FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 132
Hans Kelsen

Die Funktion der Verfassung

Das Recht ist ein System von Normen; und Normen sind der Sinn von Willensakten, die auf das Verhalten anderer gerichtet sind. Diese Willensakte sind Willensakte von Menschen oder von übermenschlichen Wesen wie die Willensakte Gottes oder — wie im Falle des sogenannten Naturrechts — der Natur. Aber als Rechtsnormen, oder genauer: als Normen eines positiven Rechts kommen nur Normen in Betracht, die der Sinn von menschlichen Willensakten sind. Sie haben die Eigentümlichkeit, ihre eigene Erzeugung und Anwendung zu regeln.

Auf das Verhalten anderer gerichtete Willensakte sind — in erster Linie — Befehle. Aber nicht jeder Befehl ist eine Norm, und nicht jede Norm ist ein Befehl. Eine Norm kann auch eine Ermächtigung sein, Befehle zu geben. Wenn mir ein Straßenräuber befiehlt, ihm mein Geld zu geben, so ist der Sinn seines Willensaktes, d.i. seines Befehls, keine Norm. Wenn ich mich weigere, seinen Befehl zu befolgen, verletze ich keine Norm. Der subjektive Sinn seines Willensaktes: daß ich ihm mein Geld geben soll, wird nicht als sein objektiver Sinn, und das heißt: als eine verbindliche Norm gedeutet: so wie etwa der an mich gerichtete Befehl eines Steuerbeamten, daß ich eine bestimmte Geldsumme leisten soll. Warum ist der Sinn des Willensaktes, das Sollen, in dem einen Fall auch der objektive Sinn des Aktes, d.h. eine verbindliche, gültige Norm, in dem anderen Falle aber nicht? Das bedeutet aber: Was ist der Grund der Geltung der nur in dem einen, nicht aber in dem anderen Falle vorliegenden Norm? Die Antwort ist: weil in dem einen Fall — dem des Befehls des Steuerbeamten — der Akt, dessen Sinn ein Sollen ist, durch eine gültige Norm ermächtigt ist, in dem anderen Falle aber nicht. Durch diese den Akt ermächtigende Norm wird der subjektive Sinn des Aktes auch sein objektiver Sinn: eine verbindliche, gültige Norm. Die ermächtigende höhere Norm ist der Geltungsgrund der ermächtigten niederen Norm.

Die Annahme, daß der Geltungsgrund einer niederen Norm die Geltung einer höheren Norm ist, scheint zu einem regressus in infinitum zu führen. Denn die höhere, ermächtigende Norm ist selbst der subjektive Sinn eines auf das Verhalten anderer gerichteten Willensaktes; und nur wenn auch dieser Akt durch eine noch höhere Norm ermächtigt ist, ist sein subjektiver Sinn auch sein objektiver Sinn, das heißt eine verbindliche, gültige Norm. Ich will dies an einem einfachen Beispiel erläutern: Ein Vater richtet an seinen Sohn die individuelle Norm: „Geh in die Schule.“ Der Sohn fragt den Vater: „Warum soll ich in die Schule gehen?“ Das heißt, er fragt, warum der subjektive Sinn des Willensaktes seines Vaters dessen objektiver Sinn, d.h. eine für ihn verbindliche Norm ist, oder, was dasselbe bedeutet: was der Geltungsgrund dieser Norm ist. Darauf der Vater: „Weil Gott geboten hat, den Eltern zu gehorchen, d.h. die Eltern ermächtigt hat, den Kindern Befehle zu geben.“ Darauf der Sohn: „Warum soll man den Geboten Gottes gehorchen?”“ Was soviel bedeutet wie: warum ist der subjektive Sinn dieses Willensaktes Gottes auch sein objektiver Sinn, d.h. eine gültige Norm, oder was dasselbe bedeutet: was ist der Geltungsgrund dieser generellen Norm? Worauf die einzig mögliche Antwort ist: weil man als gläubiger Mensch voraussetzt, daß man den Geboten Gottes gehorchen soll. Es ist die Aussage über die Geltung einer Norm, die im Denken eines gläubigen Menschen vorausgesetzt werden muß, um die Geltung der Normen der religiösen Moral zu begründen. Es ist die Grundnorm einer religiösen Moral, die die Geltung aller Normen dieser Moral begründet, eine „Grund“-Norm, weil nach dem Grund ihrer Geltung nicht mehr gefragt werden kann. Es ist keine positive, d.h. keine durch einen realen Willensakt gesetzte, sondern eine im Denken eines gläubigen Menschen vorausgesetzte Norm.

Recht und Moral

Nehmen wir nun ein Beispiel aus dem Gebiete des Rechts. Der Unterschied zwischen Recht und Moral besteht darin, daß das Recht eine Zwangsordnung ist, das heißt, daß das Recht ein bestimmtes Verhalten der Menschen dadurch herbeizuführen sucht, daß es an das gegenteilige Verhalten einen Zwangsakt, die zwangsweise Entziehung des Lebens, der Freiheit, wirtschaftlicher oder anderer Werte als Sanktion knüpft. Wenn jemand stiehlt, soll er — wenn nötig zwangsweise — ins Gefängnis gesetzt werden. Durch diese Norm verbietet das Recht Stehlen. Auch die Moral sucht ein bestimmtes Verhalten der Menschen herbeizuführen, und auch die Moral sieht Sanktionen vor. Aber diese Sanktionen sind die Billigung des moralgemäßen und die Mißbilligung des moralwidrigen Verhaltens, keine Zwangsakte: und diese Sanktionen fungieren nicht als die Mittel, durch die das moralgemäße Verhalten herbeigeführt werden soll.

Die generelle Rechtsnorm: „Wenn jemand stiehlt, soll er ins Gefängnis gesetzt werden“, ist zunächst nur der subjektive Sinn eines Willensaktes des Gesetzgebers. Sie wird angewendet durch die richterliche Entscheidung, daß Maier, der dem Schulze ein Pferd gestohlen hat, für ein Jahr ins Gefängnis gesetzt werden soll. Diese richterliche Entscheidung wird als eine verbindliche, gültige, individuelle Norm gedeutet. Aber sie ist zunächst auch nur der subjektive Sinn eines auf das Verhalten eines Exekutivorganes gerichteten Willensaktes des Richters. Wenn wir diesen subjektiven Sinn auch als den objektiven Sinn, d.h. als eine verbindliche Norm — und sohin den diesen Akt setzenden Menschen als „Richter“ — deuten, so darum, weil dieser Akt durch eine in einem Gesetz enthaltene generelle Norm: „Wenn ein Mensch stiehlt, soll der zuständige Richter ihn mit Gefängnis bestrafen“, ermächtigt ist. Die Geltung der niederen, individuellen Norm wird durch die Geltung der höheren, generellen Norm begründet. Und der Richter begründet seine Entscheidung tatsächlich damit, daß sie einer geltenden generellen, ihn ermächtigenden Rechtsnorm entspricht.

Aber auch die generelle, in einem Gesetz enthaltene Norm, sowie das ganze Gesetz, ist zunächst — wie bemerkt — nur der subjektive Sinn des Willensaktes eines Menschen oder der Mehrheit der einen gesetzgebenden Körper bildenden Menschen. Die wesentliche Funktion eines Gesetzgebers ist die Setzung genereller Normen, die das Verfahren der rechtsanwendenden Organe, insbesondere der Gerichte, und den Inhalt der von diesen Organen zu setzenden individuellen Normen bestimmen. Zwar kann ein „Gesetz“ auch anderes als solche generelle Normen enthalten. Deshalb unterscheidet man „Gesetz“ im formellen Sinn von „Gesetz“ im materiellen Sinn, richtiger aber: „Gesetzes-Form“ von „Gesetz“, d.h. ein bestimmtes Verfahren von der wesentlichen Funktion dieses Verfahrens: der Erzeugung genereller Normen.

Fragt man, warum der subjektive Sinn des Aktes des Gesetzgebers auch sein objektiver Sinn, d.h. eine generelle Norm, der diesen Akt setzende Mensch ein „Gesetzgeber“, mit anderen Worten: was der Geltungsgrund der durch den Akt des Gesetzgebers gesetzten Norm ist, lautet die Antwort: weil der Akt, dessen subjektiver Sinn die generelle Norm ist, durch die Verfassung ermächtigt ist. In dieser Ermächtigung bestimmter Menschen, generelle Normen zu erzeugen, liegt die wesentliche Funktion der Verfassung. Wenn man verschiedene Staatsformen — wie Monarchie, Aristokratie, Demokratie — unterscheidet, so liegt das entscheidende Kriterium darin, daß die Verfassung in dem ersten Fall ein einzelnes bestimmt qualifiziertes Individuum, in dem zweiten Fall eine verhältnismäßig beschränkte Gruppe bestimmt qualifizierter Individuen, im dritten Falle — wie man ungenau zu sagen pflegt — das ganze Volk, richtiger: eine Volksversammlung oder ein vom Volk gewähltes Parlament ermächtigt, generelle Normen zu erzeugen.

Zwar enthält das Dokument, das man als „Verfassung“ bezeichnet, zumeist auch andere Bestimmungen als eine solche Ermächtigung. Daher muß man zwischen Verfassung im formellen und Verfassung im materiellen Sinn, richtiger zwischen Verfassungs-Form und Verfassung, unterscheiden. Verfassungs-Form ist ein bestimmtes Verfahren, in dem eine irgendwie zustande gekommene Verfassung im materiellen Sinne erzeugt bzw. abgeändert werden kann. Dieses Verfahren unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren im wesentlichen, wenn auch nicht immer allein, dadurch, daß das Zustandekommen eines gültigen Beschlusses, d.i. des verfassungserzeugenden, verfassungsändernden Willensaktes, an erschwerende Bedingungen geknüpft ist. Der Zweck dieser Erschwerung ist, der Ermächtigung zur Erzeugung genereller Rechtsnormen, d.i. der Staatsform, größtmögliche Stabilität zu verleihen. Mitunter enthält eine Verfassung, d.h. das so benannte Dokument, die Bestimmung, daß die das Verfahren der Gesetzgebung regelnden Normen überhaupt nicht oder doch nicht so geändert werden dürfen, daß dadurch die Staatsform geändert wird.

Fragt man nach dem Geltungsgrund einer gegebenen Verfassung, kann die Antwort sein, daß sie im Wege der Änderung einer vorangegangenen Verfassung zustande gekommen ist, und daß diese Änderung auf die Weise erfolgte wie Verfassungsänderungen auf Grund der vorangegangenen Verfassung zu erfolgen haben. So kann man auf eine historisch erste Verfassung zurückkommen. Auch diese historisch erste Verfassung ist zunächst der subjektive Sinn eines Willensaktes oder einer Vielheit von Willensakten; und fragt man, warum der subjektive Sinn des verfassungsgebenden Aktes auch sein objektiver Sinn, d.h. eine gültige Norm ist, oder mit anderen Worten: was der Geltungsgrund dieser Norm ist, lautet die Antwort: weil man als Jurist voraussetzt, daß man sich so verhalten soll, wie die historisch erste Verfassung vorschreibt. Das ist die Grundnorm. Diese Grundnorm ermächtigt das Individuum oder die Summe von Individuen, die die historisch erste Verfassung gesetzt haben, zur Setzung der Normen, die die historisch erste Verfassung darstellen. Ist die historisch erste Verfassung durch den Beschluß einer Versammlung gesetzt worden, sind es die diese Versammlung bildenden Individuen, ist die historisch erste Verfassung im Wege der Gewohnheit entstanden, ist es diese Gewohnheit, richtiger: sind es die Individuen, deren Verhalten die die historisch erste Verfassung erzeugende Gewohnheit bildet, die durch die Grundnorm ermächtigt werden.

Norm und Gerechtigkeit

Dies ist die Grundnorm der letztlich auf der historisch ersten Verfassung beruhenden Rechtsordnung; die „Grund“-Norm, weil nach dem Grund ihrer Geltung nicht weiter gefragt werden kann, denn sie ist keine gesetzte, sondern eine vorausgesetzte Norm. Es ist keine positive, durch einen realen Willensakt gesetzte, sondern eine im juristischen Denken vorausgesetzte Norm. Sie stellt den letzten Geltungsgrund aller die Rechtsordnung bildenden Rechtsnormen dar. Nur eine Norm kann der Geltungsgrund einer anderen Norm sein.

Will man das Wesen der Grundnorm erkennen, muß man sich vor allem bewußt bleiben, daß sie sich unmittelbar auf eine bestimmte, tatsächlich gesetzte, durch Gewohnheit oder Satzung erzeugte Verfassung, das heißt aber auf den Tatbestand bezieht, durch den die Verfassungsnormen gesetzt werden, die der subjektive Sinn dieses Tatbestandes sind; mittelbar aber auf die gemäß der Verfassung tatsächlich gesetzten generellen und individuellen Normen der Rechtsordnung, das heißt aber, daß sich die Grundnorm mittelbar auf die Tatbestände bezieht, deren subjektiver Sinn diese Normen sind. Das bedeutet aber, daß sich die Grundnorm nur auf eine wirksame Verfassung bezieht, d.h. auf eine Verfassung gemäß welcher Gesetze und gesetzmäßige richterliche Entscheidungen und Verwaltungsbescheide tatsächlich gesetzt werden.

Die Grundnorm ist somit nicht das Produkt freier Erfindung. Sie ist auf bestimmte, in der natürlichen Wirklichkeit existente Tatsachen, auf eine wirklich gesetzte und wirksame Verfassung und die ihr gemäß tatsächlich gesetzten normerzeugenden und normanwendenden Tatbestände bezogen. Welchen Inhalt diese Verfassung oder die auf ihrer Grundlage errichtete staatliche Rechtsordnung hat, ob diese Ordnung gerecht oder ungerecht ist, kommt dabei nicht in Frage; auch nicht, ob diese Rechtsordnung tatsächlich einen relativen Friedenszustand innerhalb der durch sie konstituierten Gemeinschaft garantiert. In der Voraussetzung der Grundnorm wird kein dem positiven Recht transzendenter Wert bejaht.

Sofern nur durch die Voraussetzung der Grundnorm ermöglicht wird, den subjektiven Sinn des verfassungsgebenden Tatbestandes und der der Verfassung gemäß gesetzten Tatbestände als deren objektiven Sinn, die Normen, die der subjektive Sinn dieser Tatbestände sind, als objektiv gültige Rechtsnormen zu deuten, kann die Grundnorm in ihrer Darstellung durch die Rechtswissenschaft — wenn ein Begriff der Kant’schen Erkenntnistheorie per analogiam angewendet werden darf — als die transzendental-logische Bedingung der Urteile bezeichnet werden, mit denen die Rechtswissenschaft das Recht als objektiv gültige Ordnung beschreibt.

So wie Kant fragt: wie ist eine von aller Metaphysik freie Deutung der unseren Sinnen gegebenen Tatsachen in den von der Naturwissenschaft formulierten Naturgesetzen möglich, so fragte eine reine Rechtslehre: wie ist eine nicht auf meta-rechtliche Autoritäten wie Gott oder Natur zurückgreifende Deutung des subjektiven Sinns gewisser Tatbestände als ein System in Rechtssätzen beschreibbarer, objektiv gültiger Rechtsnormen möglich? Die erkenntnistheoretische Antwort einer reinen Rechtslehre lautet: unter der Bedingung, daß man die Grundnorm voraussetzt: man soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt, das heißt, wie es dem subjektiven Sinn des verfassungsgebenden Willensaktes, den Befehlen des Verfassungsgebers, entspricht. Die Funktion dieser Grundnorm ist, die objektive Geltung einer positiven Rechtsordnung — d.i. der durch menschliche Willensakte gesetzten Normen einer im großen und ganzen wirksamen Zwangsordnung — zu begründen, das heißt: den subjektiven Sinn dieser Akte als ihren objektiven Sinn zu deuten.

Die Grundnorm kann man Verfassung im transzendentallogischen Sinne zum Unterschied von der Verfassung im positiv-rechtlichen Sinne nennen. Diese ist die durch menschliche Willensakte gesetzte Verfassung, deren Geltung durch die vorausgesetzte Grundnorm begründet wird.

Die Grundnorm kann, muß aber nicht vorausgesetzt werden. Was die Ethik und Rechtswissenschaft von ihr aussagen, ist: Nur wenn sie vorausgesetzt wird, kann der subjektive Sinn der auf das Verhalten anderer gerichteten Willensakte auch als ihr objektiver Sinn, können diese Sinngehalte als verbindliche Moral- oder Rechtsnormen gedeutet werden. Da diese Deutung durch die Voraussetzung der Grundnorm bedingt ist, muß zugegeben werden, daß Soll-Sätze nur in diesem bedingten Sinn als objektiv gültige Moral- oder Rechtsnormen gedeutet werden können.

Gegen die Annahme einer nicht durch einen realen Willensakt gesetzten, sondern nur im juristischen Denken vorausgesetzten Norm kann man geltend machen, daß eine Norm nur der Sinn eines Willensaktes, nicht eines Denkaktes sein kann, daß zwischen Sollen und Wollen eine wesentliche Korrelation besteht. Diesem Einwand kann man nur dadurch begegnen, daß man zugibt, daß mit der gedachten Grundnorm auch eine imaginäre Autorität mitgedacht werden muß, deren — fingierter — Willensakt die Grundnorm zu seinem Sinn hat.

Mit dieser Fiktion gerät die Annahme der Grundnorm in Widerspruch zu der Annahme, daß die Verfassung, deren Geltung die Grundnorm begründet, der Sinn des Willensaktes einer höchsten Autorität ist, über der es keine höhere Autorität geben kann. Damit wird die Grundnorm zu einer echten Fiktion im Sinne der Vaihinger’schen Philosophie des Als-Ob. Eine Fiktion ist dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht nur der Wirklichkeit widerspricht, sondern auch in sich selbst widerspruchsvoll ist. Denn die Annahme einer Grundnorm — wie etwa der Grundnorm einer religiösen Moralordnung: „Man soll den Geboten Gottes gehorchen“, oder der Grundnorm einer Rechtsordnung „Man soll sich so verhalten, wie die historisch erste Verfassung bestimmt“ widerspricht nicht nur der Wirklichkeit, da keine solche Norm als Sinn eines wirklichen Willensaktes vorhanden ist, sondern sie ist auch in sich selbst widerspruchsvoll, da sie die Ermächtigung einer höchsten Moral- oder Rechtsautorität darstellt, und damit von einer noch über dieser Autorität stehenden — allerdings nur fingierten — Autorität ausgeht.

Eine Fiktion ist nach Vaihinger ein Denkbehelf, dessen man sich bedient, wenn man den Denkzweck mit dem gegebenen Material nicht erreichen kann. Der Denkzweck der Grundnorm ist: die Begründung der Geltung der eine positive Moral- oder Rechtsordnung bildenden Normen, das ist die Deutung des subjektiven Sinnes der diese Normen setzenden Akte als deren objektiven Sinn, das heißt aber als gültige Normen und der betreffenden Akte als norm-setzende Akte. Dieses Ziel ist nur im Wege einer Fiktion zu erreichen. Daher ist zu beachten, daß die Grundnorm im Sinne der Vaihinger’schen Als-Ob-Philosophie keine Hypothese ist — als was ich selbst sie gelegentlich gekennzeichnet habe — sondern eine Fiktion, die sich von einer Hypothese dadurch unterscheidet, daß sie von dem Bewußtsein begleitet wird oder doch begleitet werden soll, daß ihr die Wirklichkeit nicht entspricht.

Hiererchie der Normen

Darin, daß die Geltung einer Norm die Geltung einer anderen Norm in der einen oder in der anderen Weise begründet, liegt das Verhältnis zwischen einer höheren und einer niederen Norm. Eine Norm ist im Verhältnis zu einer anderen Norm die höhere im Verhältnis zu einer niederen, wenn die Geltung dieser durch die Geltung jener begründet ist. Ist die Geltung der niederen Norm durch die Geltung der höheren Norm dadurch begründet, daß die niedere Norm in der Weise erzeugt wurde, wie es die höhere Norm vorschreibt, dann hat die höhere Norm im Verhältnis zur niederen Verfassungs-Charakter; da ja das Wesen der Verfassung in der Regelung der Normerzeugung besteht. Dann ist das Gesetz, das das Verfahren regelt, in dem die rechtsanwendenden Organe, insbesondere die Gerichte, die individuellen Normen erzeugen, „Verfassung“ im Verhältnis zu dem Verfahren dieser Organe, wie die „Verfassung“ im engeren spezifischen Sinne des Wortes dies ist im Verhältnis zum Gesetzgebungsverfahren, und die Verfassung im transzendental-logischen Sinne im Verhältnis zu der historisch ersten Verfassung, der Verfassung im positivrechtlichen Sinne.

Der Begriff der Verfassung ist solcherart relativiert. Von der Grundnorm aus gesehen, ist sowohl eine positive Moralordnung wie eine positive Rechtsordnung ein Erzeugungs-Zusammenhang, insoferne, als die Grundnorm nur bestimmt, von wem die Normen der Moral- oder Rechtsordnung gesetzt werden sollen, d.h.: nur die oberste normsetzende Autorität ist bestimmt, ohne den Inhalt der von dieser ermächtigten Autorität zu setzenden Normen zu bestimmen. Die von der durch die Grundnorm ermächtigten obersten Moral- oder Rechtsautorität — Gott; Verfassungsgeber — gesetzten Normen können selbst wieder andere Autoritäten ermächtigen, Normen zu setzen, und dabei den Inhalt der zu setzenden Normen bestimmen oder nicht bestimmen. Von der durch die Grundnorm ermächtigten obersten Moral- oder Rechts-Autorität aus gesehen, ist das Gefüge der die Moral- oder Rechtsordnung bildenden positiven Normen nicht notwendigerweise ein bloßer Erzeugungs-Zusammenhang.

Im Bereich der Moral ist dies offenkundig, da die oberste Moral-Autorität niemals eine andere, niedere Autorität ermächtigt, Normen beliebigen Inhalts zu setzen. Die von Paulus proklamierte Norm: „Man soll der Obrigkeit gehorchen“, bedeutet gewiß nicht, daß man auch einem Befehl der Obrigkeit gehorchen soll, der gegen gewisse von Gott direkt gesetzte Normen, wie „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“, verstößt. Im Bereich des Rechtes ist dies — in der Regel — ebenso, da die Verfassung sich zumeist nicht darauf beschränkt, das Verfahren der Erzeugung genereller Rechtsnormen — die sogenannte Gesetzgebung — zu bestimmen, sondern sehr häufig auch den Inhalt künftiger Gesetze zumindest negativ bestimmt, indem sie gewisse Inhalte, wie Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung, der Religionsfreiheit, oder die Berücksichtigung gewisser Ungleichheiten, wie die der Rasse, ausschließt.

Aber die von dem Gesetzgeber gesetzten generellen Normen bestimmen immer nicht nur das Verfahren der Organe, die diese Normen anzuwenden haben, sondern auch den Inhalt dieser Normen, so daß auch eine positive Rechtsordnung, zumindest von den Gesetzen aus gesehen, kein bloßer Erzeugungszusammenhang ist. Doch ist eine Rechtsordnung denkbar, die diesen Charakter hat: Die Rechtsordnung des Idealstaates Platons ermächtigte die Richter, ohne an generelle, vorbestimmte Normen gebunden zu sein, individuelle Fälle nach ihrem Ermessen zu entscheiden.

Auf alle Fälle stellt eine positive Rechtsordnung nicht ein System gleichgeordneter, sondern über- und untergeordneter Normen, das heißt, einen Stufenbau von Normen dar, dessen oberste Stufe die durch die vorausgesetzte Grundnorm in ihrer Geltung begründete Verfassung und dessen unterste Stufe die individuellen, ein bestimmtes konkretes Verhalten als gesollt setzenden Normen sind: wobei immer die Geltung der höheren, die Erzeugung der niederen Norm regelnden Norm die Geltung dieser niederen Norm begründet.

Die Funktion der Verfassung ist Geltungsbegründung.

Der obenstehende Text war dazu bestimmt, von Hans Kelsen als Hauptreferat auf dem 2. Österreichischen Juristentag gesprochen zu werden. Eine Erkrankung hat es nicht dazu kommen lassen. Wir freuen uns über die Erlaubnis des Altmeisters der Wiener Rechtsschule, den Text hiemit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1964
, Seite 583
Autor/inn/en:

Hans Kelsen:

Foto: Von Georg Fayer (1892–1950) - Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek,Inv.-Nr. Pf 6505 C(3)https://onb.digital/result/BAG_8026867, Bild-PD-alt, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=11594084

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