FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1973 » No. 240
Michel Bosquet

Die neuen Zaren

Konzerne in Ost und West

Sie haben die Macht. Sie haben das Geld. Sie entscheiden über Krieg und Frieden. Und über Glück und Unglück der Menschen. Sie sind mächtiger, als je ein König, ein Kaiser oder ein Präsident es gewesen ist: Dreihundert Konzerne, die „Multinationalen“, die an allen Ecken und Enden der Welt produzieren, verkaufen, spekulieren, entlassen und aufnehmen, haben sich die Staaten dienstbar gemacht. Sie sind dreimal so reich wie alle Zentralbanken der Industriestaaten zusammengenommen; sie beherrschen die Weltwirtschaft und sind heute die Negation des Wirtschaftsliberalismus, aus dem sie hervorgegangen sind. Sie planen — für ihre Tasche — die weltweite Ausbeutung der Bodenschätze, alter und neuer Märkte sowie der „Arbeitskräftereserven“; ihre Entwicklung ist das hervorstechende Merkmal des letzten Jahrhundertdrittels. Gestützt auf die Arbeiten eines der besten Spezialisten in der Frage der „Multinationalen“; des kanadischen Ökonomen Charles Levinson, Generalsekretär des internationalen Chemiearbeiterverbandes (vier Millionen Mitglieder), enthüllt Michel Bosquet hier die geheimen Praktiken der Supergroßen, die häufig nur zum Schein miteinander konkurrieren und für die jene alte Rivalität zwischen Europa, Amerika und der Sowjetunion ein Ding der Vergangenheit ist.

1 Konzernwissenschafter

Die Entwicklung der Multinationalen stellt fast alles in Frage: unsere Begriffe vom Staat, von der Macht, vom Geld, von der Planung, von der Verstaatlichung, von der Arbeiterbewegung, vom Außenhandel. Was die Politiker heute noch unter diesen Begriffen verstehen, ist samt und sonders überholt. Seit dem achtzehnten Jahrhundert hat die Welt keine solche Umwälzung mehr erlebt.

Wenn man jedoch die rund hundert Bücher durchblättert, die im letzten Jahr über die Multinationalen erschienen sind, wird man nur selten auf diese grundlegenden Aspekte stoßen. Das gilt auch für die ‚erschöpfende‘, mehrere tausend Seiten starke Studie, welche die Fordstiftung und IBM bei der Harvard-Universität in Auftrag gegeben haben. Das Großkapital ist nämlich im Begriff, in dieser Frage eine Operation zu wiederholen, die es bereits mit Erfolg in den Fragen der Großstadtkrise, des ökonomischen Wachstums, der Umweltverschmutzung und der ‚Lebensqualität‘ ausgeführt hat: die Operation ‚Fisch-Ertränken‘. Es bestellt bei seinen Stiftungen, seinen Managerschulen, seinen Elite-Universitäten haufenweise gelehrte, im Fachjargon geschriebene Bücher, um die Stimmen von uns Arbeitern und Gewerkschaftern zu übertönen, die wir als erste dieses Wild aufgescheucht und die Dinge beim Namen genannt haben. Sie nennen das: eine Diskussion entfachen.

Sie haben den Begriff ‚Verschmutzung‘ an die Stelle der handfesten Wirklichkeit gestellt: Ihre chemischen, metallurgischen und Erdölindustrien sind es, die erst die dort beschäftigten Arbeiter, dann die Städtebewohner und schließlich die Fische im Meer vergiften; ebenso stellen sie den Begriff ‚multinationaler Konzern‘ an die Stelle jener anderen Realität: Michelin und General Motors, IBM und Saint-Gobain organisieren heute die Ausbeutung im Weltmaßstab, schieben ihre Betriebe wie Schachfiguren hin und her und machen, was Wirtschafts-, Handels-, Steuer- und Währungspolitik betrifft, die Souveränität der Staaten und Autonomie der Regierungen zu hohlen Phrasen.

Der Mann, von dem diese Sätze stammen, heißt Charles Levinson. Er ist Kanadier, Generalsekretär des internationalen Chemiearbeiterverbandes und Verfasser zweier aufsehenerregender Bücher. [1] Er entdeckte die Multinationalen zu einer Zeit, als die Amerikaner — Arbeiter voran — auf die Flut billiger japanischer Transistorgeräte mit einem Aufwallen des Nationalismus reagierten. Levinson, damals stellvertretender Generalsekretär des internationalen Metallarbeiterverbandes, enthüllte eine verblüffende Tatsache: Die Geräte „made in Japan“ wurden von japanischen Tochterbetrieben amerikanischer Konzerne produziert. Die Überflutung des amerikanischen Marktes war von New York via Tokio dirigiert worden. Der Feind der amerikanischen Arbeiter war nicht der japanische Arbeiter und auch nicht der japanische Staat, sondern das amerikanische Kapital!

2 Bund der Titanen

Seither sind fast zwanzig Jahre vergangen. Was damals eine Sensation war, ist heute ganz alltäglich: Rolleiflex-Kameras werden in Singapur hergestellt, desgleichen Siemens-Mikroschaltungen; Agfa-Gaevert läßt seine Kameras in Japan erzeugen; „schwedische“ Möbel kommen aus polnischen Fabriken; gewisse Bestandteile der Renault-Autos werden in Jugoslawien und Rumänien produziert usw. Was die amerikanischen Konzerne betrifft, so haben viele von ihnen ihre Produktionstätigkeit gänzlich ins Ausland verlegt: Alle in den USA erhältlichen Photoapparate werden im Ausland erzeugt, desgleichen 96 Prozent aller Tonbandgeräte, 95 Prozent aller Fahrräder, 90 Prozent aller Rundfunkgeräte, 70 Prozent aller Kofferschreibmaschinen, 67 Prozent aller Schuhe, 50 Prozent aller Schwarz-Weiß-Fernsehapparate usw.

Es gibt heute keinen Großkonzern, der nicht Tochterbetriebe in mehreren Ländern hat und dort verschiedene Bestandteile ein und desselben Produkts herstellen läßt. Mehr noch: Die Fähigkeit eines Unternehmens, als unabhängige Organisation zu überleben, hängt immer mehr von der Anzahl und der Solidität seiner Filialen in allen Teilen der Welt ab. Wir werden später die Vorteile dieser „Multinationalität“ genauer aufzeigen. Im Augenblick lassen wir noch einmal Levinson über das Ausmaß der „Multinationalisierung“ sprechen:

Die Produktion der Multinationalen wächst gegenwärtig doppelt so schnell wie die Weltwirtschaft als Ganzes. Um 1985 werden drei- oder vierhundert multinationale Konzerne voraussichtlich 80 Prozent der gesamten Industrie der kapitalistischen Welt beherrschen. Nimmt man die ‚fortgeschrittene‘ Industrie — die man ‚wissenschaftlich‘ nennt, weil sie wenig manuelle Arbeiter und viel graue Hirnsubstanz verwendet —, so stellt man fest, daß eine Handvoll Firmen, zum größten Teil in Konsortien oder joint ventures miteinander verbunden, heute schon die Welt beherrschen: Sieben Riesenkonzerne kontrollieren die gesamte Erdölindustrie; fünfzehn die Petrochemie; die Elektronik wird von zehn Firmen beherrscht, die Reifenproduktion von acht, die Flachglaserzeugung von fünf, die Papierproduktion von neun, usw.

Wer da glaubt, daß diese Riesen einen Kampf bis aufs Messer um Weltmarktanteile führen, der täuscht sich gewaltig. Gelegentlich gibt es gewiß noch Konkurrenz, unter den reifen Firmen jedoch geht die Tendenz nicht zum Wettbewerb, sondern zum Kartell, zum Gentleman’s Agreement, zur gegenseitigen Unterstützung, um die Herrschaft zu festigen und Neuankömmlingen den Eintritt zu verwehren.

Nehmen wir die Reifenindustrie. Man sagt, Michelin habe Ärger in Nordamerika, wo er große Betriebe errichten will. Daraus könnte man den Schluß ziehen, daß es heftige Konkurrenz zwischen den Reifengiganten gebe: zwischen Dunlop-Pirelli, Michelin, Goodrich, Firestone und Goodyear. Doch siehe da, Dunlop erzeugt in mehreren Ländern Reifen für Goodyear; Michelin und Dunlop sind in verschiedenen joint ventures assoziiert, und eine ‚irische‘ Firma, die für eine amerikanische Firma Gürtelreifen produziert, gehört der österreichischen Firma Semperit, die von der französisch-belgischen Firma Kléber-Colombe kontrolliert wird, welche ihrerseits unter der Kontrolle des französischen Michelin-Konzerns, mit dem Sitz in Basel, steht.

Wenn man also vom Kampf der Giganten spricht, ist das cum grano salis zu verstehen: Die wahren Giganten kämpfen nicht gegeneinander, das wäre zu riskant. Sie bereinigen ihre Konflikte hinter Polstertüren, am grünen Tisch. So ist Shell in fünfundzwanzig und Standard Oil of New Jersey (Esso) in fünfunddreißig joint ventures mit anderen Erdölgesellschaften engagiert; zwischen den amerikanischen Multinationalen und ihren angeblichen europäischen Konkurrenten gibt es mehr als viertausend joint ventures, mehr als dreimal soviel wie zwischen den europäischen Firmen selbst.

3 Kauf von Macht

Das von den üblichen Vorstellungen sehr verschiedene Bild, das sich daraus ergibt, ist das einer Weltoligarchie: Sie besteht aus einigen Hundert Großkonzernen, deren Manager (inklusive, wie wir sehen werden, der neuen sowjetischen Manager) aus der gleichen Gesellschaftsschicht kommen, die gleichen Schulen besucht haben, dieselben Ideen vertreten und mit denselben Mitteln dieselben Ziele verfolgen. Gewiß streiten sich diese Firmen um Märkte, aber nie in Form eines Preis- und Handelskrieges. Die Mittel, deren sie sich gegeneinander bedienen, sind vielmehr: Neuheit und Image des Produkts, in aufwendigen Reklamefeldzügen kreiert und propagiert; Ausdehnung des Verkaufsnetzes, namentlich durch ständige Versuche, Verkäufer und Konzessionäre anderer Marken zu bestechen; Handel mit Einfluß, der dort, wo der Staat und seine Organe bestechlich sind — also praktisch überall —, entscheidend, höchst lohnend und sogar unerläßlich ist. Wenngleich man in Europa die Gunst eines Regierungschefs gewöhnlich nicht kaufen kann, so kann man doch stets die Dienste von Ministern, Ex-Ministern oder Politikern, von denen die Minister abhängen, in der einen oder anderen Form erwerben oder mieten.

„Man bedenke“, sagt Levinson, „daß der eminente Europäer Paul-Henri Spaak, ehemals sozialdemokratischer Ministerpräsident Belgiens, als Direktor von ITT-Europa gestorben ist und daß ein anderer großer Europäer, Louis Armand, früherer Präsident der französischen Staatsbahnen, Direktor von Westinghouse-Europa war.“

Doch das alles sind nur Kleinigkeiten. Einen tieferen Einblick gewinnt man, wenn man den Einfluß der Multinationalen auf die Handels- und Zahlungsbilanz und die Währungspolitik der einzelnen Staaten untersucht. Die meisten Menschen — Politiker inbegriffen — glauben immer noch, die Außenhandelsrechnung eines Staates gleiche dem Kassenbuch einer Greißlerei links die Ausfuhren, rechts die Einfuhren. Wenn ein Land mehr importiert als exportiert, muß es abwerten, das heißt, seine Exportpreise senken, um im Ausland mehr verkaufen zu können. Aber nein — so spielen sich die Dinge heute nicht mehr ab. Eine moderne kapitalistische Wirtschaft hat grundsätzlich ein Außenhandelsdefizit. Wenn sie, wie Westdeutschland, einen chronischen Überschuß hat, so ist sie rückständig. Diesen Aspekt hebt Levinson anschaulich hervor:

Die Produktion der Multinationalen in ihren ausländischen Tochterbetrieben übertrifft den Gesamtwert aller Ausfuhren der Welt um mehr als 20 Milliarden Dollar. Die genauen Zahlen für 1971 lauten: Gesamte Weltausfuhren 310 Milliarden Dollar, Produktion der Auslandsfilialen 330 Milliarden Dollar. Und von diesen 330 Milliarden Dollar entfallen 275 Milliarden auf Töchter amerikanischer Konzerne. Man kann also sagen, daß ihre Produktion sich auf 90 Prozent der Summe der Exporte aller Länder zusammengenommen beläuft.

4 Gebundene Kunden

Wenn man sich also um die amerikanische Handelsbilanz Sorgen macht und glaubt, sie durch Währungsmanipulationen sanieren zu müssen, ist dies ein schlechter Scherz. Es gibt praktisch keinen amerikanischen Großkonzern, der sich um den Export seiner Produkte sorgt; er exportiert Kapital, Betriebe, Know-how, Absatzorganisation, indem er in den Ländern, deren Märkte er erobern will, Tochterfirmen gründet. Gegenwärtig produziert der amerikanische Kapitalismus im Ausland sechsmal so viel, wie er dorthin exportiert; 1975 wird es achtmal so viel sein. Zwei Drittel der amerikanischen Industrieexporte bestehen aus Produkten und Dienstleistungen, welche die amerikanischen Mutterfirmen ihren Töchtern im Ausland verkaufen. Das heißt, der amerikanische Export ist zum Großteil eine Folge der Kapitalausfuhr. Und wenn man bedenkt, daß die Töchter für die Mutterfirma abhängige Kunden sind, von denen man auch Phantasiepreise verlangen kann, so gelangt man zu dem Schluß, daß Währungsmanipulationen nur eine sehr geringe Auswirkung auf die amerikanischen Exporte haben können.

Hier kommt Levinson zu einem seiner Hauptargumente: Die fortgeschrittene kapitalistische Wirtschaft braucht das Außenhandelsdefizit. In seinem jüngsten Buch schreibt er: „‚Güterausfuhr ist überholt; heute exportiert man Kapital und Organisation, ohne sich um Zoll- und andere Grenzen zu kümmern, die für jene übrigens auch nicht gelten.“ Lenin hat dies schon 1916 gesehen: „Die Warenausfuhr, die für den Kapitalismus alten Typs kennzeichnend ist, weicht unter dem modernen Kapitalismus der Kapitalausfuhr.“ Der Grund ist leicht zu verstehen, wenn man das Beispiel Deutschlands und Japans nimmt.

5 Reiche Besiegte

Deutschland und Japan, im Krieg verwüstet und ohne Kolonien, verzeichnen seit 1948 die höchsten Investitionsraten der Welt: Mehr als ein Drittel des Nationalvermögens wurde neu investiert. Die Löhne waren viel niedriger als in anderen Industriestaaten; das ermöglichte eine Rekordakkumulation und ein Rekordwachstum. Es entstanden gigantische Industriekomplexe, deren Kapazität bald die Bedürfnisse des Landes überstieg.

Die Industriellen hatten keine Wahl: Zu schwach, um sich in einer von den „Siegern“ beherrschten Welt neue Einflußzonen zu sichern, konnten sie nur im eigenen Land investieren. Und das taten sie auch. Die wichtigsten Unternehmen erreichten daher eine übermäßige Größe. Um ihre Anlagen zu nutzen, trachteten sie 50 bis 60 Prozent ihrer Produktion — und in vielen Fällen noch mehr — zu exportieren. Und da infolge der — im Verhältnis zur Produktivität — niedrigen Löhne die Kaufkraft der deutschen und der japanischen Bevölkerung nicht ausreichte, um den Gegenwert der Exporte zur Gänze zu konsumieren, verzeichneten diese Länder ständig ungeheure Außenhandelsüberschüsse: Die meisten anderen Staaten wurden ihre Schuldner.

Nach Ansicht der japanischen und der westdeutschen Regierung durfte das nicht so weitergehen. Aber: was sollten sie mit diesen Bergen schwer konvertierbarer Devisen anfangen? Und wie sollten sie weiterhin an andere Länder verkaufen, wenn diese ihnen bereits so viel schuldig waren und nichts Brauchbares anzubieten hatten? War es für Japan und Deutschland nicht besser, in den Schuldnerländern rentable Betriebe zu errichten, statt ihnen — auf Kredit — deutsche und japanische Waren zu liefern?

Diese Frage, zuerst von den dynamischesten Konzernen aufgeworfen, wurde schließlich akut. Und zwar aus drei Gründen:

  1. Unter dem Druck der Überindustrialisierung und des Arbeitskräftemangels „explodieren“ die Löhne. Man muß sich mit Gastarbeitern behelfen. Diese aber erweisen sich als immer weniger fügsam. Außerdem lassen sie sich nicht ewig in Baracken unterbringen, mit denen sie sich vielleicht in Afrika oder der Türkei, in Korea oder auf den Philippinen zufriedengeben würden. Also muß man Betriebe in diesen Ländern errichten, wo die Löhne niedrig sind. Diese Überlegung gilt vor allem für die Fertigungsindustrie (Automobile, Präzisionsmechanik, Optik, Elektronik), wie die folgende, von Levinson zitierte Erklärung des Siemens-Generaldirektors Ernst von Siemens zeigt:

    Siemens hat bisher die Hälfte seines Absatzes im Ausland realisiert, während er nur 20 Prozent außerhalb Deutschlands produziert. Künftig werden wir mehr Kapital und Know-how exportieren, statt weiterhin Gastarbeiter zu importieren, die bereits 20 Prozent unserer Belegschaften in Deutschland ausmachen. Im Lauf der nächsten zehn Jahre wird unser außerhalb Deutschlands beschäftigtes Personal um 50 Prozent zunehmen, gegenüber 10 Prozent des in Deutschland beschäftigten.

  2. Die Überindustrialisierung stößt, insbesondere in Deutschland, Japan und Holland, auf physische Grenzen: Raum, Wasser und Luft beginnen knapp zu werden, Überbevölkerung und Verschmutzung in den Industriegebieten überschreiten die kritische Schwelle! Das ist der Hauptgrund, warum die deutsche Chemieindustrie im Rheinland keine neuen Fabriken mehr baut: Sie müßte Wasser und Luft reinigen, ganze neue Städte errichten. Da kommt es billiger, sich in Brasilien oder in den Südstaaten der USA niederzulassen: Mit dem Kapital wird auch die Umweltverschmutzung exportiert.
  3. Unabhängig von den beiden erstgenannten Gründen bringt die Gründung von Auslandsfilialen so bedeutende Vorteile mit sich, daß kein Großkonzern darauf verzichten kann. „Eine multinationale Gesellschaft“, sagt Levinson, „macht schätzungsweise um 30 bis 40 Prozent höhere Profite als eine traditionelle Exportfirma, und dies insbesondere dank dem Mechanismus der Transferpreise.“

6 Steuerflucht

Ein Beispiel: Ein multinationaler Konzern — etwa Michelin — besitzt siebzehn Betriebe, davon dreizehn im Ausland. Diese Betriebe sind in einer Holding zusammengefaßt, welche die finanzielle Leitung besorgt, und in einer Vertriebsgesellschaft, die Aus- und Einfuhren regelt. Diese Gesellschaften haben ihren Sitz in der Schweiz (im Fall Michelins in Basel) oder in einem der Steuerparadiese, wo es keine Gewinnsteuer gibt: Liechtenstein, Luxemburg, die Bahamas, die Insel Cayman usw. Die Hinterlist der internationalen Manager besteht nun darin, sich so zu arrangieren, daß die Tochterfirmen beispielsweise in Frankreich, Holland und Deutschland, wo die Steuern sehr hoch sind, keine Profite ausweisen, dagegen um so höher in jenen Ländern, wo es nur niedrige oder gar keine Gewinnsteuern gibt. Um das zu erreichen, verrechnet die internationale Konzernleitung ihren Filialen exorbitante Preise für Dienstleistungen, Produktionslizenzen, Bestandteile und Halbprodukte. Nichts hindert beispielsweise die „schweizerische“ Direktion einer Automobilfirma daran, gewisse Bestandteile in Polen erzeugen zu lassen und sie dann an ihre fränzösischen oder deutschen Betriebe mit einem Profit von 200 bis 300 Prozent zu verkaufen. Mit solchen Mitteln erzielt die internationale Konzernleitung, die ihren Sitz in der Schweiz hat, gigantische steuerfreie Profite auf Kosten ihrer — beispielsweise — französischen oder belgischen Tochterbetriebe, die daher, künstlich mit überhöhten Kosten belastet, ständig am Rand der roten Zahlen zu stehen scheinen.

7 Ein jungfräulicher Markt

Wenn der multinationale Konzern seinen Sitz in einem Steuerparadies wählt, genießt er die folgenden Vorteile: Er zahlt keine Gewinnsteuer; er braucht keine Angst zu haben vor Kreditrestriktionen oder Devisenbeschränkungen in den Ländern, wo er Betriebe besitzt; er reduziert das Risiko einer Verstaatlichung oder Enteignung. Wenn etwa die französische Regierung eines Tages beschließen sollte, Michelin, Pechiney oder Saint-Gobain zu verstaatlichen, würde sie nur die in Frankreich gelegenen Betriebe in die Hand bekommen; die Auslandsfilialen, Eigentum schweizerischer Holdings, wären nicht betroffen und würden, als Vergeltung, versuchen, die französischen Betriebe von gewissen Versorgungsquellen und ausländischen Absatzmärkten abzuschneiden.

Doch all diese Praktiken sind noch relativ harmlos im Vergleich zu der Art und Weise, wie man in Ländern der Dritten Welt vorgeht. Dort wird der Profithunger des Großkonzerns weder durch Konkurrenz noch durch politische Macht gezügelt. Er findet einen praktisch jungfräulichen Markt vor, erkauft sich zunächst die Gunst des Innenministers, des Polizeichefs, hoher Offiziere, örtlicher Honoratioren, dann verkauft er die Produkte oder Dienstleistungen seiner Filialen zu exorbitanten Monopolpreisen. Die britische oder schweizersche Pharmazeutikindustrie beispielsweise verkauft in Brasilien zu Halsabschneiderpreisen; die in nordamerikanischem Besitz befindlichen Eisenbahnen und Telekommunikationen Mittelamerikas sind die teuersten der Welt.

Da aber seit rund zwanzig Jahren die auf diese Weise erzielten Profite schwer rückführbar sind — die Verschuldung der ausgeplünderten Länder hat den Plafond erreicht, ihre Währungen sind kaum konvertierbar —, haben die amerikanischen und westeuropäischen Konzerne ihre Methoden geändert: Sie ziehen ihre Profite nicht mehr nur aus dem Absatz ihrer Tochterfirmen, sondern auch und vor allem aus den Einrichtungen, die die Mutterfirma den Töchtern liefert. Sie verkauft beispielsweise ihren Filialen in Argentinien oder in Indien alte, bereits amortisierte Maschinen um das Vierfache des normalen Preises. Sie vermietet ihnen Patente und verkauft ihnen „managerielle“ Dienstleistungen zu Raubpreisen. Sie zwingt sie, Rohmaterialien und Bestandteile ausschließlich von der Mutterfirma zu beziehen — zu Monopolpreisen. Kurz, die Tochter ist für die Mutter vor allem als Kunde interessant: Die Mutterfirma erzielt das Gros ihrer Profite nicht aus den Waren, welche die Filiale verkauft, sondern aus denen, die diese ihr abkaufen muß.

8 Neoimperialismus

Einem kürzlich von der UNO veröffentlichten Bericht zufolge zahlen die Tochtergesellschaften in der Dritten Welt allein für Patente, Lizenzen und Dienstleistungen den Gegenwert der Hälfte aller Neuinvestitionen, die in die „unterentwickelten“ Länder fließen. Die Superprofite, welche die Multinationalen aus den an ihre Filialen gelieferten Ausrüstungsgütern erzielen, belaufen sich zweifellos auf mindestens ebensoviel. Diese verschleierten Superprofite nehmen den immerhin recht imposanten offiziellen Angaben über die von den Multinationalen in der Dritten Welt erzielten Profitraten jeden Wert: Die Investitionen (Erdöl ausgenommen) in der südlichen Hemisphäre bringen offiziell eine Rendite von 12 Prozent des Kapitals, gegen 10 Prozent in Europa und 8,6 Prozent in Kanada.

Dies also sind die Hauptvorteile, die ein Konzern aus der Vermehrung seiner Tochterfirmen zieht. Seine „multinationalen“ Operationen sind letztlich nichts anderes als eine Praxis, die man noch vor fünf Jahren ganz einfach Wirtschaftsimperialismus oder Neokolonialismus nannte. In den fünfziger Jahren machte man in Frankreich viel Aufhebens davon: Dies war die Zeit, da amerikanische Firmen, die damals dank ihrer technischen Überlegenheit und ihren allerorts heftig begehrten Dollars noch sehr stark waren, so massiv im Ausland investierten, daß innerhalb von zwölf Jahren (1960 bis 1971) ihre internationalen Aktiva von 32 auf 86 Milliarden Dollar anstiegen. In diesen zwölf Jahren haben die amerikanischen Firmen also fast doppelt soviel im Ausland investiert wie während der ganzen vorangegangenen Geschichte.

Hartnäckig hält sich die Legende, daß diese direkten Investitionen die Hauptursache des amerikanischen Außenhandelsdefizits seien. Die Wirklichkeit ist nicht so simpel: Die neuen amerikanischen Investitionen in Europa wurden zum großen Teil von europäischen Banken und Regierungen finanziert, die sich nichts sehnlicher wünschten, als einer überseeischen Firma Geld zu leihen oder Subventionen zu geben, um sie nach Bordeaux, Dünkirchen, Rotterdam oder Bayern zu ziehen. Mehr noch, die amerikanischen Firmen haben es nicht nötig, sich in Schulden zu stürzen, um ihre Auslandsinvestitionen zu finanzieren: In den drei Jahren 1968 bis 1970 beispielsweise haben sie aus dem Ausland (hauptsächlich aus der Dritten Welt) 24,3 Milliarden Dollar an Dividenden, Zinsen, Lizenzgebühren und diversen Abgaben heimgeführt, während sie im gleichen Zeitraum nur 10,9 Milliarden Dollar im Ausland investierten.

9 Produktion im Ausland

1971, im letzten Jahr, für das vollständige Angaben vorliegen, bezogen amerikanische Firmen von ihren ausländischen Ablegern offiziell 9 Milliarden Dollar an Dividenden, Zinsen und Lizenzgebühren (genau: 6,67 Milliarden an Dividenden und Zinsen, den Rest an Lizenzgebühren). Im selben Jahr investierten sie in ihren Tochterfirmen nur 4,8 Milliarden Dollar Kapital.

Aber diese Zahlen sagen noch nicht alles; sie sind nur der sichtbare Teil eines Eisbergs. Ein multinationaler Konzern führt nur soviel von seinen Profiten zurück, wie er nicht im Ausland profitbringend wiederanlegen kann — sei es, weil der Markt in dem betreffenden Land keine zusätzliche Produktion mehr aufzunehmen vermag, sei es, weil das politische Risiko neuer Investitionen zu groß ist. Und das ist in den meisten Ländern der Dritten Welt der Fall. So führen die Multinationalen Konzerne den Großteil ihrer in den unterentwickelten Ländern erzielten Profite wieder aus — ein flagrantes Beispiel dafür ist Chile in den sechziger Jahren — und legen sie in reichen, politisch sicheren Ländern wie Kanada, Westeuropa, Australien an.

Die Tabellen der UNO sind in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich: 1970 zogen die multinationalen Konzerne aus Afrika 996 Millionen Dollar heraus, investierten dort aber nur 270 Millionen Dollar; aus Asien entnahmen sie 2400 Millionen und legten bloß 200 Millionen Dollar an; die Profitzufuhr aus Lateinamerika betrug (1968) 2900 Millionen Dollar, gegen Investitionen von 900 Millionen. Dabei sind in diesen Zahlen die geheimen Entnahmen nicht berücksichtigt, die in Lateinamerika vermutlich von der gleichen Größenordnung sind wie die deklarierten.

Im Licht dieser Daten erscheint der Imperialismus, die „Ausplünderung der Dritten Welt“, als greifbare und meßbare Realität. Die amerikanische Wirtschaft betreibt in großem Maßstab Ausbeutung und Parasitismus an der übrigen Welt. Und das ist, einem Expertenbericht der Rand Corporation zufolge, nur der Anfang. Bevor noch das Jahrhundert zu Ende ist, heißt es in dem Bericht, werden die Vereinigten Staaten ihre sämtlichen Industrieprodukte im Ausland herstellen lassen und auf ihrem Staatsgebiet nur noch wissenschaftliche und Tertiärindustrien beherbergen. Man wird vielleicht fragen, womit sie ihre Fertigwarenimporte bezahlen werden, wenn sie keine Waren mehr ausführen? Antwort: Mit den Profiten aus amerikanischen Unternehmen in allen Teilen der Welt.

Dieser Prognose zufolge werden die Amerikaner zu einem Volk von Bankbeamten, Technologen und Militärs werden, hauptsächlich damit beschäftigt, die aus der Arbeit anderer Völker gezogenen Milliarden zu schützen und gewinnbringend anzulegen.

10 Aufstand Europas?

Tut Europa es nicht in verschiedenen Teilen der Welt den Vereinigten Staaten gleich? Hat es nicht, ebenso wie Amerika, den Ehrgeiz, von den Erträgen seiner überseeischen Investitionen zu leben? Entfielen auf Europa nicht schon 1971 42,7 Prozent aller ausländischen Kapitalanlagen, gegen 52,0 Prozent für die Vereinigten Staaten? Verlieren diese nicht an Boden, da 1967 noch 55 Prozent der Auslandsinvestitionen auf sie entfielen und auf Europa nur 40,3 Prozent? Umfaßt Europa nicht alte imperiale Staaten, wie Großbritannien mit 24 Milliarden Dollar Auslandsinvestitionen (14,5 Prozent der Summe), Frankreich mit 9,5 Milliarden (5,8 Prozent), Deutschland mit 7,3 Milliarden, Holland mit 3,6 Milliarden?

Sachte. Die Wirklichkeit sieht für Europa weniger günstig aus, als diese Reminiszenzen vermuten lassen. Denn „Europa“ — wie Kissinger unlängst von oben herab zu verstehen gab — verfügt nicht über die für eine Globalstrategie erforderlichen militärischen und politischen Mittel; und seine Auslandsinvestitionen lassen sich, qualitativ gesehen, nicht mit denen der USA vergleichen. Ein Beispiel beweist dies: Das in Amerika angelegte europäische Kapital ist insgesamt ungefähr ebensogroß wie das in Europa investierte amerikanische. Doch das amerikanische Kapital kontrolliert in Europa ganze Industriezweige von strategischer Bedeutung. Das europäische Kapital in Amerika kontrolliert gar nichts: Es ist in amerikanischen Aktien und Obligationen angelegt und spielt eine untergeordnete Rolle.

Seit fünfzig Jahren verfügen die beiden wichtigsten imperialistischen Staaten Europas, Großbritannien und Frankreich, über keine ausreichende industrielle Basis mehr, um es mit dem amerikanischen Expansionismus aufnehmen und ihre eigene Weltpolitik machen zu können. Die französischen Auslandsinvestitionen sind vor allem im Bergbau angelegt und auf Afrika konzentriert; die britischen in Bank- und Handelsunternehmen. Die Auslandsinvestitionen Hollands (dank dem Philips-Konzern) und der Schweiz (Nestlé, Brown-Boveri, Hoffmann-La Roche, Sandoz u.a.) haben eine sehr moderne Struktur und stützen sich auf Spitzentechnologie; aber Holland und die Schweiz sind Kleinstaaten ohne politisches und militärisches Gewicht und daher nicht imstande, die Interessen ihrer multinationalen Firmen zu schützen und die Politik der Länder, in denen jene ihre Investitionen haben, zu beeinflussen. Daher haben Holland und die Schweiz ein ständiges Bedürfnis nach politischem und militärischem Schutz für ihre weltweiten Interessen und segeln freiwillig im Schlepptau der Vereinigten Staaten, die als einzige fähig sind, in der Welt für „Gesetz und Ordnung“ zu sorgen. Dies erklärt zum großen Teil den „Atlantismus“ Hollands, die untrakonservative Außenpolitik der Schweiz und übrigens auch die Amerikahörigkeit der britischen Politik.

Ist also die Rivalität zwischen Europa und den Vereinigten Staaten nur ein Traum? Ja und nein. Sie ist insofern Wirklichkeit, als der europäische — vor allem der deutsche und der französische — Kapitalismus neuerdings versucht, ein multinationals Industrie-Imperium vom Schlage des amerikanischen aufzubauen: Die Auslandsinvestitionen Deutschlands steigen seit 1960 im Durchschnitt um 23 Prozent jährlich, die Frankreichs haben sich 1971 verdoppelt und sind 1972 abermals um 35 Prozent gestiegen. Ein beträchtlicher Teil dieser Investitionen kommt von jungen Firmen, die noch nicht groß und finanzkräftig genug sind, um sich mit den wahren Giganten, den amerikanischen und anderen, messen zu können. Sie müssen zuerst ihre Position auf dem Binnenmarkt und dann auf dem europäischen Markt festigen. Also verlangen sie, sowohl im eigenen Land als auch im EWG-Raum, Schutz gegen die Invasion amerikanischer Konzerntöchter; sie fordern „europäische“ Zollbarrieren, eine „europäische“ Politik zur Regulierung der amerikanischen Investitionen.

Kurz, sie wollen Europa als ihr Reservat haben, bis sie stark genug sind, um an die Eroberung überseeischer Märkte gehen zu können. Dann aber wird Europa für ihren Ehrgeiz zu klein sein: „Europäischer Nationalismus“ wird für sie gegenstandslos werden, wie er es für die europäischen Giganten — Philips, Fiat, Saint-Gobain, Pechiney, Oréal, Michelin, BASF, ICI, Volkswagen und andere — heute schon ist.

Zu diesen Ergebnissen gelangen drei PSU-Ökonomen — Bernard Jaumont, Daniel Lenègre und Michel Rocard — in ihrem Buch Le Marché commun contre l’Europe (Paris 1973). Muß man daraus schließen, daß die Schaffung eines supranationalen Staates und supranationaler Institutionen für das europäische Großkapital uninteressant ist? Die drei PSU-Autoren sind dieser Meinung. Aber die Frage bleibt umstritten, und andere linke Ökonomen (besonders Ernest Mandel und Robert Rowthorn [2]) vertreten nuanciertere Auffassungen.

Sind nicht in der Tat die „europäischen“ Multinationalen mehr ‚„Atlantiker“ als „Europäer“, da es doch außer dem Pentagon und der CIA nichts gibt, was die kapitalistische Ordnung von Cap Verde bis Mozambique, von den Philippinen bis Suez, von Alaska bis Feuerland verteidigen könnte? Empfinden sie, diese „europäischen“ Großkonzerne, nicht das Bedürfnis, in Gestalt eines europäischen Bundesstaates über ein eigenes politisch-militärisches Instrument zu verfügen, um den Vereinigten Staaten das arabische Erdöl, das sibirische Erdgas, die Märkte Argentiniens und Südasiens streitig zu machen?

Das Spiel ist noch nicht entschieden. Aber die Zeit arbeitet heute nicht für Europa. Wie Levinson im Zusammenhang mit den joint ventures zeigt, schreitet die europäisch-amerikanische Konzernintegration schneller voran als die europäische Wirtschaftsintegration. Die europäischen Staaten, die dieser „transatlantischen“ Integration der Trusts und Banken die Mauer machen, lassen sich wohl oder übel überzeugen, daß die Idee der nationalen oder sogar der europäischen Souveränität überholt sei; wenn der Staat die Interessen „seiner“ Großkonzerne verteidigt, verteidigt er keine nationalen Interessen mehr, sondern einen Kapitalismus ohne Nationalität und Vaterland.

Die drei PSU-Autoren sagen dies in ihrem erwähnten Buch: „Die Regierungen der kapitalistischen Welt verkörpern immer weniger einen Imperialismus im klassischen Sinn. Ihre einzige Aufgabe ist, auf ihrem Staatsgebiet für das klaglose Funktionieren aller Unternehmen ohne Unterschied der Nationalität zu sorgen. Jede Regierung wird zur Sprecherin der Großkonzerne, woher sie auch stammen. Diese brauchen keine Weltregierung, um ihre Interessen zu wahren; es genügt ihnen, wenn in jedem einzelnen Land der weltliche Arm der kapitalistischen Gemeinschaft gegen jene vorgeht, die die Interessen des Kapitalismus im allgemeinen gefährden ... Die französische Regierung verteidigt in Neukaledonien und die portugiesische Regierung in Angola nicht nur die Interessen französischer respektive portugiesischer Firmen. Beide sind sie Werwölfe des internationalen Kapitals und sorgen bloß dafür, daß die Profitwirtschaft funktioniert.“

11 Kapitalexport in die SU

Levinson jedoch geht mit seiner Analyse noch weiter: Im Osten wie im Westen, meint er, sind die Staaten zu Herrschaftsapparaten in den Händen von „Eliten“ geworden, die einander ähneln und sich gegenseitig bei der Perpetuierung ihrer Macht helfen. Levinson erzählt die folgende wahre Anekdote:

Vor kurzem hatte eine österreichische Glasfabrik Schwierigkeiten mit ihrem Betriebsrat, der mehrheitlich aus Mitgliedern der Kommunistischen Partei Österreichs bestand. Was tut der Chef? Er beschließt, seine zweihundert Arbeiter und Angestellten zu entlassen und seine Fabrik nach Ungarn zu verlegen, wo die Löhne niedriger liegen und keine Streiks zu befürchten sind. Der Präsident der österreichischen Chemiearbeitergewerkschaft reist eilends nach Ungarn, um von seinem ungarischen Amtskollegen brüderliche Hilfe zu erbitten. Dieser gibt ihm zur Antwort: ‚Es handelt sich hier um ein wirtschaftliches Problem, das die Gewerkschaft nichts angeht‘.

Ich könnte — fährt Levinson fort — noch viele andere Geschichten über die Zusammenarbeit zwischen unseren Kapitalisten einerseits und Managern und Bürokraten des Ostens andererseits erzählen. Mehr als neunhundert westliche Firmen investieren zur Zeit im Osten. Der italienische Montedison-Konzern kündigt an, daß er 500 Millionen Dollar in sowjetischen Chemieunternehmen investieren wird. Ein Firmenkonsortium in Texas assoziiert sich mit einem sowjetischen Konsortium, um innerhalb von zwanzig Jahren 5 Milliarden Dollar zu investieren. Armand Hammer, der Präsident der Occidental Petroleum, hat mit den Russen einen Vertrag über die Errichtung von Kunstdüngerfabriken im Wert von 8 Milliarden Dollar unterzeichnet. Dafür erhielt Mr. Hammer einen großen Kredit von derselben Export-Import-Bank, die der Regierung Allende jedes Darlehen verweigerte.

Gipfel der Ironie: Als Breschnjew und Schelepin voriges Jahr in Moskau Allende ihre brüderliche Hilfe gegen die Intrigen der ITT zusicherten, hatten sie bereits mit der ITT einen Vertrag über mehrere hundert Millionen Dollar unterzeichnet; unter anderem für die Ausstattung sowjetischer Flughäfen!

Mr. Rockefeller von der Standard Oil und der Chase Manhattan Bank hat den Russen Kredite im Ausmaß von 700 Millionen Dollar gewährt; sein Vetter von der National City Bank ist ihm mit einem Kredit in gleicher Größenordnung nachgefolgt. Ich nenne das politische Päderastie: man schimpft auf den Kapitalismus, umarmt aber die Kapitalisten. Und die Kapitalisten tun in umgekehrter Richtung das gleiche. Die Eliten beider Lager haben heute fast dieselbe Ideologie, im wesentlichen die der Harvard Business School, deren Dozenten bereits nach Moskau eingeladen wurden, um dort Kurse abzuhalten: die gleichen Leitungsmethoden, die gleiche hierarchische Arbeitsteilung, die gleiche militärische Disziplin in den Betrieben von Detroit und Togliattigrad, von Chicago und Minsk. Die amerikanischen Manager zeigen der sowjetischen Bürokratie, wie sie das Profitsystem einführen kann, ohne dadurch an Macht zu verlieren. Umgekehrt hilft die sowjetische Bürokratie den Kapitalisten, auf dem Rücken der Arbeiterklasse des Westens ihre Schwierigkeiten zu überwinden.

12 Sowjetkapitalismus

Denn schließlich, halten wir uns an die Logik: Was sind diese Dollarmilliarden, die in der Sowjetunion investiert werden? Sie sind — der Marxismus hat es längst bewiesen — der akkumulierte Mehrwert aus der kapitalistischen Ausbeutung der amerikanischen und der europäischen Arbeiter. Kurz, der Aufbau des Sozialismus soll jetzt mit Hilfe der Ausbeutung unserer Arbeiter und im Bunde mit unseren Kapitalisten vor sich gehen.

(Levinson)

Die Riesenbetriebe, die „unsere“ Kapitalisten im Osten errichten, werden zum Großteil auf Koproduktionsbasis arbeiten. Das heißt, die amerikanischen und westeuropäischen Firmen werden zum Kostpreis fixe Quoten von Kunstdünger, Kunststoffen, Autoreifen und Automobilen aus der Sowjetunion erhalten (nach dem Modell Erdgas gegen westdeutsche Pipeline-Röhren); sie werden diese Waren im Westen zum Marktpreis absetzen, das heißt, mit fetten Profiten. Zusätzlich zu den Tochterbetrieben in der Dritten Welt bekommen wir also noch die Verzweigung der amerikanisch-sowjetischen, italienisch-polnischen, französisch-rumänischen usw. Trusts.

Und was geschieht, wenn unsere Arbeiter streiken? Das Problem ist klar. Dank zwanzigjährigen Bemühungen sind unsere internationalen Gewerkschaftsverbände heute in der Lage, die Arbeiter eines Konzerns in Ohio und auf den Philippinen, in Deutschland, in Venezuela und in der Schweiz zu mobilisieren, um beispielsweise — wie es uns kürzlich gelungen ist — zu verhindern, daß spanische Arbeiter, die ihren Betrieb besetzt haben, entlassen und bestraft werden, oder daß ein Tochterbetrieb in Holland stillgelegt wird, oder daß man einen Streik französischer Arbeiter durch Intensivierung der Arbeit in belgischen und deutschen Tochterbetrieben „kompensiert“. Aber die gemischten Gesellschaften mit Ost-Beteiligung drohen unseren Schlachtplan zu durchkreuzen: In den Oststaaten gibt es keine unabhängigen Gewerkschaften und kein Streikrecht, der Direktor ist Mitglied derselben Partei wie der Gewerkschaftssekretär und sorgt dafür, daß die Gewerkschaft die Produktion steigern hilft. Wenn wir unseren Forderungen mit einer multinationalen Aktion Nachdruck verleihen wollen, werden unsere Gewerkschafter also außer unseren eigenen Managern und Machthabern auch noch die Manager, die Machthaber und die Gewerkschaften der Oststaaten gegen sich haben.

Das sind keine bloßen Hypothesen, sondern Gewißheiten. Bei einem kürzlichen Besuch in der Sowjetunion fragte eine Delegation der italienischen CGIL sowjetische Gewerkschaftsvertreter: „Wenn bei Fiat in Italien gestreikt wird, können wir dann auf die Solidarität der sowjetischen Fiat-Kollegen zählen?“ Die Antwort: „Das sind politische Fragen. Bei uns machen die Gewerkschaften keine Politik.“

Was können wir also tun?

Der Kampf der Arbeiter gegen die Hierarchie und für die Arbeitermacht muß im Osten ebenso wie im Westen geführt werden. Zu diesem Zweck müssen wir trachten, mit den wahren Vertretern der Arbeiter im Osten Kontakt aufzunehmen. Geist und Methoden des Arbeiterkampfes müssen sich nun von Westen nach Osten ausbreiten, nicht mehr in umgekehrter Richtung.

Das ist der beste Dienst, den wir der sowjetischen Wirtschaft und dem sowjetischen Volk leisten können. Denn, wohlgemerkt, die amerikanischen Management-Merhoden sind nicht an sich effizient. Was sie effizient macht, ist der konstante Druck der Gewerkschaften, die Weigerung der Arbeiter, sich alles gefallen zu lassen: Das zwingt die Manager, sich anzustrengen und unaufhörlich neue Maschinen zu erfinden. Wenn die Russen unsere Manager übernehmen, sollten sie auch unsere Gewerkschaften übernehmen; andernfalls werden sie die gleiche Art von Katastrophe erleben wie jene Länder — Griechenland, Portugal, Griechenland, Südafrika —, die amerikanisches Management mit einheimischem Autoritatismus verbinden.

[1L’Inflation mondiale et les firmes multinationales, Paris 1973, und Industry’s Democratic Revolution, London 1973.

[2Ernest Mandel, Der Spätkapitalismus, Frankfurt 1972; Bob Rowthorn, Imperialism: Unity or Rivalry, in: New Left Review, Nr. 69.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1973
, Seite 14
Autor/inn/en:

Michel Bosquet: Pseudonym von André Gorz, unter dem dieser in seiner journalistischen Tätigkeit auftrat.

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