FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 204/I/II
Friedrich Geyrhofer

Der sozialisierte Sexus

Film und Pornographie

In der Diskussion über Pornographie markieren auch die Anhänger einer liberalen Haltung die Grenze, wo Freizügigkeit aufzuhören habe. Damit wird das Positive an dieser Debatte verdorben: der Zwang, Sexualität als ein politisches Faktum zu begreifen. Trotz aller Gegensätze sind sich die Opponenten in der pornographischen Diskussion stillschweigend darin einig, den privaten Sektor des Lebens der öffentlichen Kontrolle zu entziehen. Alle wesentlichen Interessen des Individuums, seine Finanzen, seine Religion, seine Sexualität, versteckt die bürgerliche Lebensform im Dunkel der „Intimsphäre“. Die Erörterung des Pornographischen bleibt abstrakt, solange sie nicht die Scheide zwischen Öffentlichkeit und Privatheit als ihr zentrales Problem erkennt. Nur der Frustrierte lokalisiert die Triebfeder der sexuellen Emanzipation in einem erotischen Heißhunger, den seine Unerfahrenheit für unstillbar hält — tatsächlich geht es um die Verfassung der Gesellschaft.

Obszön wird jede Handlung, die jene Blockade durchstößt, die der Bourgeois zwischen seine private und seine Öffentliche Aktivität schiebt. Darum ist der Begriff des Obszönen rein formal: die Entblößung der Genitalien ist anstößig wie das Essen auf offener Straße. Die Entfaltung der technischen Kommunikationsmittel hat der klassischen Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen ihren Sinn geraubt. Die Ideologen des Katholizismus, die den Sexus in das Gefängnis der Familie einsperren, verwickeln sich dabei in den gleichen Widerspruch wie die Verteidiger der Liberalisierung, die das Intime vor den Anmaßungen der Justiz verschließen. Beide Seiten müssen mehr verlangen, als ihnen auf Grund ihrer Prämissen zusteht: nämlich die Kontrolle über die technischen Medien. Gleichgültig, ob man Pornographie für den Privatgebrauch straffrei halten oder das sexuelle Monopol der Eltern den Kindern gegenüber unbedingt bewahren will — im elektronischen Zeitalter sind beide Haltungen genötigt, zur Verteidigung des Privaten die öffentliche Kommunikation in Beschlag zu nehmen.

Ungenügend ist eine Liberalisierung, die sich am bürgerlichen Eigentumsbegriff orientiert, indem sie das Verfügungsrecht erwachsener Menschen über ihren Körper und ihre Phantasie gewährleistet. Sexualität muß, wie jedes menschliche Verhalten, gesellschaftlich organisiert werden. Doch sind für diesen Zweck Strafgesetzbuch und väterliche Autorität denkbar ungeeignete Instrumente: diese leistet der Masturbation, jenes der Erpressung Vorschub. Dank der juristischen Liberalisierung verwandelt sich Sexualität aus einem Tatbestand in ein Privileg, das der Staat, dem Trend des Zeitgeistes gehorchend, bis auf Widerruf und mit der Auflage des Wohlverhaltens einräumt. Dialektische Kritik des Sexualstrafrechts darf sich nicht auf das Postulat individueller Freizügigkeit stützen: sie muß vom struktiven Widerspruch zwischen der privaten Sozialisation der Kinder durch die Familie und der öffentlichen Sozialisation durch die technischen Medien ausgehen. Dieser Antagonismus korrespondiert im pädagogischen Bereich mit dem Widerspruch zwischen privaten Produktionsverhältnissen und gesellschaftlichen Produktivkräften im ökonomischen Bereich. Familie und Privateigentum sind komplementär.

Der katholische Familiarismus geht in den Faschismus über: in das perverse Ideal des Staates als der ganz sroßen Familie Saubermann. Die Vergesellschaftung der Familie wird in eine Familisierung der Gesellschaft umfunktioniert. Der totalitäre Staat, die letzte Hoffnung des christlichen Naturrechts, hebt die Schranke zwischen Öffentlichem und Privatem auf, um das Öffentliche zu privatisieren. Dazu dient die Person des „Führers“, bekanntlich eine kollektive Vaterfigur. Als „Wirtschaftsführer“ erhält der Industrielle, der allein mit den Arbeitern nicht mehr fertig wird, staatliche Autorität delegiert; analog dazu wirft sich der Familienvater in eine SA- oder Heimwehrkluft, weil seine Autorität über Weib und Kind brüchig zu werden droht. Im Faschismus wird die Familie zur Keimzelle der Bürokratie. Beide Institutionen haben die fundamentalen Merkmale einer privatisierten Öffentlichkeit gemeinsam. „Die Bürokratie“, sagt Marx, „hat das Staatswesen, das spirituelle Wesen der Gesellschaft in ihrem Besitze, es ist ihr Privateigentum. Der allgemeine Geist der Bürokratie ist das Geheimnis, das Mysterium, innerhalb ihrer selbst durch die Hierarchie, nach außen als geschlossene Korporation bewahrt. Die Autorität ist daher das Prinzip ihres Wissens, und die Vergötterung der Autorität ist ihre Gesinnung.“

Das Mysterium, auf dessen Bewahrung die familiäre Hierarchie beruht, ist die Sexualität. Durch sie wird die Sozialisation des Kindes vermittelt. Mit der kalkulierten Technik des Liebesentzugs halten die Erwachsenen ihren Nachwuchs unter Kontrolle. Die erotischen Bedürfnisse des Kindes werden geweckt, um es durch ihre verzögerte Befriedung in der Hand zu haben: der Sexus spielt in der Sozialisation eine ähnliche Rolle wie der Luxus in der kapitalistischen Akkumulation. Diesen Sachverhalt hat Talcott Parsons mit einer aufschlußreichen Metapher beschrieben: „Die erotische Bindung des Kindes an die Mutter stellt also das Seil dar, an dem sie es auf der harten Bergtour des Erwachsenwerdens von der niederen zu einer höheren Ebene hinaufschleppt.“ Nichts hütet die Familie eifriger als ihr sexuelles Monopol: das des Mannes gegenüber der Frau, das der Mutter gegenüber den Kindern. (Man denke nur an das zelotische Eifern Freuds über die Kindermädchen, die in den großbürgerlichen Häusern seiner Epoche die Kinder erotisch verwöhnten.) Verliert die Familie ihr sexuelles Monopol, dann büßt sie mit der Sozialisation auch ihre letzte Existenzberechtigung ein.

Daraus werden die Klagen über den unsittlichen Einfluß der Massenmedien auf die Jugend verständlich: die technischen Kommunikationsmittel üben — ganz unabhängig von ihrem Inhalt — eine demoralisierende Wirkung aus, weil sie den Erziehungsobjekten die Gelegenheit geben, der Kontrolle durch die Erziehungsberechtigten wenigstens partiell auszuweichen. Schon gegen die Lektüre ihrer Kinder haben verantwortungsbewußte Eltern stets ein berechtigtes Mißtrauen gehegt. In der Pubertät ist das Lesen ja ein erotisch gespeister Trancezustand, in dem sich das Kind temporär von der Autorität der Familie befreit — sexuelle und intellektuelle Emanzipation sind miteinander verschränkt. Nicht zufällig werden in Österreich, dem Land der vollendeten Familienbarbarei, Bücher und die damit verbundenen Abenteuer des Intellektualismus verpönt. Das Buch ist die Waffe des Sohnes gegen die Idiotie des Vaters, der dann auch die Leseratte nicht minder verabscheut als den Onanisten.

Im Film aber werden die Gefahren des Buches ins Unendliche gesteigert und zugleich qualitativ verändert: das Kollektiv in einem dunklen Saal, das sich selbst durch Räuspern, Atmen und unkontrollierte Kontakte suggestiv beeinflußt, löst den Jugendlichen noch ganz anders als das Buch aus den Fängen der Familie. (Dagegen scheint das Fernsehen merkwürdig regressiv: vor dem Bildschirm wird die desolate Familie notdürftig wieder zusammengekittet, um dann allerdings erst recht tiefgreifenden und langfristigen Veränderungen ausgesetzt zu sein.) Erotik im Film höhlt das sexuelle Monopol der Familie aus, und damit auch ihr ausschließliches Recht auf Sozialisation. Darin besteht das Explosive der filmischen Pornographie im Unterschied zur relativen Harmlosigkeit der literarischen.

Jeder Film, nicht erst der pornographische, ist obszön. Der Schauspieler gibt im Film sein Exterieur ebenso schamlos dem öffentlichen Urteil preis wie der Patient in der Psychoanalyse sein Interieur dem Urteil des Arztes. Der analytische Charakter des Films, seine hartnäckige Fixierung an isolierte Gesten, Mienen, Glieder, mobilisiert die Partialtriebe, den als pervers diffamierten Bestandteil der Sexualität. Weder in der Plastik noch in der Malerei gewinnt der menschliche Körper eine ähnlich obszöne Funktion wie im Film, der in seiner ganzen Geschichte dem Publikum erotische Kollektivideale oktroyieren konnte: Millionen Mädchen haben sich wie Liz Taylor, Audrey Hepburn oder Brigitte Bardot kostümiert, frisiert und geschminkt. Gerade weil das Obszöne dem Film immanent ist, haben jedoch große Regisseure, die, wie Eisenstein mit den nackten Matrosen des „Potemkin“, das Pathos des körperlichen Ausdrucks sehr wohl zu nutzen wußten, alles vorsätzlich Pornographische vermieden. Dowschenko reservierte in seinem von leidenschaftlicher Sinnlichkeit erfüllten Film „Zemlja“ die Abbildung des nackten weiblichen Körpers für den Ausdruck verzweifelter Trauer: Sexualität manifestiert sich e contrario.

Zwischen Film und Pornographie besteht ein enger, doch paradoxer Zusammenhang. Die Kamera kann dem menschlichen Körper so nah auf den Leib rücken, daß sie seine erotische Aura zerstört. Das ist ein Sachverhalt, den der pornographische Trivialfilm zu seinem Schaden ignoriert. Wenn die rosigen Arschbacken einer Frau die Leinwand in überdimensionaler Größe ausfüllen, dann gibt das dem Fleischhauer gewiß mehr als dem Sexualisten. Die unmittelbare Darstellung von Pornographie ist eine naive Illusion. In der Literatur wird das Obszöne wesentlich durch die Sprache vermittelt (die einschüchternde Brutalität eines Wortes wie „Perversion‘“ dokumentiert, daß sich die Herrschaft der Sprache über die Menschen nirgendwo deutlicher ausweist als im Sexuellen). Im Film wird das Pornographische durch eine analytische Technik von Kamera und Montage vermittelt, die nach der Erkenntnis Walter Benjamins die Aura des Privaten und Intimen demoliert. Darum wirkt im Film jede ausgespielte Liebesszene obszöner als ein naturalistisch photographierter Geschlechtsakt. Den Rang eines Regisseurs kann man sofort am Fehlen jener privaten Hausstandserotik erkennen, die der amerikanischen Industrie zu ihrer Weltstellung verhalf. So gibt es zwar in Buñuels Film „Viridina“ eine einzige, flüchtige Liebesszene — sie aber dient als Zeichen der sozialen Degradation. (Daß die sowjetischen Filmklassiker jegliche private Erotik eliminierten, versteht sich von selbst.)

Stur hält der pornographische Trivialfilm an den abgesunkenen Klischees des behäbigen Liebes- und Ehedramas fest. So wird er allein dort pornographisch, wo er es gar nicht sein will: in den sentimentalen Passagen, die ihm als Alibi dienen sollen. Nicht die wilde Orgie, die man ohnehin nie zu sehen bekommt, sondern der verfilmte Kuß ist Pornographie. Aber eine üble, weil sie statt auf Sexualität auf Sentimentalität beruht. Es entspricht der infantilen Geisteshaltung, mit der die pornographischen Trivialfilme bei ihrem Publikum sichtlich rechnen, daß sie die sexuellen Organe des Menschen noch zwangshafter ignorieren als der Gefühlsdusel des Kommerzfilms. Die Herren behalten in jeder Situation ostentativ die Hosen an, den Unterleib der Damen kennt man nackt allein von hinten. Die filmische Pornographie der einschlägigen Kinos riskiert keine Konfrontation mit ihrem eigentlichen Gegenstand.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1970
, Seite 1089
Autor/inn/en:

Friedrich Geyrhofer:

Geboren am 03.09.1943 in Wien, gestorben am 16.07.2014 ebenda, studierte Jus an der Wiener Universität, war Schriftsteller und Publizist sowie ständiger Mitarbeiter des FORVM.

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