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Ludwig Marcuse

Die Welt hat wenig gelernt

Selten merkt eine Epoche, welchen Fortschritt sie nicht gemacht hat. An Freuds fünfundzwanzigstem Todestag wird mancher Heitere den Haß, den Freud hervorgerufen hat, als viktorianisch belächeln. Das Kopfschütteln über vergangene Torheiten verhindert nicht selten den Kopf, über die gegenwärtigen nachzudenken.

Vielleicht hat weder vor noch nach ihm ein einzelner so mächtig das Odium sexualis zur Selbstdarstellung provoziert. Es gab großartige Szenen. Der Geheime Medizinalrat Weygandt schlug während eines wissenschaftlichen Kongresses auf ein hamburgisches Pult: Freuds Theorien gingen die Wissenschaft nichts an, sie seien Angelegenheit der Polizei; seine Behandlung sei so etwas wie Massage der Geschlechtsorgane.

Ernest Jones, der Getreue und Zuversichtliche, ließ sich täuschen, als man zwar immer noch dasselbe meinte, aber in den oberen Regionen statt dessen „Unwissenschaftlichkeit“ sagte. Jones glaubte, in den letzten fünfzig Jahren habe wirklich eine große „Verschiebung der Anstandsbegriffe“ stattgefunden — und zwar weitgehend als Ergebnis des Freud’schen Werks.

Viele denken wie Jones. Sie lassen sich von den Badeanzügen der Zeit ablenken. Aber diese verdecken doch nur, daß der Ernst des Lebens nach wie vor hochgeschlossen stolziert: entweder wird der Fortschritt in seiner ganzen Strenge auf den Sexus angewandt (während Freud noch wußte, daß dessen Haupteigenschaft darin besteht, über die Stränge zu schlagen) oder alles wird mit allem versöhnt. Seelen-Heilkunde wird zur Seelenheil-Kunde; Tiefenpsychologie zur Tiefentheologie. Freud wird eingeebnet. Etwa mit dem Satz E. Eduardo Krafts (1956): „Das Ziel von Psychoanalyse und Religion ist das Wohlsein des Menschen.“ So daß es keinen Unterschied macht, ob man das Abendmahl nimmt oder „Die Zukunft einer Illusion“ liest?

Die Flut, von der Physik und Theologie überschwemmt werden, eine gewaltige Verwässerung, sollte man nach dem stärksten Anprall die Teilhard-de-Chardin-Welle nennen. Sie begräbt auch das Odium sexualis. Jung begann damit, als er (wie Freud erkannte) „alle Perversitäten für heilige Orakel und Mysterien ausgeben und in jede verkorkste Seele einen kleinen Apollo und Christus einschmuggeln“ wollte.

Freud ist weniger mißverstanden als allzu gut verstanden worden. Was bleibt vom Odium sexualis, das Freud der Welt beschert hat? Alles, aber besser eingewickelt.

Utopist ohne Flügel

Man liest viele tausend Seiten eines Autors, und plötzlich sind da ein paar Worte, aus denen der innerste Kern leuchtet. In keinem der vielen Briefe, in denen Freud sich unmittelbar porträtierte, war er so da wie in der Exegese der zwielichtigen „Sublimierung“, in welcher es heißt: „... wobei wir uns der allgemeinen Schätzung fügen, welche soziale Ziele höher stellt als die im Grunde selbstsüchtigen sexuellen“.

In diesem „Sich-fügen“ ist auch der Protest angemeldet, das Aufblicken zur „selbstsüchtigen“ Lust. Man hat von Freuds „Unbehagen in der motorisierten Kultur“ gesprochen; er aber wußte, daß man sich auch in der noch nicht motorisierten fügte. Er war aufrührerisch im Lust-Bekenntnis, und er war kleinlaut, indem er die herabgesetzte Lust als Kompromiß wählte. Er war einer der größten Jünger des Epikur.

Man sollte Freud nur zögernd einen Aufklärer nennen. Er war sowohl umstürzlerischer als auch skeptischer. Utopisten fliegen. Freud hatte keinen Pegasus und auch sonst keine Flügel; er ging zähe Schritt für Schritt vorwärts. Er pries Marx und glaubte nicht an ein letztes Gefecht.

Er war alles eher als ein Kreuzzügler. Er war nicht einmal eigensinnig, wie ihm nachgesagt wird; bisweilen verfolgte er eine Mine, die er gefunden hatte, über ihr Ende hinaus. Man sollte eine Sammlung erscheinen lassen, in der alle seine Einschränkungen zu den massivsten Freud-Zitaten vereinigt sind, vor allem was „Pansexualismus“ und Atheismus betrifft; worin auch erzählt wird, welche Kompromisse er mit den zentrifugalen Kräften seines Kreises eingegangen ist.

Die Legende macht ihn zu einem Tyrannen im Alpacca-Jäckchen; er hatte nur einen sehr guten Instinkt für Auswüchse, die bösartig waren. Wie gut er mit Andersdenkenden auskommen konnte, zeigt seine lebenslängliche Freundschaft mit Ludwig Binswanger, der nie zu demonstrieren unterließ, wo ihre Wege sich trennten; auch die Korrespondenz mit dem Schweizer Pfarrer Pfister, ein dreißigjähriger Dialog, in dem ein generöser Lehrer und ein dankbarer Schüler unnachgiebig einander bekehren wollen; auch das Rundschreiben, das den Streit um Rank dämpfen sollte. Freud verwahrt sich gegen „die Aufgabe eines immer wachsamen despotischen Zensors. Ich erwarte nicht von Ihnen, daß Sie in einer Richtung wirken, die mir angenehm ist, sondern in einer Weise, die Ihren eigenen Beobachtungen und Ideen entspricht.“

Die vielen Briefe, die Freud schrieb, sind mehr als die „Selbstdarstellung“: die Darstellung seines Selbst; nur zum geringeren Teil sind sie Fußnoten zum Werk. Von den pädagogischen Liebesbriefen an die Braut (vielleicht sind die nicht veröffentlichten bräutigamhafter) bis zu den letzten nüchtern-melancholischen Berichten über das Londoner Exil und die Todeskrankheit spiegelt seine Familien- und Freundschaftskorrespondenz einen Mann, der nicht herrisch und verbittert war, sondern geradeheraus: bald unbequem, bald gemütlich, vor allem unauffällig. Freud, der mittels Wissenschaft Tragödien entdeckt und gedichtet hat — vielleicht der einzige große Tragödiendichter des Jahrhunderts —, war als Person nicht bühnenwirksam.

Glanz der Nüchternheit

Die Abwesenheit jeder Selbst-Dramatisierung, nicht einmal durch „understatement“, wirkte, als hätte die Natur hier einen „Normalmenschen“ geschaffen. Die Briefe nach dem Tod seiner Tochter und die Kondolenzschreiben an Freunde halten so sehr die Mitte zwischen Hingabe an den Schmerz und Unerschütterlichkeit, daß man diese gefühlvolle Unaufdringlichkeit für exemplarisch hält. Jede Aussage über den Mann und seine Theorien, die zum Extrem tendiert, ist falsch.

Man darf aber Tranquillitas dieser Art weder Harmonie nennen (so gut hatte er es nicht) noch Disziplin (so trainiert war er nicht). Dieser inkarnierte Glanz der Nüchternheit war ein Glücksfall.

Daß die Seele einen Leib hat, war auch vor Freud schon bekannt, aber nicht anerkannt. Freud schrieb die Biographie von jedermanns Leib, vom Leib des Leonardo, des Goethe, des Dostojewskij, des Freud und jener, die ihm als Patienten bekannt wurden.

Er war kein Columbus, denn er wußte, was er entdeckt hatte. „Es bleibt mißlich“, schrieb er, „daß uns die Analyse bisher immer nur in den Stand gesetzt hat, libidinöse Triebe nachzuweisen. Den Schluß, daß es andere nicht gibt, möchten wir darum doch nicht mitmachen.“ Man verdeckte seine Entdeckungen, indem man sie übertrieb; manchmal tat er es selber. Aber eines seiner zentralen Worte ist „demütig“. Er wußte, daß ein Forscher keinen Grund hat, übermütig zu sein; das Erforschte macht neues Dunkel sichtbar.

Was aber hell wurde, kann man, stellvertretend, mit einer einzigen Anekdote sichtbar machen. Theodor Ziehen empfing in der Berliner Psychiatrischen Klinik einen Patienten, der unter dem Zwangsimpuls litt, auf der Straße den Frauen die Röcke hochzuheben. Und der Professor sprach zu den Studenten: „Meine Herren, wir müssen genau prüfen, ob es sich hier um eine sexuelle Zwangsidee handelt. Ich werde den Patienten fragen, ob er den Impuls auch bei älteren Frauen fühlt.“ Sogar bei Mutter und Schwester, gestand der Mann. Der gelehrte Seelenkenner strahlte: „Sie sehen, daß hier gar nichts Sexuelles im Spiel sein kann.“

Was bleibt, ist harmlos

Man könnte eine lange Liste von Diagnosen herstellen, mit denen Freud endgültig (was man so endgültig nennt) aufgeräumt hat. Doch muß man, was von ihm geblieben ist, immer im Lichte dessen sehen, was gar nicht bleiben konnte, weil es kaum je die Grenzen der siebzehn Bände in Richtung Öffentlichkeit und Praxis überschritten hat. In den oberen Regionen, in denen die Moralprinzipien wie epikureische Götter leben, unbeeinflußt von irdischen Einsichten, hat sich weder zu seiner Zeit noch späterhin viel geändert. Man soll es sich dabei nicht so leicht machen, immer nur die Mickrigen und Verklemmten zu zitieren. Gerade Wohlmeinende, die von Persönlichkeit und Energie dieses Denkers und von diesem und jenem seiner Denkresultate beeindruckt waren, taten ihn als „Naturalisten“ ab, als einen, der blind für das „Höhere“ ist. Details wurden akzeptiert und in weltanschauliche Vorstellungen eingegliedert, zu denen sie nicht paßten. Es ist viel Freud’sches geblieben, indem es unschädlich gemacht wurde.

Es wäre gut, den „Naturalismus“ aus dem Einordnungs-Spiel zu lassen, desgleichen das Begriffspaar „Rationalist“ und „Irrationalist“, vor allem, wenn man es mit politischen Assoziationen belastet. An solchen Alternativen ist das beste, daß sie keine sind. Freud war „Naturalist“ mit dem großartigen Satz: „Ich habe viel Respekt vor dem Geist, aber ob ihn die Natur auch hat?“ Sein Naturalismus bestand darin, daß er nicht wie hypnotisiert auf den Weltgeist starrte. Freud war Rationalist, indem er zusah, wieweit die Forschung ohne das „Höhere“ auskommt. Da mußte er das „Niedere“ studieren, z.B. die vorpubertäre Sexualität.

Freud war auch Irrationalist, indem er, mit dem Lumen naturale ins Dunkel vordringend, niemals die Mächte unterschätzte, die durch Aufhellung noch nicht verschwinden. Kant hatte Faulheit und Feigheit als seine Gegenspieler verantwortlich gemacht. Marx hatte die herrschenden Ideen als die Ideen der Herrschenden verantwortlich gemacht. Freud erhellte den Traum, die Sprache und den Mythos ... und war viel zurückhaltender als der Kant des ewigen Friedens und der Marx des letzten Gefechts. Er wußte, daß die Ratio dem Irrationalen nur hier und da ein bißchen Macht nehmen kann. Er war progressiver Anti-Utopist.

Kants schlichte Verfemung der Affekte ist naiv, verglichen mit Freuds Versuch, Mittel zu finden, um ihren Stoß wenigstens zu dämpfen. Er hielt das Vernunft-Fremde, z.B. den Leib, der bestenfalls von der Vernunft unterjocht ist, nicht für wegoperierbar: nicht auf ganz- und nicht auf halb-idealistisch (das heißt: materialistisch). Er sah den Leib exakter als de Sade, Nietzsche, Wedekind, die ihn träumend verklärten oder verteufelten. So kam Freud nie in Gefahr, das wilde Tier zu vergötzen. Nur gab er dem menschlichen Triebgebilde in dem leisen Hymnus, für den das Wort „Lust“ schon zu laut war, zurück, was ihm seit Plato genommen war, der den Leib ein Grabmal der Seele nannte.

Was ist von dieser stillsten Umwertung geblieben? Ein falscher Jubel unter Spätgeborenen. Die Vatermörder sind passé, bald werden sogar Staatsoberhäupter Schillerkragen tragen. Auch sehen die Mädchen in unseren Journalen anders aus als in jenen, die im Wartezimmer des Professors Freud lagen. Aber immer noch studiert man Goethes Farbenlehre mehr als die Geschichte seiner Organe und Triebe — wie es Freud (ohne zureichendes Material) versuchte.

Daß die Seele einen Leib hat, wird mit dem Prunkwort „psychosomatisch“ zur Kenntnis genommen; im übrigen ist es, im Westen wie im viel „idealistischeren“ Osten, nach wie vor der Geist, der sich den Körper baut.

Freiheit ist, was vorher war

Marx und Freud sahen Moral, Kunst, Religion von den Bedürfnissen des Leibes her. Aber Marx und Engels gaben selbst in ihren generösesten Sentenzen das Stockwerk-Bild nicht preis; der Leib blieb zu ebener Erde, der Geist im ersten Stock.

Freuds „Sublimation“, seine Chiffre für den Überbau, ist eher eine Unbestimmtheit als ein Dogma. So konnte diese Theorie nie Weltanschauung werden, zumal da er zu dieser Sublimation kein eindeutiges Verhältnis hatte. Sie war ihm lieb und teuer, wo sie individuelle und gesellschaftliche Destruktion verhinderte. Sie war ihm bedenklich, wo zwischen Sublimation und Verdrängung nicht mehr zu unterscheiden ist. Wo hört die gute Zähmung auf, wo beginnt die schlechte? Freud hatte nicht mehr die Naivität, wie die Lebensphilosophie vor ihm, im Gedanken an die Ungebrochenheit der Vitalität zu schwelgen. Die Glorifizierung des Homo naturalis war Vergangenheit; nicht vergangen war das Unbehagen, das hiezu den Anlaß gegeben hatte.

Freud wußte, daß der idealistische Begriff von Freiheit der Freiheits-Sehnsucht nicht Genüge tut. Er hat den großartigsten Anti-Hegel-Satz geschrieben: „Die individuelle Freiheit war am größten vor aller Kultur.“ Das heißt: Sublimation ist auch Unfreiheit. Aber er hat sich’s nie geleistet, diese Freiheit vor aller Kultur als Vorbild in der Kultur zu propagieren. Er hatte den Mut zur aktiven Resignation. Er hat nicht unterschlagen, welche Unabhängigkeiten die Kultur zerstört hat und weiterhin zerstört. Und hat als Kompromiß die herabgesetzte Freiheit mit dem Titel „Sublimation“ beliehen.

Sublimation ist das bescheidene Sich-Ausleben jenseits der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dies Jenseits ist eine prekäre Variante des Diesseits; man flüchtet, ohne sich den Rückweg zu versperren. Sublimation ist „gesund“, dafür aber auch kein wirkliches Asyl.

Religionen und Künste sind Oasen, in Not von menschlichen Triebwesen geschaffen. Obwohl das nicht alles ist, was von den großen Reichen der Kultur zu sagen ist — diese Sicht ist unverlierbar. Wer Freuds Religionspsychologie in einem isolierten Wort wie „Massenhysterie“ unterzubringen sucht, unterschlägt z.B., daß er diese Massen-Hysterie als Schutz gegen die individuelle Hysterie für segensreich hielt. Auch Freud hat, wie Marx, in den Religionen den Seufzer der ohnmächtigen Kreatur gehört.

Genealogie der Phantasie

In einer Reihe von Arbeiten hat er versucht, Werke der Bildenden Kunst und der Dichtung zu analysieren. Seine Versuche erfolgten fern der herrschenden Vorstellung vom frei schwebenden Kunstwerk, vom Privatleben oder gar der „Intimsphäre“ des Künstlers, die mit der Schöpfung nichts zu tun habe (man vergleiche hiezu die bösartig aufgeregte Wagner-Garde). Ebenso fremd ist seiner Kunsttheorie der Kampf gegen den Formalismus, der angeblich den Inhalt vernachlässige. In der Abhandlung „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo“ untersucht Freud dessen „Anna Selbdritt“ und unternimmt es, den zeichnerischen Umriß aus der Erotik des Malers abzuleiten. Dies impliziert eine Methode, die heute für lächerlich gehalten wird.

Es kommt aber nicht darauf an, was hier glückte, sondern ob der Wille, das Reich der Künste als ein „Zwischenreich“ anzusehen, fruchtbar sein kann. Freud fragte nach der Lebensnotwendigkeit der Künste, nach ihrer Leistung für leidende Wesen; und hielt sie für eine unentbehrliche Wohltat, wenn auch nicht im Sinn der idealistischen Kunstphilosophie. Jeder Platonismus lag ihm fern.

Der Hegelianer Kuno Fischer schrieb, daß die ästhetische Welt „nur in sich beruht, nur in sich ihren Zweck hat und keine anderen Lebenszwecke erfüllt“. Freud nannte die „anderen Lebenszwecke“: Das Imperium der Phantasie ist das einzige Jenseits, das diesseits ist. Die Wünsche, die sich in der Realität nicht durchsetzen können, kommen hier zur bescheidenen Erfüllung. Seine Genealogie der Phantasie, die Deutung ihrer Herkunft als „Schonung beim schmerzlichen Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip“ könnte sich als fruchtbare Hypothese erweisen — wenn man sie zur Kenntnis nähme.

Freuds Kunsttheorie hatte in den vergangenen Jahrzehnten wenig Chancen. Sie wurde als Eskapismus verketzert, das heißt: als reaktionär; denn man weiß nichts mehr von der „Katharsis“, seit die Probleme der Ästhetik in die Alternative Ästhetizismus oder Kunst als Waffe hineingezwängt wurden. Freuds Kunsttheorie wird auch von Künstlern als kunstfremd abgelehnt. Spitteler war einer der ersten, der sich wehrte (kurioserweise gab sein Titel „Imago“ der Freud’schen Zeitschrift den Namen). Wilhelm Jensen, der auf die Nachwelt kam, weil Freud seiner Erzählung „Gradiva“ einen großen Aufsatz widmete, wollte mit dem Interpreten nichts zu tun haben.

Selbst Lou Andreas-Salomé, Freud in Freundschaft verbunden, Verfasserin des Buchs „Dank an Freud“, lehnte die Herleitung der Kunst aus der „Verdrängung“ ab; Kunst sei vielmehr „Erfüllung“. Sie erzählt, wie sie sich einmal mit Rilke in freier Assoziation unterhielt, ein Wort gab buchstäblich das andere. Schließlich sagte er, jetzt brauche er seinen Militärroman nicht mehr zu schreiben; sie habe ihm das Werk „von der Seele genommen“. Und sie kam zu dem Schluß, daß die Analyse den Künstler steril mache; seine Heilung sei das Werk.

Freud war viel vorsichtiger, als diese Argumentation ahnen läßt. Er lehnte eine analytische Ableitung der „künstlerischen Begabung“ ab. Er dachte nicht daran, mit seinen wissenschaftlichen Mitteln zu ästhetischen Urteilen zu kommen. Er wollte leidenden Menschen helfen, Künstlern und Nicht-Künstlern. Arnold Zweig sagte, erst Freud habe ihn nach einer Zeit der Not wieder produktiv gemacht. Wahrscheinlich ist die Frage, ob künstlerische Produktivität an seelische Not gebunden sei, in dieser Allgemeinheit völlig unnütz.

Man könnte im Detail aufzählen, worin Freud ein großer Anfänger war; aber die kleinen Nachkommen sind eben größer, weil sie ihm auf die Schulter geklettert sind.

Es gäbe einen Weg, dem Spruch über die Vergänglichkeit aller Wissenschaft, auch der Freud’schen, zu entgehen, indem man Freud als Künstler auszeichnet. Keiner hat, vielleicht mit Ausnahme Nietzsches, in den letzten hundert Jahren so viele Worte geprägt, die heute noch kräftig am Leben sind. Man wird nicht viele Forscher nennen können, die der deutschen Sprache diesen Glanz der Nüchternheit verliehen haben. Man liest Freud zur Erholung nach der Plackerei mit den schreibenden Manitus unserer Tiefgründerzeit.

Doch wäre es, trotz dem ästhetischen Vergnügen, ein Trick, Freud als Künstler vom allgemeinen Urteil über die Vergänglichkeit des großen Forschers auszunehmen. Freud hat immer gewußt und geschrieben, daß seine Lehre von der Seele erst ein Anfang ist. Damit ist allerdings nicht gesagt, daß die Biochemie sie eines Tages ablösen wird.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1964
, Seite 426
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Ludwig Marcuse:

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