Streifzüge » Print-Ausgaben » Jahrgänge 2011 - 2020 » Jahrgang 2017 » Heft 70
Roman Rosdolsky

Der esoterische und der exoterische Marx

Es sind mehr als hundert Jahre verstrichen, seit Karl Marx seine ökonomischen Lehren niederzuschreiben anfing. Eine sehr geraume Zeitspanne, besonders, wenn man die gewaltigen Veränderungen, die die Welt seither erfuhr, ins Auge fasst! Es wäre darum geradezu ein Wunder, wenn alle Lehrsätze von Marx auch heute noch ihre volle Gültigkeit behielten, wenn keiner von ihnen durch die spätere Entwicklung hinfällig geworden wäre. Gewiss, als Ganzes betrachtet, hat das ökonomische System von Marx die Probe der Geschichte bestanden.

Aber Karl Marx war ein Kind seiner Zeit, trotz aller Genialität, dem Einfluss der empirischen Tatbestände und Denkgewohnheiten seiner Zeit unterworfen. Auch in seinem System müssen wir daher Gedankengänge von verschiedener Tragweite und verschiedenen theoretischem Gewicht unterscheiden. In diesem Sinne kann man sehr wohl von einem esoterischen und einem exoterischen Marx sprechen – insofern wir darunter den Unterschied zwischen der eigentlichen Theorie und den daraus abgeleiteten konkreten Schlussfolgerungen und Entwicklungsprognosen verstehen wollen. Es ist klar, dass die erstere ihre völlige Gültigkeit behalten kann, auch wenn die letzteren sich manchmal als voreilig und nicht stichhaltig erweisen sollten. Und es ist klar, dass eine fruchtbare Anwendung der Marxschen Theorie nur möglich ist, wenn man die esoterischen und die exoterischen Elemente derselben auseinanderhält, wenn man das zeitlich Bedingte und Vergängliche vom Unvergänglichen im Marxschen System wohl zu scheiden weiß.

(Notiz aus: Arbeit und Wirtschaft, 11. Jg., Nr. 11, 1. November 1957, S. 348)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
August
2017
, Seite 15
Autor/inn/en:

Roman Rosdolsky:

Geboren 1898 in Lemberg, gestorben 1967 in Detroit. Marxistischer Theoretiker und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Ostgaliziens, studierte Rechts- und Staatswissenschaft — ab 1919 in Prag, ab 1924 in Wien. 1934 kehrte er nach Lemberg zurück, übersiedelte 1939 in das nationalsozialistisch besetzte Krakau, um sich als Trotzkist der bolschewistischen Verfolgung zu entziehen. Dort wurden er und seine Frau Emily im Herbst 1942 von der Gestapo verhaftet, da sie sich ‚schuldig‘ gemacht hatten, Juden zu verstecken. Roman Rosdolsky wurde nach Auschwitz und später in die Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen deportiert. 1947 emigrierte er mit seiner Frau und seinem Sohn aus Angst vor dem stalinistischen Terror aus dem sowjetisch besetzten Österreich in die USA.

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