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Günther Anders

Die Apokalypse-Stummheit

Für das Enorme war plausiblerweise die normale menschliche Sprache nicht „gemacht“, auf dessen Benennung, Darstellung und Bewältigung nicht vorbereitet. [1] Der Aufgabe, das Maß- und Grenzenlose, mit dem wir uns seit 1945 pausenlos konfrontiert wissen – nein: eben kaum „wissen“, mit dem wir konfrontiert eben „nur“ sind – der Aufgabe, die mögliche Auslöschung der Menschen sprachlich zu bewältigen, diese Möglichkeit unseren Mitmenschen mitzuteilen und diese Mitmenschen angemessen zu erschrecken – dieser Aufgabe sind wir nicht gewachsen; begreiflicherweise nicht – und dies, obwohl es keine Aufgabe gibt, deren Erfüllung auch nur annähernd so wichtig wäre.

Der Tatsache, von der ich vor 35 Jahren beim ersten Versuch, die atomare Situation zu durchdenken, ausgegangen war: der Tatsache, dass wir unfähig bleiben, uns das Enorme, obwohl wir selbst, mindestens unsereins, es herstellen, vorzustellen [2] oder auch nur angemessen zu fühlen, dieser Tatsache unserer „Apokalypseblindheit“ entspricht nun auch unser Sprechen. Womit ich meine:
Was zu groß für unsere Vorstellung ist, das ist auch zu groß für unsere Sprache, das können wir nicht in Worte fassen, das ist „unsäglich“. (Und umgekehrt.) Kurz: wir sind auch „apokalypsestumm“.

Natürlich bedeutet diese Feststellung nicht, dass wir (womit viele Trivialirrationalisten sogar gerne prahlen) außerstande seien, das zu Große (damit das Wichtigste) denkend zu bewältigen, sogar froh darüber sein sollten, das denkend nicht zu können. Und nicht etwa, dass wir das nur als Fühlende könnten (und dass wir darauf sogar stolz sein dürften).

Reinster Unsinn! Was gilt, ist sogar das Gegenteil davon. Nicht, dass wir irrational seien, behaupte ich. Umgekehrt gerade, dass wir „inemotional“ sind. Das heißt: außerstande, das zu Große zu fühlen. (Es zu denken sind wir sogar mehr oder weniger fähig.) Denn zu denken, wenigstens irgendwie zu meinen, dass es durch einen Atomkrieg mit dem Leben hienieden zu Ende wäre, dieses Ungeheuerliche zu meinen, dazu sind wir ja sogar imstande; fast jeder „versteht“ mich ja, wenn ich diesen Satz ausspreche, worin immer auch dieses „Verstehen“ bestehen mag. [3]

In anderen Worten: „beschränkt“, und zwar aufs Verhängnisvollste, sind wir nicht als Denkende, sondern gerade als emotionale Wesen. „Gefühlsidioten“ sind wir.

Aus dem § 1 von „Sprache und Endzeit“ (= Die Antiquiertheit des Menschen, Dritter Band), Erstabdruck in FORVM Nr. 423/424, März/April 1989, S. 4. © Gerhard Oberschlick.

[1Ich verwende zur Benennung des alle „proportiones humanas“ Überragenden nicht, wie Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“, den Ausdruck „erhaben“. Noch Oppenheimer hat, überwältigt durch den ersten Atompilz, das Wort „grandios“ ausgesprochen und, „gebildet“ im falschen Moment, sogar einen theologischen Text zitiert. – Nein, der Augenblick des atomaren Blitzes, der Anblick des vernichteten Hiroshima und der Ausblick auf die unentrinnbare Wiederholung, die sind wahrhaftig nicht „grandios“ oder „erhaben“.

[2„Die Antiquiertheit des Menschen“ Bd. I, S. 235 ff.

[3In der Tat in sehr wenigem. Denn dieses Verstehen bleibt ja so fern vom „Verstandenen“, so unbeteiligt, dass man es geradezu als blödes Verstehen bezeichnen dürfte. Leider gilt (um Hegels Wortspiel zu übernehmen), dass nicht alles, was ich meinen kann, dadurch automatisch auch schon „meines“ sein oder werden kann.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
2014
, Seite 10
Autor/inn/en:

Günther Anders:

Günther Anders wurde am 12. Juli 1902 in Breslau geboren. Nach dem Studium der Philosophie 1924 Promotion bei Husserl. Danach gleichzeitig philosophische, journalistische und belletristische Arbeit in Paris und Berlin. 1933 Emigration nach Paris, 1936 nach Amerika. Dort viele „odd jobs“, unter anderem Fabrikarbeit, aus deren Analyse sich später sein Hauptwerk ‚Die Antiquiertheit des Menschen‘ ergab. Ab 1945 Versuch, auf die atomare Situation angemessen zu reagieren. Mitinitiator der internationalen Anti-Atombewegung. 1958 Besuch von Hiroshima. 1959 Briefwechsel mit dem Hiroshima—Piloten Claude Eatherly. Stark engagiert in der Bekämpfung des Vietnamkrieges. — Auszeichnungen: 1936 Novellenpreis der Emigration, Amsterdam; 1962 Premio Omegna (der ,Resistanza Italiana‘); 1967 Kritikerpreis; 1978 Literaturpreis der ‚Bayerischen Akademie der Schönen Künste‘; 1979 Österreichischer Saatspreis für Kulturpublizistik; 1980 Preis für Kulturpublizistik der Stadt Wien; 1983 Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt; 1992 Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Günther Anders starb am 17.12.1992 in Wien.

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