FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1971 » No. 214/I/II
Hans G. Helms

Der wunderliche Kracauer

Zu seinen Schriften (II)

Wie man sich der Kracauerschen Erkenntnisse versichern und zugleich die ihnen immanente politische Virulenz neutralisieren wollte, das hat die Publikationspraxis bestimmt, denen seine Schriften in der BRD unterworfen worden sind. Sein zumindest nach außen hin einflußreichstes Werk „Von Caligari bis Hitler“ ist 1958 in eine populärwissenschaftliche Taschenbuchreihe, „rowohlts deutsche enzyklopädie“, eingereiht und damit zu den historischen Akten gelegt worden. Außerdem hat man nicht angestanden, es um justament solche Passagen zu kürzen, ohne deren Kenntnis Kracauers Analysen des präfaschistischen und des faschistischen Films in der Luft zu schweben scheinen. [22]

Noch übler steht es um Kracauers epochale Analyse „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“, 1929 geschrieben und in Fortsetzungen in der „Frankfurter Zeitung“ veröffentlicht, 1930 kurz nacheinander in 2 Auflagen als Buch erschienen. Blochs Besprechung, aus der bereits zitiert worden ist, und zwei bis heute nicht wieder zugänglich gemachte Rezensionen Walter Benjamins, deren eine den unzweideutigen Titel „Politisierung der Intelligenz“ trägt, [23] werfen Licht auf ihre damalige Wirkung auf die bildungsprivilegierten Schichten, deren falschen, weil unfundierten Radikalismus er darin, wie zitiert, ebenso scharf wie begründet angreift.

„Die Angestellten“ sind 1959 neu aufgelegt worden, ausgerechnet im Verlag für Demoskopie, einem Subunternehmen jenes Allensbacher Instituts für demoskopische Meinungsmache im Interesse der herrschenden Bourgeoisie. Der Untertitel ist verändert worden in „Eine Schrift vom Ende der Weimarer Republik“, und wem der neutralisierende Untertitel es noch nicht sonnenklar gemacht haben sollte, daß die Aktualität dieser Schrift mit der Weimarer Republik dahingegangen sei, dem erklärt der Verlagsinhaber, Herausgeber und CDU-Parlamentarier Erich Peter Neumann, daß lediglich Kracauers Interviewtechnik „den Verlag bewogen“ habe, „das kleine Werk wieder in Umlauf zu bringen. ‚Die Angestellten‘ sind der Auftakt einer Reihe, in der klassische Zeugnisse der Umfrageforschung nach und nach gleichsam archiviert werden sollen.“ [24] Es versteht sich, daß mit Hilfe dieser Publikationspraxis Kracauers Analyse um ebendas gebracht werden soll und wohl auch gebracht worden ist, was Ernst Bloch an ihr als das „Tendenziöse“ hervorgehoben hat, als Engagement für die Arbeiterklasse „im Morgengrauen des Revolutionstages“, wie Walter Benjamins Rezension endet. [24a]

1962 hat der Paul-List-Verlag Kracauers Monographie über „Jacques Offenbach und seine Zeit“, diesmal schon im Obertitel als „Pariser Leben“ verniedlicht, in deutscher Sprache vorgelegt, versteckt in einem feinen Schuber, dessen possierliche Graphik eine Operettenwelt assoziieren macht und von der Herrschaft der Bankiers über das Frankreich Louis Philippes und Napoleons III. schön ablenkt, wovon im Buch vor allem die Rede ist. Die auf der Titelseite vermerkte Genrebezeichnung „Eine Gesellschaftsbiographie“ nimmt man ob solcher Aufmachung kaum noch wahr. [25]

Freilich paßt sie ohnehin besser auf jenes seltsame Stück Prosa, das zuerst 1928 anonym erschienen ist als „Ginster, von ihm selbst geschrieben“. Unter seines Verfassers Namen ist dieses literarische Opus, das sich einer kategorialen Einordnung ebenso widersetzt wie die in Methode, Technik, Inhalt und Tendenz sehr verwandten Prosastücke Robert Walsers, 1963 von Suhrkamp neu veröffentlicht worden.

Im selben Jahr und ebenfalls bei Suhrkamp hat Kracauer einen Band Essays unter dem Titel „Ornament der Masse“ publizieren können und 1964 ebendort ein zweites Bändchen mit Essays und Feuilletons, mehr schlecht als recht durch den an Benjamin gemahnenden Titel „Straßen in Berlin und anderswo“ zusammengebunden, und seine umfängliche „Theorie des Films“.

Der größere Teil des Kracauerschen Gesamtwerks ist noch immer unzugänglich, verstreut in Zeitungen und Zeitschriften oder gänzlich unpubliziert. Es fehlen eine Neuausgabe seiner 1922 veröffentlichten Studie „Soziologie als Wissenschaft“ und eine deutsche Übersetzung des 1969 posthum herausgegebenen Werks „History“. Es fehlen die zahlreichen Abhandlungen, Essays, Berichte, Feuilletons und kleinen Prosastücke in deutscher, französischer und englischer Sprache. Es fehlen die überhaupt nur im Manuskript existierenden Arbeiten wie der umfängliche Traktat „Der Detektiv-Roman“ von 1925 und das zwischen 1930 und 1934 entstandene große Prosawerk „Georg“, in dem sich Kracauers Ende der 20er Jahre gesammelte Erfahrungen als Redakteur der „Frankfurter Zeitung“ ähnlich kritisch reflektiert und darum erhellend niedergeschlagen haben wie in „Ginster“ seine Erfahrungen als junger Architekt während des ersten Weltkriegs.

Eine Kracauer-Gesamtausgabe wäre mehr denn angemessen. [25a] Solange sie aussteht, wird das Bild jenes Freundeskreises bürgerlicher Intellektueller unvollständig bleiben, zu dem Siegfried Kracauer und Ernst Bloch, Walter Benjamin und Gershom Scholem, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sich in der Weimarer Epoche zusammengefunden haben. Und was gegenwärtig relevanter: ohne bessere Kenntnis der Arbeiten Kracauers — und das gilt ebenso für das Gesamtwerk Benjamins — bleiben einige der Grundwidersprüche im Denken jener Schule bestehen, die man oberflächlich und summarisch als „Frankfurter Schule“ oder als „Kritische Theorie“ zu rezipieren sich angewöhnt hat. Welcher Bedeutung für die Erhellung dieser Widersprüche dem Werk Kracauers zukommt, läßt sich aus den verfügbaren Publikationen immerhin erahnen. Einige kritische Auslassungen Kracauers über Benjamins frühe Arbeiten „Der Ursprung des deutschen Trauerspiels“ und „Einbahnstraße“ mögen das zeigen. Über die erstere Schrift urteilt Kracauer: „Der Unterschied zwischen dem üblichen abstrakten Denken und dem Benjamins wäre also der: laugt jenes die konkrete Fülle der Gegenstände aus, so wühlt sich dieses ins Stoffdickicht ein, um die Dialektik der Wesenheiten zu entfalten.“ [26]

Im nachhinein weist die hier formulierte Differenz bereits auf einen der Gegensätze hin, die sich erst in der späteren Entwicklung der Freunde manifestiert haben. Die Kontroverse über die Edition der Schriften Benjamins und der gegen Adorno erhobene Vorwurf, Benjamins Entwicklung zum Marxisten durch editorische Manipulationen revidieren zu wollen, zeigt immerhin, wie richtig Kracauer schon 1928 die Position Benjamins gesehen hat. Umgekehrt haben Benjamin und Bloch Kracauer stets für einen Partisanen des Proletariats gehalten.

In „History“ hat Kracauer an Adorno Kritik geübt. Dessen „Negative Dialektik“ erscheint Kracauer als ein Exempel „losgelassener Dialektik“ (im Original gebraucht er den Terminus „unfettered dialectics“). Er wirft Adorno „eine gewisse Willkür, einen Mangel an Inhalt und Richtung“ vor. Als hätte er die Kurzschlüsse vorausgeahnt, die die antiautoritären Linksradikalen dann ja auch aus Adornos Theorien gezogen haben, attestiert Kracauer der „Negativen Dialektik“: „Die Vorstellung einer Utopie wird von (Adorno) dann notwendigerweise in einer rein formalen Weise benutzt, als eine Grenzvorstellung, die am Ende unweigerlich wie ein Deus ex machina hervortritt. Doch utopisches Denken ist nur dann sinnvoll, wenn es die Gestalt einer Vision oder Intuition mit einem bestimmten Inhalt annimmt.“ [27] Mit dieser Forderung nimmt Kracauer eindeutig eine Position ähnlich der Ernst Blochs ein, getreu dem Urteil, das Bloch 1929 über Kracauer formuliert hat: es ist eine „tendenziöse“ Position. Die Tendenz, die sie vertritt, zielt auf die reale Entfaltung des Gesellschaftlichen.

In der Einleitung zu „History“ nennt Kracauer diese seine letzte Studie bescheiden „einen weiteren Versuch, die Bedeutung von Bereichen herauszuarbeiten, deren Anspruch, als das, was sie sind, erkannt zu werden, noch nicht beachtet worden ist. Ich sage ‚ein weiterer Versuch‘, weil ich mich darum mein ganzes Leben lang bemüht habe — in den ‚Angestellten‘, vielleicht in ‚Ginster‘ und gewiß im ‚Offenbach‘. So reihen sich schließlich all meine hauptsächlichen, an der Oberfläche so inkohärenten Bemühungen aneinander; sie haben alle einem einzigen Zweck gedient und werden ihm weiterhin dienen: der Rehabilitierung von Zielen und Modi des Daseins, die noch immer eines Namens ermangeln und infolgedessen übersehen oder fehlbeurteilt werden.“ [28]

Kracauers Bemühungen gleichen weithin denen, die er 1928 an den beiden Schriften Walter Benjamins hervorgehoben hat: „Es ist, als habe Benjamin mit Absicht die vielen ihm zugänglichen Aspekte in dem Band (Einbahnstraße) eröffnet, um die diskontinuierliche Struktur der Welt auch von dieser Seite her zu erhärten. Was die Gesamthaltung der ‚Einbahnstraße‘ betriff, so zeigt die Summe der Aphorismen bewußt das Ende der individualistischen, naiv-bürgerlichen Epoche an. Die im Barockbuch (‚Ursprung des deutschen Trauerspiels‘) verwandte Methode der Dissoziierung unmittelbar erfahrener Einheiten muß, auf das Heute angewandt, einen wenn nicht revolutionären, so doch sprengenden Sinn erlangen. In der Tat ist die Sammlung reich an Detonationen.“ [29]

Daß „Detonationen“ nicht genügen würden, in die Bastionen des Monopolkapitals Breschen zu schlagen, tief genug für einen aussichtsreichen Angriff der ausgebeuteten Klassen, hat Kracauer nur zu gut gewußt. Neben den „Detonationen“ sind konstruktive Perspektiven vonnöten, und sie haben damals wie heute Fundamentierung in der gesellschaftlichen Realität zur Voraussetzung. Das ist die Essenz der Kritik Kracauers an den beiden Büchern Benjamins, wenn er sagt: „Zur vollen Wirklichkeit drängt Benjamin erst durch, wenn er die reale Dialektik zwischen den Elementen der Dinge und ihren Figuren, zwischen den Konkretionen und dem Abstrakten, zwischen dem Sinn der Gestalt und der Gestalt selbst entspönne.“ [30]

Noch früher, schon 1920, hat Kracauer diese Ansicht in einer Bemerkung über seinen Lehrer Georg Simmel und insbesondere dessen „Philosophie des Geldes“ mit diesen Worten artikuliert: „In keinem seiner sonstigen Werke entwirft der Denker ein so umfassendes Bild von dem Ineinandergreifen und der Verflochtenheit der Phänomene. Er arbeitet ihr Wesen deutlich heraus, um es gleich wieder in eine Fülle von Zusammenhängen einzuschmelzen, zeigt, wie sie sich gegenseitig bedingen, und enthüllt die vielen ihnen innewohnenden gemeinsamen Bedeutungen.“ [31]

Und in „Ginster“ erläutert der Titelheld seinem Freund Otto seine Vorstellung von konstruktiiem Denken: „Nur eben (...) glaube ich nicht, daß es darauf ankommt, die ursprüngliche Wirklichkeit zu ermitteln (...) Kolumbus mußte nach seiner Theorie in Indien landen; er entdeckte Amerika. Nicht anders, meine ich, hätte sich jede Hypothese zu bewähren. Eine Hypothese ist nur unter der Bedingung tauglich, daß sie das beabsichtigte Ziel verfehlt, um ein anderes, unbekanntes zu erreichen (...) Mir scheint (...) als sei es gerade nicht der Sinn solcher Schleichwege, an den ihnen zugedachten Bestimmungsort zu führen, sondern immer weiter von ihm fort nach Amerika.“ [32]

In den „Angestellten“ hat Kracauer seine Konzeption in den Satz zusammengefaßt: „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion.“ [33] Das meint nicht bloß Abkehr von Abstraktionen und in sich selbst kreisenden theoretischen Gebilden und Hinwendung zur konkreten gesellschaftlichen Faktizität; das meint auch Verzicht auf utopische Illusionen, die, um in Kracauers Bild zu bleiben, nicht nach Amerika führen, sondern immer nur ins alte bekannte Indien, wie idealistisch ausgebessert es sich dem Bewußtsein auch darstellen mag. Konstruktive Perspektiven müssen mit der schlechten Wirklichkeit vorliebnehmen, sie analytisch auf ihre besseren Möglichkeiten untersuchen und diese potentielle Wirklichkeit zu erreichen versuchen. Kracauers Methode ist also materialistisch, selbst dort noch, wo sie Mängel aufweist.

In einem Text von 1930 spricht Kracauer beiläufig einmal von der „blinden Laune des Produktionsprozesses“, [34] was wenig Verständnis für die Widersprüchlichkeit des kapitalistischen Systems zu verraten scheint, während er 1932 die Lage der Arbeitslosen richtig und klar schildert: „Sie stehen außerhalb des Arbeitsprozesses und verlieren dadurch allmählich das Unterscheidungsvermögen.“ [35] Nicht minder materialistisch genau diese Beobachtung von 1931 über die „nachgerückten mittleren Schichten“, die er sich weigert, als jenen „neuen Mittelstand“ anzusehen, als welchen sie sich selber unter behutsamer Anleitung durch die bürgerliche Ideologie betrachten, weil, so führt Kracauer aus, sie jener „Voraussetzungen“ ermangeln, „die den ehemaligen Mittelstand konstituierten: der kleinen Selbständigkeit, der bescheidenen Rente usw. Sie sind in Abhängigkeit geraten und zu ‚proletaroiden‘ Existenzen herabgesunken (...) Von ihnen zu den Arbeitern ist in ökonomischer Hinsicht kaum noch ein Schritt.“ [36]

Über die Ursachen dieser Proletarisierung der „mittleren Schichten“ heißt es an einer Stelle von 1929: „Seit der Kapitalismus besteht, ist innerhalb der ihm gezogenen Grenzen schon immer rationalisiert worden, aber die Rationalisierungsperiode 1925 bis 1928 bezeichnet doch einen besonders wichtigen Abschnitt. Sie hat das Eindringen der Maschine und der Methoden des ‚fließenden Bandes‘ in die Angestelltensäle der Großbetriebe bewirkt. Durch diese nach amerikanischem Muster vorgenommene Umstellung — sie ist noch lange nicht abgeschlossen — erhalten große Teile der neuen Angestelltenmassen eine gegen früher herabgeminderte Funktion im Arbeitsprozeß. Es gibt heute un- und angelernte Angestellte in Menge, die eine mechanische Tätigkeit versehen (...) Aus den ehemaligen ‚Unteroffizieren des Kapitals‘ ist ein stattliches Heer geworden, das in seinen Reihen mehr und mehr Gemeine zählt, die untereinander austauschbar sind (...) Über das Quantum der Sklaverei hier und dort läßt sich streiten, aber die Proletarisierung der Angestellten ist nicht zu bezweifeln. Jedenfalls gelten für breite, im Angestelltenverhältnis befindliche Schichten ähnliche soziale Bedingungen wie für das eigentliche Proletariat.“ [37]

Kracauers scharfem Blick ist nicht einmal entgangen, daß die genannten Entwicklungen in Produktion und Produktionskontrolle auch oben in der sozialen Hierarchie Veränderungen zur Folge haben. „Die veränderten Produktionsbedingungen üben selbstverständlich auch ihren Einfluß auf die Großbourgeoisie aus. Sie tritt zum Teil ins Angestelltenverhältnis, funktionalisiert sich und steht mitten in einer Umgruppierung, deren Wirkungen sich schwer abschätzen lassen.“ [38]

Und er sieht genau, wie er immer wieder es betont hat, warum diejenigen, die „berufen wären“, [39] diese Veränderungen wahrzunehmen, zu analysieren und politisch zu artikulieren, sich lieber in wildem Radikalismus Selbstbestätigung verschaffen, als ihre soziale Pflicht zu erfüllen. „Die Intellektuellen sind entweder selbst Angestellte, oder sie sind frei, und dann ist ihnen der Angestellte seiner Alltäglichkeit wegen gewöhnlich uninteressant. Hinter die Exotik des Alltags kommen auch die radikalen Intellektuellen nicht leicht.“ [40]

Außer Kracauer hat sie wohl nur Ernst Bloch gesehen und analysiert.

Kracauer blieb isoliert und unverstanden in seinem Bemühen, die reale Lage der austauschbaren Stehkragenproletarier transparent zu machen, deren latente Neigung zum Faschismus er beizeiten begriffen hatte. Wegen seiner Isolation mag er, statt aus seinen materialistischen Einsichten die Konsequenz offener marxistischer Parteinahme zu ziehen, sich auf die ihm ohnehin naheliegende Position des seiner Vernunft gewissen individuellen Beobachters zurückgezogen haben. Darin unterschied er sich von seinem Freund Walter Benjamin, mit dem er das französische Exil bis zu jenem bösen Tag teilte, an dem Benjamin, an der spanischen Grenze zurückgewiesen, sich das Leben nahm.

Eine andere Ursache dafür, daß Kracauer weder Blochs „Spuren“ folgen noch durch Benjamins „Einbahnstraße“ in den Bereich des Sozialismus gelangen konnte, mag in seinem oft unverständlich weitgehenden Verzicht auf Darlegung der ökonomischen Zusammenhänge zu suchen sein, der schon aus seinen besten sozialkritischen Arbeiten ins Auge springt. Dadurch wird seine „Theorie des Films“ ebenso wie die frühere Schrift „Von Caligari bis Hitler“ um eine entscheidende Dimension verkürzt.

In der „Theorie des Films“ demonstriert das eine Stelle über Eisensteins unentschlossene Haltung gegenüber dem Tonfilm: „Als Anhänger des dialektischen Materialismus erkannte er dem Ton historische Notwendigkeit zu, weil er gerade in dem Augenblick auftauchte, in dem die weitere Entwicklung des Mediums von ihm abhing. Denn da die Filmhandlung immer anspruchsvoller und komplizierter wurde, konnte nur das gesprochene Wort den Stummfilm von den immer zahlreicher werdenden lästigen Zwischentiteln und erklärenden visuellen Einschaltungen befreien, die man zur Darstellung der Story benötigte.“ [41]

Daß damit nur ein Teil der Ursachen benannt ist, wird sofort klar, wenn man in Upton Sinclairs großer Reportage über den amerikanischen Filmgewaltigen William Fox liest, um welche Profite es bei der Auswertung der Tonfilmpatentrechte ging und welche Kapitaltransaktionen und dunklen Manöver unternommen wurden, um die Patentinhaber auszuschalten, so daß die großen Konzerne und Banken das Tonfilmgeschäft monopolisieren konnten. [42]

Unter der Abstinenz von detaillierter ökonomischer Analyse haben zumal Kracauers spätere Arbeiten über den Film gelitten, wenn die materiellen Ursachen gewisser formaler und ästhetischer Phänomene zu erhellen gewesen wären. So hat Kracauer in dem in der deutschen Ausgabe unterschlagenen Anhang zu „Von Caligari bis Hitler“ über „Propaganda und den Nazi-Kriegsfilm“ die perfekte Beherrschung der formalen Mittel der Naziregisseure, zumal der Regisseuse Leni Riefenstahl, dargestellt. Er erwähnt Goebbels’ Begeisterung über Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ und vergißt nicht zu unterstreichen, daß nichtsdestoweniger Riefenstahls Reichsparteitagsfilm „Triumph des Willens“ nur formale Äußerlichkeiten mit Eisensteins Filmen gemeinsam hat. Aber gerade an der Stelle, wo er auf die Architektur der extra für Riefenstahls Film geschaffenen Parteitagsorganisation eingeht, verfolgt er den Gedanken nicht weiter, obwohl er hier der ökonomischen Basis der Ideologie sehr nahegekommen ist. [43] Wie nahe, wird ersichtlich, wenn man dort über die Einzelaufnanmen der Riefenstahl liest: „Diese Aufnahmen enthüllen die propagandistischen Funktionen, die die reinen Formen“ — will sagen: von ihren Inhalten abstrahierte Formen — „übernehmen können“. [44]

Ergänzend heißt es in den „Angestellten“: „Sämtliche Argumente zugunsten des herrschenden Wirtschaftssystems beruhen auf dem Glauben an eine prästabilierte Harmonie. Nach ihnen erzeugt die freie Konkurrenz von sich aus eine Ordnung, die durch Einsicht nicht beschworen werden kann, sichern Gewinnstreben, Initiative und Selbstverantwortung der Unternehmer von sich aus das Gedeihen der Massen besser als der auf dieses Gedeihen gerichtete Wille.“ [45]

Marx folgend, denunziert Kracauer das Bewußtsein der Bourgeoisie als falsch, doch, auch darin Marx folgend, implizit als notwendig falsch, weil die Bourgeoisie, um als herrschende Klasse sich behaupten zu können, die dem kapitalistischen System immanenten objektiven Widersprüche sich selbst und den von ihr beherrschten und Ausgebeuteten mit einem dicken Mantel vorgegebener Rationalität, scheinbarer sachlicher Notwendigkeit, verhüllen muß.

Von ihren Inhalten abstrahierte ästhetische Formen, die ästhetisch fugenlosen Leerformen des faschistischen Propagandafilms etwa, sind entsprechende ideologische Mittel, Rationalität vorzuspiegeln, wo in Wirklichkeit ökonomische Krisen und Klassenantagonismen die Gesellschaft zerfleischen. Schon 1927 hat Kracauer gegen diese Scheinrationalität die marxistische Forderung erhoben: der Kapitalismus „rationalisiert nicht zu viel, sondern zu wenig. Das von ihm getragene Denken widerstrebt der Vollendung zur Vernunft, die aus dem Grunde des Menschen redet.“ [46]

[22Cf. Siegfried Kracauer: Von Caligari bis Hitler. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Films. rowohlts deutsche enzyklopädie 63. Hamburg 1958; ders.: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film, Princeton University Press 1947.

[23Cf. Rolf Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins. Mit einer Vorrede v. Theodor W. Adorno. Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Band 16, Frankfurt 1965, Beiträge zu einer Benjamin-Bibliographie, p. 185. Die eine dieser beiden Rezensionen liegt jetzt in dem in der DDR gegen den Widerstand des Suhrkamp-Verlages erschienenen Benjamin-Band wieder vor. Cf. Walter Benjamin: Die Politisierung der Intelligenz (1930), in: Walter Benjamin: Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur. Hrsg. v. Gerhard Seidel. Leipzig 1970, pp. 231-238. Benjamins Urteil lautet: „Politisierung der eigenen Klasse. Diese indirekte Wirkung ist die einzige, die ein schreibender Revolutionär aus der Bürgerklasse heute sich vorsetzen kann. Direkte Wirksamkeit kann nur aus der Praxis hervorgehen“ (p. 238). — Kracauer hatte übrigens für den Vorabdruck mehrerer Stücke aus Benjamins „Einbahnstraße“ in der „Frankfurter Zeitung“ gesorgt. Cf. Tiedemann, pp. 163, 191.

[24Kracauer, Die Angestellten, p. XVII.

[24aBenjamin, Politisierung der Intelligenz, p. 238.

[25Cf. Siegfried Kracauer: Pariser Leben. Jacques Offenbach und seine Zeit. Eine Gesellschaftsbiographie. München 1962.

[25aEine 5-bändige Kracauer-Ausgabe, die u.a. auch eine deutsche Ausgabe von „History“ bringen soll, hat der Suhrkamp-Verlag im Frühjahr 1971 angekündigt. Diese Edition wird jedoch weder „Ginster“ noch den unveröffentlichten „Georg“ enthalten.

[26Siegfried Kracauer: Zu den Schriften Walter Benjamins (1928), in: Das Ornament der Masse, p. 250 s.

[27Ders.: History, p. 201. Übersetzung von mir.

[28L.c., p. 4. Übersetzung von mir.

[29Kracauer, Zu den Schriften Walter Benjamins, p. 253.

[30L.c., p. 254.

[31Kracauer: Georg Simmel (1920), in: Das Ornament der Masse, p. 238 s.

[32Ders.: Ginster, p. 37.

[33Ders.: Die Angestellten

[34Ders.: Über Arbeitsnachweise, p. 78.

[35Ders.: Kino in der Münzstraße (1932), in: Straßen in Berlin und anderswo, p. 9.

[36Ders.: Über Erfolgsbücher und ihr Publikum (1931), in: Das Ornament der Masse, p. 68.

[37Ders.: Die Angestellten, p. 5 s.

[38Ders.: Über Erfolgsbücher und ihr Publikum, p. 68.

[39Cf. Fußnote 1.

[40Kracauer, Die Angestellten, p. 4.

[41Ders.: Theorie des Films, p. 147 s.

[42Cf. Upton Sinclair: William Fox. Aus dem Amerikanischen. London, Malik, 1936.

[43Cf. Kracauer, From Caligari to Hitler, pp. 278, 289 s., 300.

[44L.c., p. 303. Übersetzung von mir.

[45Kracauer, Die Angestellten, p. 98.

[46Ders.: Das Ornament der Masse, p. 57.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1971
, Seite 48
Autor/inn/en:

Hans G. Helms:

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