schweizer Bank am Vorabend der ersten Dollarabwertung tat, und wozu die Westdeutsche Bank sich anschickte, wodurch die zweite Dollarabwertung beschleunigt wurde). Setzen sie aber solche Maßnahmen, dann gehen sie vor allem aus zwei Gründen selbst ein großes Risiko ein. Erstens weil jede schwere wirtschaftliche oder soziale Krise in den Vereinigten Staaten — nach wie vor die Hauptfestung des internationalen Imperialismus — schwere Rückwirkungen auf alle anderen Teile dieses Systems haben müßte. Schließlich ist der Markt, den die USA selbst darstellen, ein Schlüsselsektor des Weltmarktes für alle anderen kapitalistischen Staaten.

3 US-Industrie gegen US-Banken

Unterstützen andere Länder die Tendenz zur Abwertung des Dollars, so unterstützen sie damit die Entwertung eines nicht unbeträchtlichen Teils des eigenen Vermögens. Denn namhafte Mengen der flüssigen Dollarmilliarden befinden sich in den Händen europäischer und japanischer Kapitalisten. Diese Dollar verlieren ebenso an Wert, wenn der Dollar fällt. So ist es das Schicksal der anderen kapitalistischen Länder, in jedem Fall Einbußen in Kauf nehmen zu müssen, wie auch immer die Entscheidungen getroffen werden.

Das gilt auch im Hinblick auf den Welthandel. Auf beiden Seiten des Atlantiks konzentrierten sich die ersten Kommentare über die Konsequenzen der zweiten Dollarabwertung sofort auf ihre Auswirkungen am Weltmarkt. Während man in New York über die Verbilligung und damit Erleichterung der eigenen Exporte und Verteuerung der Importe erfreut war, fürchtete man in Düsseldorf und Tokio Verluste durch die Erschwernis der Exporte. Es darf aber nicht übersehen werden, daß all diese Kommentare überspitzt und teilweise unpräzise sind. Der Weltmarkt ist nicht in dem Maße monopolisiert, wie es die einzelnen nationalen Märkte sind. Die Preise sind auf dem Weltmarkt nicht so bruchlos unter der Kontrolle der großen Trusts. Eine Änderung der Wechselkurse schlägt sich deshalb nicht automatisch in gleichem Ausmaß in den Preisen nieder. Außerdem paßt sich die Nachfrage neuen Bedingungen nicht so rasch an; die einzelnen Produkte sind nicht so leicht gegeneinander austauschbar wie auf einem nationalen Markt.

Das bedeutet, daß die europäischen und japanischen Exporte in die USA nicht in demselben Maße abnehmen werden, wie es der Abwertung des Dollars entspricht, entsprechend werden die Exporte der USA nach Japan und Europa nicht in dem Ausmaß zunehmen, die Lebenshaltungskosten in den USA müssen durch die Verteuerung der Importwaren steigen, und die Expansion des Welthandels wird fallen. Die Gewinne, die die US-Industrie erwartet, werden nicht im Umfang eintreffen (was sich auch bereits nach der ersten Dollarabwertung zeigte).

Außerdem darf nicht vergessen werden, daß die europäischen und japanische Zentralbanken die in ihrem Besitz befindlichen Dollars nicht horten, sondern darum US-Schatzanweisungen kaufen. Daraus ergibt sich als eine der Konsequenzen des Dollarzustroms nach Europa (und der Abwertung), daß der Anteil des von amerikanischen Arbeitern geschaffenen Mehrwerts, den sich europäische Kapitalisten aneignen, steigt. In diesem Sinne bedeutet die Abwertung, die zunächst als „Triumph“ Washingtons gefeiert wurde, eigentlich eine Verschlechterung der Position des US-Kapitals und keine Stärkung. Was die Dollarabwertung für amerikanische Industrie an Vorteilen und für die deutsche Industrie an Nachteilen bringt, das bringt sie für das amerikanische Finanzkapital an Nachteilen und für das deutsche und japanische Finanzkapital an Vorteilen. Das amerikanische Finanzkapital muß nun höhere Dollarbeträge bezahlen, um in Europa Firmen zu kaufen, dagegen können europäische und japanische Finanzkreise Fabriken in den USA schon um niedrige Beträge ihrer Währungen erhalten. Auch in diesem Sinne haben die amerikanischen Imperialisten also keinen Grund, über die Dollarabwertung glücklich zu sein.

4 Großstaat „Europa“ kommt nicht zustande

Es gelang dem amerikanischen Imperialismus dennoch, einige Punkte gegenüber der europäischen Konkurrenz gutzumachen. Doch diese Erfolge liegen nicht so sehr auf dem Gebiet des Handels, als vielmehr darin, die Bemühungen der europäischen imperialistischen Länder, ihre Kräfte durch Stärkung der europäischen Integration zu vereinheitlichen, wesentlich zu erschweren.

Um eine solche gegenseitige Durchdringung der Kapitalien zu erreichen, daß diese imstande wären, Unternehmungen vom Umfang der großen amerikanischen Trusts zu bilden, müßte die europäische Bourgeoisie einen europäischen „Superstaat“ mit eigener Währung, eigener Industriepolitik und einer eigenen, unabhängigen nuklearen Streitmacht bilden. In Anbetracht der verschiedenen Ausgangsbedingungen und der Interessensdifferenzen der einzelnen nationalen Bourgeoisien, können diese nur Schritt für Schritt versuchen, eine solche Vereinheitlichung durchzuführen. Die Gründung der EWG war als erster Schritt gedacht. Die Vereinheitlichung des Währungssystems bis 1980 sollte der zweite entscheidende Schritt werden.

Der Zusammenbruch des internationalen Währungssystems traf die nationalen Bourgeoisien zu einem Zeitpunkt, als die wirtschaftliche und soziale Situation in den einzelnen Ländern äußerst unterschiedlich war. Zwei der vier großen EWG-Länder, nämlich Großbritannien und Italien, befinden sich gerade in einer sehr schwierigen wirtschaftlichen Situation, die durch außergewöhnlich heftige Klassenkämpfe gekennzeichnet ist. Die Bourgeoisien dieser beiden Länder konnten einer gemeinsamen europäischen Lösung zur Dollarkrise nicht zustimmen. Sie floateten ihre Währungen nicht nur gegenüber dem Dollar, sondern auch gegenüber den anderen europäischen Währungen. So fielen beim ersten Windstoß die Hoffnung auf eine Währungsunion, die Basis für einen europäischen „Superstaat“, zusammen. Damit hat die Dollarabwertung und in der Folge die Versuche der USA, das Concorde-Projekt zu Fall zu bringen (welches der europäischen Luftfahrtindustrie einen Vorsprung für Jahrzehnte gegenüber den USA verschafft hätte), den Integrationsbestrebungen in Europa schwere Schläge versetzt.

5 Kapitalisten können nicht mehr steuern

Der amerikanische Imperialismus versucht, die Hauptwidersprüche, die sich aus dem Fall der Profitrate in den USA ergeben, auf die europäischen und japanischen Kapitalisten überzuwälzen. Die europäische und japanische Kapitalistenklasse schiebt die damit verbundenen Opfer über Lohnstopp, Lohnabkommen, Einkommenspolitik, Rationalisierung usw. auf ihre Arbeiterklasse ab.

Im britischen „Economist“ wurden vor einiger Zeit zwei einander widersprechende Artikel publiziert. Der eine befaßte sich mit den Arbeiterkämpfen gegen die Einkommenspolitik der Regierung Heath, der andere mit der internationalen Spekulation. Im zweiten Artikel wurde erklärt, daß keine politische Entscheidung die Marktgesetze aufheben und die schwankenden Wechselkurse fixieren könne. Ein Regierungsdekret, das darauf abziele, würde den Marktgesetzen zuwiderlaufen und wäre nicht mehr wert als ein Fetzen Papier. Im ersten Artikel hingegen werden laute moralische Töne gegen die britischen Gewerkschaften angeschlagen, die es gewagt hatten, gegen das Lohnstoppgesetz der Regierung zu kämpfen; sie hätten versucht, „die Marktgesetze zum eigenen Vorteil auszunützen“, was ein Angriff auf Parlamentarismus, Demokratie und Menschenwürde sei. Mit anderen Worten: die Arbeiterklasse muß vor Regierungsmaßnahmen zu Kreuze kriechen; die Spekulanten haben das Recht, die Marktgesetze zu ihrem Profitzu nützen.

Hinter dieser Heuchelei liegt jedoch ein objektiver Widerspruch, auf den die Aufmerksamkeit gerichtet werden muß. Diese hervorragenden „Spekulanten“, die den Dollar in seine Krise stürzten, sind nicht irgendwelche obskuren Figuren der Unterwelt. Es sind die multinationalen Konzerne, es sind die honorigen Spitzen von Industrie, Bank und Handel aller imperialistischen Länder — unter Führung der amerikanischen Kapitalisten. Diese Persönlichkeiten stehen heute in ihrer Funktion immer mehr außerhalb der Einflußmöglichkeiten der Regierungen. Aber gerade heute würden sie mehr Hilfe durch Regierungen benötigen, als je zuvor. Die Rezession 1969 erinnerte sie wieder nachdrücklich an die Tatsache, daß sie, wie hoch auch immer ihre Profite heute sein mögen, von einer schweren Rezession in den imperialistischen Ländern sehr rasch an den Rand des Ruins gebracht werden können.

Bürgerliche Regierungen, die die multinationalen Konzerne immer weniger unter Kontrolle halten können, während diese Konzerne mehr und mehr, in ziemlich periodischen Abständen, die Unterstützung durch eben diese Regierungen benötigen; eine Inflation, die beschleunigt werden muß, um die anwachsenden Rezessionserscheinungen zurückzudrängen, die damit aber gleichzeitig das Weltwährungssystem sprengt und die Expansion des Welthandels hemmt; wachsende interimperialistische Konkurrenz zu einem Zeitpunkt, da die Schaffung eines neuen Weltwährungssystems den größten internationalen Zusammenhang der Bourgeoisie erfordern würde; die Notwendigkeit, die Arbeiterklasse zu „disziplinieren“ und die Unmöglichkeit, ihre andauernd steigende Kampfkraft zu brechen — das sind die neuen Widersprüche, die heute zu den klassischen des kapitalistischen Systems dazukommen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1973
, Seite 10
Autor/inn/en:

Ernest Mandel:

Nationalökonom, u.a. Autor einer zweibändigen marxistischen Wirtschaftstheorie, Mitglied der IV. Internationale (Trotzkisten), Chefredakteur von „La Gauche“, Brüssel.

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