FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1981 » No. 329/330
Michael Siegert

Der Tunnel

Die gebogene Röhre fokussiert Blicke. Phantasien prallen von der Betonwand zurück, pendeln durch den Raum. Frauen staken an den Rand des Perrons, von der ausweglosen Präsenz aggressiver männlicher Pein geplagt, die in der Röhre hervorspringt. Die drei wichtigsten Dinge werden nach Lichtenberg durch Röhren getan. Das vierte ist Verkehren.

Verkehte Welt. Um Licht, Luft und Sonne für die Autos zu schaffen, muß der Mensch unter die StraBe. Die Planer machen ihm eine neue Stadt nach ihrem, nach seinem Bilde, das kann kein Zufall sein. Schon Huxley dachte sich die Klassenschichtung in den Boden gegraben: die Deltas und Epsilons schuften und leben untertage, wie die Kinder in den frühkapitalistischen Bergwerken.

Ursünde, aus der die Urangst springt: die Protokolle der Weisen von Zion behaupten, die Juden würden mit den U-Bahnen die Städte unterminieren, um die „Arier“ mit der Drohung zu beherrschen, die Städte in die Luft zu sprengen. Die Herrschenden in Ost und West planen U-Bahntunnel als Luftschutzbunker ein, um den Atomkrieg besser führen zu können. Aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs für den Dritten lernen!

Die Röhre mit dem röhrenden Wurm drin ist das idealisierte Abbild unserer Städte. Die Häuserfront härtet sich zur Tunnelwand: die Haustore werden geschlossen, die Fenster rücken hinauf, die Sockelgeschosse werden hochgezogen, die Gehsteige werden schmäler, die Freiflächen werden betoniert, die Grünflächen eingefaßt, zwischen Wand und Autostrom wird der Mensch zerrieben, weggedrängt.

Das Verständnis für die Polizistenrolle des Automobils verdanke ich meinem Freund Wilhelm Kainrath. [1] Wo Autos strömen, gibt’s keine zersetzende Unordnung. Die Gstätten ist weg, die Wiese, das Fetzenlaberl: die Jugend schweift durch die Stadt, wohin? Das grüne Fußballfeld ist ein Sichtschirm, willst du spielen, mußt du Münzen einwerfen. Alle Türen zu, Schlüssel oder Obolus, Eigentum oder Miete — ene mene muh, draußt bleibst du!

Die ausgesperrte Jugend sammelt sich in den Fußgängerzonen, dem Vorhof vom Kaufhof. Die Zone käuferischer Vorlust liegt direkt über den U-Bahnröhren: Kärntner Straße, Favoritenstraße, demnächst Mariahilfer Straße. Die Dreigroschenopernszenen zwischen jungen Protestierern und Kaufwilligen, wahre Peachum-Visionen in westdeutschen Kaufhäusern letzte Weihnachten stellen die Soziotechniker vor eine neue Aufgabe: Entmischung der drei Gruppen Neue Lumpen, Käufer und Touristen. Das geht so: die Geschäftsstraßen werden liquidiert, einzukaufen ist künftig in den Betonschuppen vor der Stadt, wo man mit dem Auto vorfährt (Shopping City Süd, Donaufeld). Das besorgt die Konzentration des Handelskapitals. Dort kommen die Jeanslumpen nicht mehr hin.

In der Innenstadt gibt’s dann nur mehr Baudenkmäler und Bürohochhäuser. Wer das noch nicht begriffen hat, der hätte sich zu Ostern den Glasbruch am Berliner Kudamm ansehen sollen: Einkaufsstraßen — das ist vorbei.

Wenn man jetzt noch den Tourismus in Gruppen organisiert, mit betonierten Fotostandplätzen, kann man die Straßen getrost durch Polizeimaschinen leerfegen, es gnotzen dann nur mehr nutzlose Unkonsumenten im Tunnel, der einmal die Stadt war.

Die U-Bahnröhre ist auch als Kontrollzone Modell der neuen Stadt. Fernsehkameras, Sichtschirme, Anbrüll-Lautsprecher — als ich es zum erstenmal sah, war ich paff über die Schamlosigkeit, die Brutalität dieser Introspektion in die Masse. Offenen Munds starrte ich auf das zynisch präsentierte Instrumentarium unserer künftigen Vivisektion. Ich sah die Mitmenschen neugierig an, ob es ihnen genauso ginge: nichts.

Ich hege nicht den Schatten eines Zweifels, daß all diese mit der nackten Hand erreichbaren Kameras, Bildschirme und Überwachungsräume (hinter Panoramaglasscheiben!) dazu verurteilt sind, bei der ersten in die U-Bahn reprimierten Demonstration spontan demontiert zu werden. Das ist mir zugleich ein Beweis für die technologische Unschuld der Architekten dieses Systems: sie haben es wirklich in aller Naivität als technisches Steuerungsmittel geplant, zum personalsparenden Ein- und Ausschalten der Rolltreppen etc.! Die Zentrale am Karlsplatz ist z.B. in keiner Weise gesichert.

Der Boulevard wird dann aufschreien und alles ins rechte Lot renken: die Kameras werden unangreifbar montiert, Videoaufzeichnungsgeräte angeschafft, um die Festzunehmenden optisch festzuhalten.

Die erste Polizeiwachstube wurde bereits in der U-Bahnstation Stephansplatz eingerichtet, neben den Ausgang der Station Praterstern kommt die zweite hin, mit 24 Beamten. Die künftige Station Ballhausplatz ruft bereits Planspiele in den Ämtern hervor: Wieviele Demonstranten könnten in wieviel Minuten von verschiedenen Ausgangspunkten her dort auftauchen?

Ausgehend von den Nervenzentren der Ordnung wird ein Netz von Video-Überwachung auf die Stadt gelegt: in den Banken, Kaufhäusern, bei den Villeneingängen, in den Gefängnissen, an den Krankenbetten, in der U-Bahn, an den Kreuzungen (Verkehrsüberwachung) streckt der Orwellsche Krake bereits seine ersten elektronischen Fühler aus. Das Netz wird sich bald verdichten, zentralisieren zusammenziehen. Die Perfektionierung geht analog der Satellitenüberwachung und betrifft die Zahl und Beweglichkeit der Kameras, ihr Auflösungsvermögen, die Zahl der Aufzeichnungsgeräte usw. Utopie und Gipfel sind bisher die Hochsicherheitstrakte in den deutschen Gefängnissen, wo man rund um die Uhr jede Lebensregung der Insassen aufzeichnet.

Die Stadt wird zum Tunnel, und die U-Bahn ist ihr Symbol — die gehärtete Wand, das rasende Fahrzeug, und der Mensch, der nur in zwei Zuständen existieren kann: im Fahrzeug, ampelgesteuert, oder hinter der Wand, elektronisch gebunden und abgesättigt (Fernsehen). Die Polizeifunktion wird technisch elegant gelöst: an die Stelle des Knüppels tritt das Elektron — klein, unsichtbar, unauffällig.

[1Wilhelm Kainrath: Autos schaffen Ruhe und Ordnung, profil 12/1981

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1981
, Seite 13
Autor/inn/en:

Michael Siegert:

Geboren am 12. Oktober 1939 in Reichenberg (Liberec), gestorben am 23. Oktober 2013 in Wien; studierte längere Zeit Naturwissenschaften und Geschichte an der Universität Wien; 1963 Vorsitzender der Vereinigung demokratischer Studenten; später Mitarbeiter der sozialistischen Studentenorganisation; war von 1973 bis 1982 Blattmacher des FORVM.

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