FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 87
Wolfgang Pehnt

Dekoration contra Brutalilät

Gegensätze in der Architektur von heute

Keine zehn Jahre sind vergangen, daß die moderne Architektur eine gesicherte und gefestigte Position erreicht zu haben schien. Was Bauhaus, Stijl und die großen Lehrmeister der Moderne erarbeitet und gelehrt hatten, errang internationale Geltung und eine spürbare Breitenwirkung. Walter Gropius hatte sich ein Team junger amerikanischer Architekten herangezogen. In Marseille wuchs Le Corbusiers große Wohneinheit empor, erste Verwirklichung von Ideen, die ihn seit dreißig Jahren beschäftigt hatten; in Brasilien entstand eine — freilich auch damals schon eigenwillige — Architektur, die sich auf Corbusier als ihren Ahnherrn berief. Mies van der Rohe baute nicht nur das Illinois Institute of Technology in Chicago, eine monumentale Komposition horizontal gelagerter Kuben aus Glas und Stahl, sondern erhielt endlich die Möglichkeit, seine Glasturm-Visionen von 1920 in geläuterter und sparsam gewordener Form zu realisieren. Die Lijnbaan, eine Fußgängerstraße im Stadtzentrum Rotterdams, von Bakema und van den Broek, die Fabrik Egon Eiermanns in Blumberg, der Hauptbahnhof in Rom waren Beispiele des europäischen Wiederaufbaus, in denen das „Neue Bauen“, die Architektur der glorreichen Zwanzigerjahre, nach wie vor schöpferische Kraft bewies.

Was der Architektur um 1950 gemeinsam war, bestand eben in dieser Verpflichtung auf die baukünstlerische Ästhetik des dritten Jahrzehnts. Die Entwicklung der Form aus der Funktion, jene Parole, mit der einst der Kampf gegen die historisierenden Stilmoden des 19. Jahrhunderts gewonnen worden war, besaß uneingeschränkte Gültigkeit; sie schloß nicht aus, daß zugleich ein bestimmtes Formbild — das des rechtwinkligen, zumeist transparent und schwerelos wirkenden Körpers — herrschend war. Geometrische Logik, kristallische Präzision und die Übersichtlichkeit objektiver Formen waren gültige Maßstäbe. Die Dogmatik, die solche Forderungen einst besessen hatten, war dagegen einem freieren Formspiel gewichen. Statt der obligatorisch verglasten oder weiß getünchten Außenwände der Zwanzigerjahre war vom Holz bis zum farbigen Glas und Aluminium eine Fülle traditioneller und neuer Baumaterialien zugelassen. Die Gliederung der Fronten, die früher so weitgehend von dem streng vereinheitlichenden Motiv des horizontalen Fensterbandes besorgt worden war, erlaubte in der Vertikalen wie in der Horizontalen zahlreiche lebendige Varianten und erfuhr durch die Sonnenschutz-Elemente der südlicheren Länder eine zusätzliche Bereicherung. Profile, auch wo sie nicht Bestandteile der Konstruktion waren, durften verwendet werden, sofern sie wenigstens konstruktive Verhältnisse veranschaulichten; selbst der große Puritaner Mies van der Rohe verschmähte dieses Mittel nicht.

Mochte die Situation um 1950 von einem Gesetz, das unbeschadet des Anteils vieler bedeutender Architekten den Namen Mies van der Rohes tragen müßte, beherrscht sein — es war ein sanftes Gesetz, das dem Regionalismus und der Persönlichkeit Spielraum ließ. Trotzdem: die Norm forderte Widerspruch heraus. Heute, ein Jahrzehnt später, zeichnen sich zumindest zwei charakteristische Reaktionen ab. Die erste erwuchs aus der allmählichen Verfärbung von Stilzügen, die der Architektur von 1950 eigen waren, die zweite aus dem schroffen Protest. Formierte sich jene Richtung, die sich in einem allmählichen Verwandlungsprozeß herausbildete, bezeichnenderweise in den USA, die durch den Krieg keinen Bruch ihrer architektonischen Überlieferung erlebten, vielmehr durch den Zustrom immigrierender europäischer Architekten einen ungeahnten Aufschwung erfahren hatten, so kam es zur plötzlichen Fronde in Ländern, deren politisches Schicksal die Kontinuität zu den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts erschüttert hatte, in Italien und England. „Neo-Dekorativismus“ lautet die vorläufige Bezeichnung jener ersten Konstellation, „Brutalismus“ die der zweiten.

Das Bauwerk als Bijouterie
Minoru Yamasaki, Conference Center, Detroit, 1959
Bild: Baltazar Korab

Die „Neo-Dekorativisten“ (ein Schmähwort der Gegenpartei) gingen aus von einem charakteristischen Ergebnis der modernen Architektur, dem Curtain Wall. Dieser nichttragende Raumabschluß, der dem tragenden, aber nicht in der Ebene der Außenwand erscheinenden Konstruktionsgerüst vorgeblendet ist, war in den klassischen Lösungen um 1950, vor allem im New Yorker Lever-House, so ausgebildet, daß er die Gliederung der Geschosse klar ausdrückte und das konstruktiv tragende Stahl- oder Stahlbetonskelett durch die transparenten Elemente des Curtain Wall sichtbar blieb. In den folgenden Jahren wurden die glatten Glasflächen oft durch dekorativ gestanzte Metallplatten ersetzt, denn grundsätzlich erlaubte die konstruktiv bedeutungslose Wandmembrane jede Art von Ornamentierung. Der Weg war frei zu den preziösen, bijouteriehaften Ornamentflächen, die wie orientalische Teppiche bei Stone, Goodwin oder Harrison & Abramovitz die Struktur der Bauten verhängen. Der flächige, nicht auf die konstruktiven Verhältnisse der Architektur bezogene Dekor setzte sich aber auch in dreidimensionales Ornament um. Minoru Yamasaki oder Philip Johnson, früher einer der asketischen Schüler Mies van der Rohes, umgeben aufwendigere Bauobjekte mit immensen, freistehenden Baldachinstrukturen, die keinem Zweck als der festlichen Repräsentanz dienen.

Das Bauwerk als Skelett
Lodovico Belgiojoso, Enrico Peressutti und Ernesto N. Rogers, Torre Velasca, Mailand, 1957
Bild: Zodiac 3

Gegen diese Entwicklung opponierten die „Brutalisten“ (sie hatten sich den Namen selber zugelegt). Die Beunruhigung der Form beschränkt sich nicht, wie im wesentlichen bei den Amerikanern, auf die Fläche, sondern ergreift den ganzen Baukörper. Die Wand wird schwer und massiv, auch wo sie nicht trägt. Bevorzugt werden Baustoffe mit rauher, körniger und kontrastreicher Textur wie Ziegel und Sichtbeton, an dem die Schalspuren so grob wie möglich demonstriert werden. Le Corbusiers Hohes Lied auf den „beton brut“ steht dahinter. Die Vorliebe für lastende Gewichte geht so weit, daß manche Bauten mit mächtigen Gebäudekronen versehen werden, die einen hoch gelegenen optischen Schwerpunkt suggerieren. Der spitze oder stumpfe Winkel regiert, und die harte, dissonante Fügung der einzelnen Bauteile zueinander. Der optische Maßstab springt ständig, kleine Elemente werden schroff mit großen konfrontiert. Detail wie Gesamtform wirken blockhaft und wuchtig.

Das Bauwerk als Festung
Vittoriano Vigand, Istituto Marchiondi, Mailand 1957
Bild: Fotogramma Milano

Neigen Bauten von Brutalisten wie Vigand, Rogers oder De Renzi mit ihren rohen Außenflächen und verwinkelten Baumaßen zu drückender Schwere, so besitzen die Werke der Gegenspieler Leichtigkeit im Volumen und Lebhaftigkeit im Muster. Die einen bauen aus einprägsamen Einzelelementen komponierte, asymmetrische und schwer zu entziffernde Komplexe, die anderen auf Unterordnung von Teilformen bedachte, auf Mittelachsen bezogene und leicht lesbare Baukörper. Konstruktive Glieder werden dort überbetont, hier hinter Ornamentvorhängen verborgen, das Baumaterial dort dramatisch in Szene gesetzt, hier in seiner Stofflichkeit ignoriert. Jene machen sozusagen die Anstrengung des Bauens deutlich, diese suchen sie mit allen Mitteln zu überspielen. Der brutalen Expression steht die gepflegte Eleganz, den Problematikern stehen die Hedonisten gegenüber; Yamasaki, Anhänger der letzteren Richtung, fordert ausdrücklich eine Architektur „for enjoyment“.

Bei aller Gegensätzlichkeit besteht eine Gemeinsamkeit in mehr als nur dem Affront gegenüber ein und derselben Sache. Beide Tendenzen sind keineswegs spontane Ergebnisse, so sehr wenigstens der Brutalismus sich als ein Ausbruch schöpferischer Naivität auszugeben sucht. Die einen wie die anderen leben aus einem sehr reflektierten Verhältnis zur Architekturgeschichte. Aus dem Munde eines Mies van der Rohe wäre ein empfehlender Hinweis auf eine bestimmte historische Stilphase kaum denkbar. Aber bei den Brutalisten spielt nicht nur die jüngste Vergangenheit herein, vor allem das Werk des großen Sonderlings Frank Lloyd Wright, sondern es entstehen Silhouetten, die an die der Baptisterien von Parma und Cremona erinnern, Bürohäuser wie mittelalterliche Türme, halbmondförmige Bebauungen von Grünplätzen wie die „Crescents“ im England des 18. Jahrhunderts. Die Smithsons, ein englisches Architektenpaar, formulierten für ein Wohnhausprojekt die Aufgabe mit wünschenswerter Genauigkeit: „Das Haus soll aussehen wie ein dunkler, solider, von Fenstern durchstoßener Block in der Art von Vanbrugh Castle, Blackheath“! Auf der anderen Seite finden sich immer wieder sehr wörtliche Zitate exotischer, vor allem islamischer, aber auch spätgotischer Architekturen. Das Programm, das sich Yamasaki für die amerikanische Botschaft in London stellte, verrät nicht weniger Reflexion auf die Historie als das der Smithsons: „Wir wollten den typisch englischen Charakter des Westminster-Palastes mit der eleganten Leichtigkeit des Dogenpalastes verschmelzen.“

Wären geschichtliche Konstellationen — und also auch kunstgeschichtliche — nicht unwiederholbar (nicht nur was den Formenbestand im einzelnen, sondern auch was die konstruktiven Möglichkeiten, die Funktionen und vor allem den soziologischen Hintergrund betrifft): diese Situation müßte notwendig den Vergleich mit dem Manierismus des 16. Jahrhunderts nahelegen. Auch damals wirkte die Provokation der Vollendung, der klassischen Ausgewogenheit der hohen Renaissance; auch damals ergaben sich eine „zahme“, klassizistisch-noble Spielart und eine dramatische, „wilde“ Variante, die auch in der Mauertechnik des „nonfinito“, des in der Bosse belassenen Hausteins, an die Materialreize des rauh verschalten Sichtbetons erinnert; auch damals standen sich ein Bau wie Palladios Villa rotonda und Giulio Romanos Palazzo del Té als feindliche Brüder gegenüber.

Die Bestandsaufnahme dessen, was heute gebaut wird, läßt sich natürlich keinesfalls auf diese zwei Komponenten reduzieren. Die Architektur ganzer Nationen entzieht sich ihr: Brasilien mit seinem von Einfällen überströmenden, stets von Spieltrieb und mondänem Repräsentationswillen gefährdeten Protagonisten Oscar Niemeyer; Japan, dessen überraschender Auftritt auf der Szene der modernen Architektur, bei aller Nähe zur Brutalismus-Partei, der Tradition des japanischen Hauses und seiner sublimen Proportionen verpflichtet ist; die skandinavischen Staaten, vor allem Finnland, dessen bedeutendster Baumeister Alvar Aalto gezeigt hat, daß Regionalismus und höchste Qualität, Humanismus und Monumentalität vereinbar sind. Eine ganze Gruppe von kühnen Ingenieurkonstruktionen — Schalenbauten, Hängedächer und räumliche Tragwerke — haben eine architektonische Ästhetik eigener Art geschaffen. Schließlich haben sich auch die Altmeister der Moderne nicht durchweg auf die neuen Trends festlegen lassen. Le Corbusier, der erst heute sein Werk auf der breiten Basis errichten kann, die ihm zukommt, ist immer zuerst Le Corbusier, dann erst unter anderem auch Schrittmacher des Brutalismus; und unangefochten vom Abfall seiner Schüler baut Mies van der Rohe seine Träume von Präzision und Logik — Orientierungsmarken, heute wie vor einem Jahrzehnt, im Für und Wider des Augenblicks.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1961
, Seite 115
Autor/inn/en:

Wolfgang Pehnt:

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