FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 125
Hans Winge

Das Spiel wird ernst

Die Anfänge des Films um 1900

Zurück bis zu den prähistorischen Höhlenmalereien ist der Wunsch des Menschen erkennbar, Bewegung im Bilde festzuhalten. Weihnachten 1895 ging er, nach der Erfindung des elektrischen Lichts und der Perforierung des Zelluloidstreifens, in Erfüllung. Die Brüder Lumière führten die ersten Filme vor — die Photographie bewegte sich. Edison war es mehr um den Tonfilm zu tun, um den Ton überhaupt (er war taub), aber seine Kombinationen von Stummfilm und Zylinder-Phonographen waren unbefriedigend. Der Tonfilm wurde erst viel später erfunden.

Somit brach der Film gerade um die Jahrhundertwende ein; in der Fülle gleichzeitig gemachter, zivilisatorisch wichtiger Entdeckungen wurde die Novität wenig beachtet und bald zu den Damen ohne Unterleib oder mit Vollbart auf die Jahrmärkte abgeschoben.

Die Fabrikanten Lumière taten das erste und auch beste: sie schickten Kameraleute durch die ganze Welt, journalistische Neuigkeiten zu suchen. Bis dahin hatten sich die Zeitungen hauptsächlich mit dramatisch pointierten Zeichnungen phantasievoller Spezialisten als Illustration von Nachrichten begnügt, da die Photographen es damals selten verstanden, die betreffende „Sensation“ so klar und wirkungsvoll ins Bild zu bekommen wie die Zeichner, die sich die Situation selbst arrangierten. Lumières Leute waren Kamerareporter, deren Agilität durch die Dimensionen und das Gewicht ihrer Apparate freilich begrenzt war. Das Resultat ihrer Arbeit hing auch vom Klima und vom verfügbaren Licht ab, denn die Filme reagierten zwar empfindlich, aber auf die falschen Einflüsse, zum Beispiel viel mehr auf Feuchtigkeit als auf Licht. Erst viel später ist es gelungen, diesen Charakter des Filmmaterials umzukehren.

Doch schon 1896, kaum ein halbes Jahr nach den Lumières, begann Georges Méliès, Besitzer und Star eines Pariser Zaubertheaters am Boulevard des Italiens, mit einer in England gekauften Kamera kleine Filme zu drehen, die mit der Wirklichkeit im journalistischen Sinne nichts zu tun hatten. Sein zweiter Film hieß bereits „Séance de préstidigitation“ und dauerte über vierzig Sekunden. Méliès wandte der Straße den Rücken und begann, auch im Film zu zaubern, zum Beispiel als er eine Dame „auf offener Bühne“ verschwinden ließ, indem er den Film anhielt während sie abging, und dann bei leerem Proszenium weiterdrehte. Noch vor Ende des Jahres 1896 „inszenierte“ der emsige Meister den ersten Handlungsfilm, „Le manoir du Diable“, und das Unkraut dramaturgischer Probleme begann zu wuchern, ohne seitdem zum Stillstand gekommen zu sein.

Auch in anderen Ländern wurden Kameras gekauft und eigene Produktionen in Angriff genommen, die sich aber vom französischen Vorbild nicht lösen konnten. Beachtenswert ist, daß Méliès die Kamera an die Stelle eines „idealen“ Zuschauers setzte, vor dem sich die Handlung abspielte wie vor dem Parkettsitz eines Theaterbesuchers. Aber schon 1900 änderte der Engländer R. W. Paul die Kameraposition für „Battery of Quick-Firing Guns in Action“ und „Britain’s Welcome to her Sons“, und 1903 begann Alfred Collins seinen Film „Welshed, a Derby Day Incident“ sogar mit einem Kameraschwenk. Paul hatte schon 1898 in „Twin’s Tea Party“ Großaufnahmen von Gesichtern gefilmt, um Grimassen, wie auch in späteren Filmen, zu vorwiegend komischen Effekten zu benützen. 1900 zeigte G. A. Smith in „Grandma’s Reading Glass“ die von Großmama durch ihr Vergrößerungsglas gesehenen Objekte in entsprechender Vergrößerung auf der Leinwand. So früh begann der Film schon, wenn auch eher zufällig als bewußt suchend, seine eigene Sprache und Form zu finden, um neue Ideen auszudrücken.

Der erfolglose Schauspieler Griffith war es, der aus diesen im Laufe der Jahre zusammengetragenen filmgrammatischen Elementen eine noch nicht sehr subtile, aber ausdrucksstarke neue Bildersprache baute. Griffith bezeichnete sich lieber als Schriftsteller, trat als Schauspieler nur unter seinem Vornamen Lawrence auf, war öfters gezwungen, sich durch Gelegenheitsarbeit über Wasser zu halten und beschloß in dem besonders harten Jahr 1907, statt, wie vorher Erz zu schaufeln, eigene „Kino-Ideen“ zu verkaufen.

Nach Méliès in Frankreich und Paul, Williamson und Hepworth in England hatte Edwin S. Porter in seinen kleinen Filmen „The Life of an American Fireman“ und „The Great Train Robbery“ in Amerika die Grundlagen zur filmischen Erzählung einer erfundenen Handlung gelegt. Das wurde bald nachgeahmt und Griffith bekam dabei seine erste kleine Filmrolle. Anschließend aber konnte er einem Atelier ein paar Geschichten verkaufen, in denen er, um zusätzlich etwas zu verdienen, auch mitspielte. Für das „Drehbuch“ bekam er fünfzehn Dollar, für die Rolle fünf pro Tag. Er fiel bald auf durch Energie und Initiative, und die Firma, der es nicht gut ging, gab ihm (und sich) die Chance, Regie zu führen. Billy Bitzer, der seit 1896 bei der Firma als Elektriker arbeitete, gab dem Neuling praktische Ratschläge, worüber er später stolz berichtete:

Damals war der Kameramann Mädchen für alles. Er war für alles verantwortlich bis auf die Schauspielerregie. Er sagte, ob das Licht richtig war, die Schminke, die Blickwinkel, die Schnelligkeit der Gesten. Ich war bereit, Griffith in allem zu helfen. Ich hatte ihn als Schauspieler beobachtet und war deshalb ziemlich skeptisch, aber er war mir für meine Tips sehr dankbar. Wir haben sechzehn Jahre zusammengearbeitet. Ich war immer an seiner Seite und auch, als er schon der ‚große Griffith‘ war, fragte er mich immer wieder um meine Ansicht und um Ideen.

Griffith war ein kluger Schüler. Schon sein Regiedebüt, „The Adventures of Dollie“, war ein aufsehenerregender Erfolg. 1910 zeichnete er einen neuen Vertrag bereits mit seinem wirklichen Namen — er hatte sich seines Berufs nicht mehr zu schämen. Griffith wechselte die Kameraaufstellung mitten in der Szene, er ließ sie fahren, er behandelte soziale Themen in einer Unterhaltungsindustrie, die bisher vor allem Kolportage und Schmalz produziert hatte. Anfangs war das Publikum sicher verdutzt, es kam ja vorwiegend aus Schichten, deren ganzes Kulturbedürfnis durch den Kinematographen gestillt wurde und denen plötzlich im dunklen, traumgleichen Kino Ereignisse vorgesetzt wurden wie Arbeitslosigkeit, Geldmangel, Hunger und Krankbheit.

Griffith war geistig völlig das Kind der viktorianischen Ära. Sein Geschmack wurzelte in den pathetischen Mores dieser untergehenden Epoche. Um so bemerkenswerter war, daß er trotz seiner Erfahrung auf kleinen Provinztheatern so schnell schon die Eigengesetzlichkeiten des Films erkannte, während in Frankreich Charles Pathé die „Film d’Art“ gründete, um die widerspenstigen Schauspieler von Rang zum Film zu ziehen, den sie bis dahin als Flohzirkus-Ersatz betrachtet hatten. 1908 zeigte er im Salle Charras „L’Assassinat du Duc de Guise“ unter der Regie von Le Bargy und Calmettes. Der „Comédie Française“ war dadurch eine Bresche geschlagen, obwohl die göttliche Sarah Bernhardt schon 1900 den Hamlet-Monolog für den stummen Film „gesprochen“ hatte. Le Bargy zügelte auch die bis dahin sehr fahrigen Gesten und die auf die vierte Galerie gezielte Mimik der Schauspieler vor der Kamera und legte damit eine auch von Griffith akzeptierte Basis für eigene schauspielerische Filmtechnik.

Im Jahre 1896, als Lumière Straßenszenen drehen ließ und Méliès Taschenspielereien photographierte, spielten die Theater bereits Tolstois „Macht der Finsternis“, Tschechows „Möwe“, Hauptmanns „Versunkene Glocke“, Schnitzlers „Liebelei“. Als Griffith als Filmregisseur debütierte, schrieb Oskar Kokoschka schon „Mörder, Hoffnung der Frauen“, Gustav Meyrink „Das Wachsfigurenkabinett“, Strindberg die ,„Gespenstersonate“, Wedekind „Musik“, und als die Bernhardt in dem zweifelhaften Spektakel der „Elisabeth“ die „Verewigung“ durch den Film suchte, verfaßte Ernst Barlach den „Toten Tag“, Hamsun den „Wanderer“, Schnitzler, „Professor Bernhardi““, Shaw „Pygmalion“, Sternheim „Die Kassette“ und „Bürger Schippel“, Wedekind „Franziska“. Der Geschmacksunterschied zwischen Drama und Film betrug ungefähr hundert Jahre.

1914 begann Charles Chaplin zu filmen und bald war er nicht nur Komiker, sondern auch Autor und Regisseur seiner Filme. Er war nicht weniger Viktorianer als Griffith, und seine Satiren auf die Liebe waren wenigstens zur Hälfte ernst gemeint. Chaplins Viktorianismus war durch die extreme Härte seiner Kindheit auffallend sozial gewürzt.

Der Film brachte in der Zeit vor Chaplin auch seine erste, „eigene“ Tragödin hervor, die Dänin Asta Nielsen. Sie kam vom Theater, aber erst der Film gab ihr die Chance ihres Lebens. Sie beherrschte vollendet ihre großen, ausdrucksvollen schwarzen Augen, ihre langen, schmalen Hände, ihren mageren Körper. Das „kam nicht über die Rampe“, aber der Film war nicht an die starren Größenverhältnisse innerhalb eines Bühnenportals gebunden. Er vermochte „einen Menschen, ja jedes seiner Glieder so groß oder so klein zu zeigen, wie er wollte. Die Augen konnten die ganze Leinwand füllen oder im Halbschatten funkeln, lauter Möglichkeiten, die der Bühne versagt waren. Die suggestive, sparsame Ausdruckskraft der Nielsen brauchte die Kamera, um sich mitzuteilen, und sie wurde der erste internationale Star, der Millionen von Menschen vertraut war wie kurz danach nur noch Chaplin.

Chaplins „Modernität“ kam wegen der Clowntradition der Groteske nicht so deutlich zum Vorschein wie die Modernität der Nielsen, die schon „unterspielte“, als man auf der Bühne noch „donnerte“ und „große Ausbrüche“ und „Abgänge“ suchte. Diese beiden Künstler waren ohne Zweifel die ersten, die das Interesse der Literatur für den Film weckten, doch die Industrieherren des Films verstanden unter Literatur etwas ganz anderes, als diese zu bieten hatte. (Erst in den letzten Jahren wurden die ersten, schüchternen Kontakte hergestellt. Von einer Systematik der Beziehungen kann noch keine Rede sein.)

Zu den vielen Ländern, in denen Photographen und Schausteller mit der neuen Erfindung Geld zu verdienen suchten, zählte auch die österreichisch-ungarische Monarchie. Und hier war es — man möchte beinahe sagen: natürlich — ein adeliger Herr, der Benzinfahrzeuge, Rennpferde, Damen und gutes Essen liebte, und der dann auch den Film unter seine kostspieligen Steckenpferde einreihte. Aus den Waschtrögen seines Schlosses Groß-Meierhöfen machte Alexander Graf Kolowrat sein erstes „Labor“, und von da ab war seine Entwicklung zum bedeutendsten Filmproduzenten Österreichs unaufhaltsam, wovon noch heute die Reste der „Sascha-Film“ zeugen.

Der Film war achtbar geworden, aber diese Achtbarkeit hatte ihren haut goût. Die Techniker hatten die elementare Erfindung der Vervielfältigung zustande gebracht. Die Buchdruckerei gibt es seit mehr als fünfhundert Jahren; dennoch können Millionen immer noch nicht lesen und die Majorität der Menschheit hat es zwar in der Schule lernen müssen, ist aber deshalb nicht zu Lesern geworden. Die Möglichkeit, Gemälde für wenig Geld zu vervielfältigen, hat uns den Öldruck beschert, und die Putten der Privatgalerien im Schlafzimmer finden heute in den Eissalonbildern ihre dem erhöhten Wohlstand entsprechende kostspieligere Fortsetzung. Die Technik hat nicht Qualität verbreitet, sondern Quantität. Sie hat eine Massenkultur ins Leben gerufen, wie sie seit den Volksschauspielen früher religiöser Zeremonien und klassischer Arenen nicht mehr bestanden hatte.

Diese Massenkultur läßt sich natürlich nicht vom Schicksal der Massen trennen, die sie kaufen. Daher kommt auch der Reflex der „Gebildeten“, über den Film die Nase zu rümpfen; das war noch verständlich, als der Film der Primitivität seines Publikums entsprach. Es wird schwerer verständlich, seitdem der Film auf einem anderen, noch kleineren Bereich in die vorderste Reihe der Künste gedrungen ist und dicht neben der modernen Literatur, dem modernen Drama, der modernen Kunst überhaupt liegt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1964
, Seite 276
Autor/inn/en:

Hans Winge:

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