MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 51
Wilfried Graf
Kosovo:

„Demokratie und Ruhm“

Die Verlegung von Panzereinheiten der jugoslawischen Armee in den Kosovo hat Anfang Februar 1990 eine Ausweitung albanischer Massendemonstrationen hin zu einem allgemeinen Volksaufstand verhindert. Die Zeit im Kosovo scheint damit — wieder einmal durch direkte Gewalt — vorerst angehalten.

Trauerfeier um ein 18jähriges Mädchen

Mindestens 32 Albaner, nahezu ausnahmslos Jugendliche, waren in der letzten Jännerwoche der Nervosität der schwerst bewaffneten Sondereinheiten des jugoslawischen Innenministeriums zum Opfer gefallen — in einigen Fällen durch ziellose Schüsse von hinten, ohne jede Provokation und ohne Vorwarnung.

Schon letztes Jahr zählte man 39 Tote und hunderte Verwundete in der Folge gewaltsamer Auseinandersetzungen nach einem einwöchigen politischen Hungerstreik von 1.300 Bergarbeitern. Nach offiziellen Angaben der regionalen Behörden soll in den letzten neun Jahren über eine halbe Million, d.h. jeder dritte Kosovo-Albaner, aus politischen Gründen in irgendeiner Form mit der Polizei in Berührung gekommen sein. Für die Kosovo-Albaner sind die Jänner-Ereignisse somit nur eine weitere tragische Episode seit der Niederschlagung der Unruhen im Jahre 1981 und der darauf folgenden „Sondermaßnahmen“, der vergeblichen Politik einer polizeilichen und bürokratischen „Normalisierung“.

Das wirklich Neue bleibt dabei weitgehend unbeachtet. Der Kampf gegen den De-facto-Ausnahmezustand sowie für eine Erneuerung der Autonomie entwickelt sich seit kurzem in neuen Formen, die vielleicht doch Alternativen zum „Bürgerkrieg“ eröffnen könnten. Es müßte gelingen, gemeinsam mit den demokratischen Kräften in anderen Teilen Jugoslawiens, auch im Kosovo freie Wahlen durchzusetzen, wie sie in Slowenien und Kroatien für April geplant sind.

Die Hoffnung ist nicht unbegründet: Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des bürokratischen Sozialismus in Ostmitteleuropa entfaltet sich im Kosovo seit Dezember letzten Jahres eine rasch anwachsende Oppositionsbewegung, die sich erstmals aktiv mit den demokratischen Bewegungen in den anderen Teilen Jugoslawiens verbündet und von diesen auch zunehmend Unterstützung erhält. Der KP-Führung läuft das Volk in Scharen davon, v.a. seit die Führung der serbischen Teilrepublik den ehemaligen Parteiführer im Kosovo, Azem Vlassi, Anfang des vorigen Jahres zum Rücktritt gezwungen und in einem bis heute immer wieder vertagten Schauprozeß des Hochverrats angeklagt hat.

Erstmals gibt es Oppositionsparteien für eine neue Politik im Kosovo: z.B. die „Demokratische Liga“ unter der Führung des Literaturkritikers Ibrahim Rugova — eine Art Sammelpartei für den Kampf um die Rückgewinnung der Autonomie —, aber auch eine Sozialdemokratische Partei und Regionalstellen gesamtjugoslawischer Oppositionsgruppen. Vom Sitz des Schriftstellerverbandes aus, einer Baracke in Pristina, organisieren die Oppositionsgruppen die Massenbewegung für Autonomie. Ihre Losung: „Für Demokratie — gegen Gewalt“. Konkret fordern sie vor allem die Aufhebung des Ausnahmezustandes und die Freilassung der politischen Gefangenen. Selbst die populäre Forderung nach einem eigenen Republik-Status (inklusive dem verfassungsmäßigen Recht auf Austritt aus der jugoslawischen Föderation) tritt gegenüber dem Programm einer erweiterten Autonomie und der prononecierten Politik für Demokratie und gegen Gewalt zurück.

Vor diesem politischen Hintergrund wurden die Trauerzeremonien um die Toten im Februar zu Protestkundgebungen. Die Rituale der Trauer, auf die wir in den Dörfern Malisevo, Djacova, Podujevo und Zhur meist unvermutet treffen, eröffnen unwillkürlich den Blick auf die ‚langen Zeiträume‘ der Geschichte. Im Widerschein hunderter Kerzen ehren tausende Albaner die Toten mit dem Victory-Zeichen und beidseitig erhobenen Armen. Immer wieder unterbrechen sie die Schweigeminuten mit den Rufen „Demokratie“ und „Lavdi“ (Ruhm).

Ruhm dem Blut der Märtyrer. Sie sind für die „Besa“ gestorben — heißt es in leidenschaftlichen Reden. Die Politisierung der „Besa“, des „gegebenen Worts“, des heiligen Versprechens gegenseitiger Unterstützung über den Tod hinaus, macht deutlich, wie stark sich die ethnische Identität der Kosovo-Albaner auf den strengen Verhaltenskodex eines archaischen, patrimonialen Gewohnheitsrechts stützt. Die Intellektuellen der Opposition sehen darin eine ländliche, vor-nationale Widerstandsform gegen den Versuch der staatlichen Institutionen. Eine als fremd empfundene Modernisierung und eine städtisch geprägte Rechts- und Lebensordnung werden als feindlich angesehen.

Christliche Orthodoxe gegen osmanische Derwische

Bogdan Kecman, der Sprecher der serbischen Minderheit im Kosovo, plädiert für die Vertreibung aller Albaner außer den alteingesessenen Skipetaren nach Albanien. Im Jänner hat er die serbische Selbstverteidigungsorganisation „Bozur“ gegründet und fordert nun deren Bewaffnung, obwohl der Widerstand der albanischen Bevölkerung bisher — trotz der vielen Todesopfer auf albanischer Seite — gewaltfrei verlaufen ist.

Tatsächlich sind über 150.000 Angehörige der serbischen Minderheit im Kosovo seit 1961 abgewandert, allerdings — ähnlich wie die 250.000 albanischen Gastarbeiter in den letzten 15 Jahren — oft auch aus ökonomischen Gründen. Kecman stellt die Serben als bloße „Minderheit“ gegenüber einer übermächtigen albanischen „Mehrheit“ dar. Ihre zunehmende Radikalisierung seit Mitte der 80er Jahre hat dem populistischen Parteiführer Milosevic entscheidend zur Macht verholfen. Im Bündnis mit dem traditionellen, christlich-orthodoxen ‚Serbentum‘ betrachten die Serben den Kosovo als historische ‚Wiege‘ ihres mittelalterlichen Reiches. Die Erinnerung an die Niederlage am Amselfeld 1369 — anläßlich des 600-Jahr-Jubiläums uminterpretiert in den Mythos einer heroischen Abwehrschlacht der Serben im Dienste des europäischen Christentums gegen den Islam — dient als massenpsychologisches Bindeglied für eine erneute Durchsetzung serbischer Hegemonie über die ‚islamisierten‘ Albaner.

Die Kosovo-Albaner sind zwar zu 80% sunnitisch, von einer fundamentalistischen Religiosität aber — anders als die slawischen Muslime in Bosnien — weit entfernt.

Es waren vor allem osmanische Derwische, Mystiker des islamischen Sufismus, die bei der Islamisierung unter den Osmanen erfolgreich waren, weil sie dem Pantheismus der balkanischen Bauern- und Hirtenkulturen eher entgegenkamen. Später, bei der Entwicklung und Verbreitung der aufklärerischen Ideen der albanischen ‚Wiedergeburt‘ des späten 19. Jahrhunderts, spielten sie abermals eine große Rolle. Ihre Losung „Die Religion des Albaners ist das Albanertum“ zielte auf die Stärkung der ethnischen Identität, gegen die Konkurrenz der islamischen, orthodoxen und katholischen Kirchen, die oft mit den politischen Ambitionen der Großmächte und Nachbarn in Verbindung standen. Es war übrigens diese identitätspolitische Losung, die in Albanien von den Führern der Kommunisten, die zum Teil aus Sufi-Familien stammten, in radikale kulturrevolutionäre Politik verkehrt wurde.

Mutterland Albanien

Viele Serben sehen die eigentliche Hauptgefahr auch weniger im Islamismus als vor allem in historischen Ambitionen nach einer Vereinigung Kosovos mit dem ‚Mutterland‘. Ein solches ‚Großalbanien‘ war während des Zweiten Weltkrieges — unter den Okkupationen durch Faschismus und Nationalsozialismus — kurzfristig realisiert worden. Alle Vertreter der kosovo-albanischen Opposition lehnen eine Politik der Vereinigung — zwar mit feiner Nuancierung, aber glaubwürdig — entschieden ab. Trotzdem scheint es schwierig, die Frage nach einer möglichen Vereinigung heute schon zu beantworten. Als Ganzes betrachtet, leben 35% der Albaner im Ausland — immerhin der größte Prozentsatz einer „geteilten Nation“ in Europa. Die Frage stellt sich aber weniger von seiten des ‚Mutterlandes‘: eine Vereinigung könnte dort derzeit die egalitäre Modernisierung und radikale Säkularisierung nur destabilisieren und wäre wahrscheinlich auch nach einem radikalen systempolitischen Wandel für die nahe Zukunft eine wirtschaftspolitische, nationalpolitische und außenpolitische Überforderung. Ob eine albanische Vereinigung überhaupt politischer Diskussionsgegenstand wird, hängt eher von den Optionen ab, die den Kosovo-Albanern von seiten der anderen jugoslawischen Nationen, innerhalb der jugoslawischen Föderation, tatsächlich offen gehalten werden. Die Albaner repräsentieren im innerslawischen, vor allem slowenisch-serbischen „Nord-Süd-Konflikt“ immer noch weitgehend eine Position der „Peripherie in der Peripherie“. Das politische Selbstbewußtsein dieser mittlerweile drittgrößten Nation Jugoslawiens, die bereits nahezu 10% der Gesamtbevölkerung ausmacht, ist aber heute ein unhintergehbarer Faktor im Überlebenskampf des jugoslawischen Vielvölkerstaates geworden.

Freilich handelt es sich dabei auch um ein ökonomisches Problem, um eine entwicklungspolitische Dissoziationsstrategie gegenüber dem bürokratischen Zentralismus der serbischen Teilrepublik — was nicht Autarkie innerhalb der jugoslawischen Föderation bedeuten muß. Damit eng verbunden geht es aber zunächst um die Anerkennung der kulturellen Identität, um die rechtliche und politische Gleichstellung mit den anderen, slawischen Nationen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1990
, Seite 43
Autor/inn/en:

Wilfried Graf:

Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Friedenserziehung Burg Schlaining.

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