FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1976 » No. 276
Michel Tatu

Die Revolution frißt ihre Mandarine

Das Ende der Ideologen
Hua Kuo-feng,
jetzt noch bescheiden im Glied, läßt sich als Schüler des Großen Steuermanns feiern. Ist er bald der Große Weichensteller?

China ist wild

In der „Pekingologie“ übertrifft die Wirklichkeit immer die Phantasie. Die chinesische Politik ist immer spektakulärer, als der kühnste Kolumnist vorauszusagen wagt.

In China bekennt man sich mit größerer Offenheit als in allen anderen kommunistischen Staaten zum Kampf um die Macht. Unser Eindruck hievon wird freilich abgeschwächt durch das Filter des feierlichen Protokolls, das alle öffentlichen Aktivitäten der Spitzenfiguren verundeutlicht. Ein geheimnisvoller Schleier liegt über allen ihren Erwägungen und Bewegungen. Nur mit Mühe errät man die Gewalt des Machtkampfes hinter der eisigen Fassade der offiziellen Manifestationen und Verlautbarungen.

Es war unmöglich vorauszusagen, daß die Niederlage der „Shanghaier Gruppe“ sich in so brutaler Form und so kurz nach Maos Tod vollziehen würde. Ihre Niederlage an sich war jedoch von vornherein die wahrscheinlichste Hypothese.

Die „Shanghaier Gruppe“ war zu nahe beim verstorbenen Führer, ihr Überleben hing zu sehr von seiner Protektion ab. Diese Bemerkung scheint paradox, wo doch jedermann in Peking sich leidenschaftlich auf den „großen Steuermann“ beruft, dessen sterbliche Reste von den Siegern des Tages sogar einbalsamiert werden. Aber man braucht den Zynismus dieser Sieger nicht übertrieben hoch zu veranschlagen, um zu begreifen, daß der Kult um Mao, den sie weiterhin treiben, sich nicht auch noch auf dessen Protegés erstrecken kann.

Nach Maos Tod wurden Chinas Weichen nach rechts gestellt
(Holzschnitt)

Nepot Mao

Mit Favoriten nimmt es fast immer ein schlechtes Ende in der Geschichte — insbesondere in den kommunistischen Ländern. Adschubej, Schwiegersohn Chruschtschows, verlor seine Ämter wenige Tage nach dessen Sturz. Frau Tschiang Tsching hatte um so weniger Chance, dem Regelfall zu entgehen, als sie noch höher in der Hierarchie aufgestiegen war und hinter dem Schutzbild der Autorität ihres Mannes persönliche Abrechnungen aller Art mit ihren Gegnern auszutragen schien.

Der Nepotismus, der rund um Mao in dessen letzten Lebensjahren sproß, wird auch durch die Gerüchte beleuchtet, wonach die beiden anderen großen Opfer der Säuberung, Yao Wen-yüan und Wang Hung-wen, Schwiegersöhne des „großen Steuermanns“ gewesen sein sollen. Letzterer war ohne Zweifel Favorit Maos und schuldete ausschließlich diesem seine Blitzkarriere zum Vizepräsidenten der Partei (1973). Sein Sturz war um so wahrscheinlicher, als er der einzige echte oder fast echte Proletarier war, der jemals in der rezenten Geschichte der kommunistischen Länder in höchste Positionen gelangt war.

Der junge Wang war noch vor zehn Jahren ein bescheidener Funktionär in einer Shanghaier Fabrik. Immer und überall sonst braucht es zwanzig Jahre oder mehr, um im „Apparat“ langsam bis in Gipfelnähe aufzusteigen, sei’s auch unter fortdauernder Berufung auf immer weiter zurückliegende proletarische Anfänge.

Der tiefe Sturz der Nepoten Maos ist ein Omen für Leute wie Kim Il Sung in Nordkorea oder Ceausescu in Rumänien, die mittels ihrer absoluten persönlichen Herrschaft ihre Frauen, Kinder oder Schwiegersöhne in hohe und höchste Kommandoposten bugsierten. Wie lange werden solche glanzvollen Karrieren dauern? — mit derselben Leichtigkeit, mit der sie zustande kamen, sind sie auch wieder zerstörbar.

Tatsebao gegen die „Viererbande“
(v.l.n.r.): Wang Hung-wen, Tschang Tschun-tschao, Tschiang Tsching, Yao Wen-yüan hatten sich angeblich verschworen, um die Macht für die Mao-Witwe zu ergreifen. Sie unterlagen nicht, weil Hua das echtere Testament hat, sondern wei Hua die Armee auf seine Seite ziehen konnte und diese der Kaiserfamilie das Bajonett in den Rücken stieß.

Jongleure am Kaiserhof

Dazu kommt die „angeborene“ Schwäche jener, die man in den kommunistischen Staaten „Ideologen“ nennt. Auch diese Behauptung klingt zunächst paradox, wo sich doch diese Regimes mehr als alle anderen auf eine Doktrin berufen, auf „heilige Texte“. Angeblich unterliegt dort alle Praxis dem Richtspruch der Theorie. Deren Hohepriester müßten also immer den Sieg davontragen über die Männer der bloßen Praxis.

Das Gegenteil ist wahr. Die Ideologie ist nicht auf dem Kommandostand, wie dies der „große Steuermann“ wollte. Sie ist ein Werkzeug im Dienste der Macht.

Dieser Sachverhalt war maskiert, solange Mao zugleich Vorsitzender der Partei und Chefideologe war — konkurrenzlos und einzigartig. Nach seinem Tod geht es nur noch um die Interpretation seiner Ideen. Die richtige Interpretation ist jene, welche den neuen Machthabern dienlich ist.

Für den Beobachter von außen ist es schwierig, bis zum innersten Kern dieses Sachverhalts vorzudringen. Das ganze politische Leben Chinas spielt sich hinter der dicken Wand der Theorie ab. Die Ideologen scheinen stets auf der Höhe der Situation zu sein. Sie besetzen das ganze Feld der Presse — welche die einzige Pforte ist, die sich in der Festung der Partei nach außen öffnet, insbesondere für das Ausland.

Die „Ideologen“ erläutern mit brillierender Geschicklichkeit die Politik des Tages, reiten Attacke gegen die Gegner dieser Politik und vermitteln solcherart — zu Unrecht — den Eindruck, sie seien an der Macht. In Wirklichkeit sind sie deren bloße Widerspiegelung. Sobald die wirklich Mächtigen gestürzt oder auch nur geschwächt sind, stellt sich sogleich heraus, daß die Ideologen bloß ihre Protegés waren. Nichts weiter als Schreiber, und man regiert nicht mit der Feder.

Journalisten wie Tschang Tschuntschao und Yao Wen-yüan oder Leute aus dem Kulturleben wie Frau Tschiang Tsching gleichen Jongleuren am kaiserlichen Hof. Man kann sie nach Belieben wegschicken. Sie sind austauschbar.

Dauerhaft ist für sie nur der Fluch ihrer Herkunft. Tschang Tschun-tschao z.B. stieg auf zu Positionen mit wirklicher Verantwortung, u.a. war er Chefpolitkommissar der Armee. Es nützte ihm nichts. Er konnte nicht vergessen machen, daß er von Beruf nur Journalist war, ein Mann aus der Propaganda- und Kulturmaschine, ein Jongleur.

Solche Leute, die immer wieder mal die wirklichen Machthaber in Partei oder Regierung angreifen oder verärgern, will man dort oben nicht haben.

Nur ganz wenigen Ideologen in den kommunistischen Ländern ist der „Berufswechsel“ gelungen, der Sprung hinauf zu den wirklichen Kommandohebeln. Leonid Iljitschow baute sich in der Sowjetunion, anfangs der sechziger Jahre, mit viel Geduld ein „ideologisches Imperium“, um seinen Aufstieg ins Politbüro vorzubereiten. Dabei mußte er sich auf Chruschtschow stützen und dessen Gegner angreifen. Er verlor alle Funktionen schon wenige Monate nach Beginn der Ära Breschnjew.

Das Originelle an der chinesischen Situation war vor allem, daß die Presse in den Händen der „Linken“ — einen ganz besonders falschen Eindruck der wirklichen politischen Kräfteverhältnisse vermittelte. Eine Minderheitsgruppe gab den Ton an. Sie schrieb in der Presse, aber sie hatte keinen Anteil an der wirklichen Machtstruktur: Partei, Armee, Regierung, Polizei.

Chinas Armee:
Erzwingt der Techniker-Flügel die Einigung mit der Sowjetunion?

Das Glück des Hua Kuo-feng

Diese eigentlich Machtstruktur anzugreifen — das war der Versuch, den die Kulturrevolution unternahm. Er blieb ohne tieferen Erfolg. Die Angriffswaffen wogen zu leicht — Zeitungen, Plakate. Die Sturmtruppen waren bloß marginale Kräfte — Schuljugend, Studenten.

Die von der Kulturrevolution Angegriffenen, die Opfer der „Ideologen“, werden dennoch kaum wiederkehren. In den kommunistischen Ländern ist „Kronprinz“ — ob vom allerhöchsten Führer protegiert oder aus eigener Kraft installiert — ein gefährlicher Beruf. Maos designierte Nachfolger, von Liu Schaotschi über Lin Piao bis Teng Hsiao-ping, haben alle ein schlechtes Ende genommen (Tschu En-lai ist die Ausnahme, er starb vor einem solchen Ende).

Die jüngsten Ereignisse beweisen, daß Mao recht hatte, seinen „Kronprinzen“ zu mißtrauen. Wäre Mao ein paar Jahre früher gestorben, würde einer der Gefallenen Männer höchstwahrscheinlich heute im Sessel von Hua Kuo-feng sitzen. Dieser hatte einfach das Glück, im rechten Augenblick auf den Nachfolgerposten zu kommen. Ein bißchen länger und auch er wäre in Ungnade gefallen.

Zufall war es auch, daß Teng Hsiaoping nicht auf dem Nachfolgerposten saß, als der entscheidende Augenblick kam. Wäre Tschu En-lai nicht neun Monate vor, sondern nach Mao gestorben, hätte er wahrscheinlich Teng wirksam gegen die Angriffe der Shanghaier „Linken“ schützen können. So aber schwächte der Tod von Tschu die „Gemäßigten“ und führte zum vorübergehenden Sieg der „Linken“.

Die Angriffe gegen Teng sind nunmehr abgebremst, ihm nahestehende Funktionäre rehabilitiert. Aber noch zu Lebzeiten Maos gab es Angriffe gegen Teng durch Hua Kuo-feng. Nicht nur die „Linken“, auch Hua disqualifizierte Teng als „Revisionisten“. Warum sollten jetzt die Sieger des Tages ihre Macht mit einem Mann teilen, der zwar nicht ihr prinzipieller Gegner ist, wohl aber ein Rivale? Wahrscheinlicher als Tengs Wiederaufstieg ist die Milderung der Ungnade, in der er vermutlich verbleiben wird. Ähnlich führte Chruschtschows Sturz in der Sowjetunion sehr rasch zur Einstellung der Kritik gegen seine früheren Gegner: Molotow, Malenkow, Kaganowitsch — aber die neuen Machthaber holten die alten nicht wieder zurück an die Spitze.

Der Sieg der „Apparatleute“ über die „Ideologen“ in China wird zur Stabilisierung eben jener bürokratischen Strukturen führen, welche Mao so sehr beunruhigten. Es handelt sich eher um die Beschleunigung einer Entwicklung als um eine Wende. Nichts deutet darauf hin, daß die „Linke“, wenn sie gesiegt hätte, einen grundsätzlich anderen Führungsstil eingeführt hätte als den bürokratischen ihrer „rechten“ Rivalen.

© Le Monde

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1976
, Seite 53
Autor/inn/en:

Michel Tatu:

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