MOZ » Jahrgang 1989 » Nummer 43
Martin Friedrich (Übersetzung) • Zhao Hanqing

Das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz

Anklage eines Studenten, der mit dem Leben davon gekommen ist.

Bild: Contrast

Ich bin ein 20jähriger Student an der Qing-Hua Universität. Gestern abend saß ich die ganze Zeit auf dem „Denkmal für die Helden der Revolution“. Ich war Zeuge des ganzen Vorganges, als die Truppen sowohl die friedlich versammelten Studenten wie auch andere Menschen auf diesem Platz niedergeschossen haben. Viele meiner Kommilitonen sind erschossen worden, und meine Kleidung ist von ihrem Blut befleckt. Als Augenzeuge möchte ich diese Vorgänge des Massakers an alle freiheitsliebenden Menschen auf dieser Welt weitergeben.

Eigentlich haben wir gestern nachmittag schon erfahren, daß das Militär tatsächlich angreifen würde. Der Grund war ein Telefonanruf gegen 16.00 Uhr. (Dieser Anruf ist in einer Telefonrufstation in einer Gasse in der Nähe des Tian’anmen-Platzes angekommen. Ein Student nahm diesen Anruf entgegen.) In diesem Gespräch wurde dem Studenten von einer unbekannten Person mitgeteilt, daß das Militär den Tian’anmen-Platz mit Waffengewalt räumen wird. Diese Nachricht von der bevorstehenden Räumung des Platzes durch das Militär hat uns aufgeschreckt. Wir riefen eine Versammlung der führenden Studenten ein, um weitere Maßnahmen abzusprechen und vor allem, um eine blutige Auseinandersetzung zu vermeiden.

Wir besaßen 23 Gewehre und einige Flammenwerfer, die wir während einer Auseinandersetzung vor zwei Tagen erbeutet hatten. „Der autonome Hochschulverband“ blieb bei dem Beschluß, auf dem Weg zur Demokratie gegen das Militär keine Gewalt anzuwenden. Daher wollten wir diese Waffen den Truppen übergeben. Nach Gesprächen mit den Soldaten und nach Rückmeldung von höheren Militärkreisen wurden die Waffen zurückgewiesen. Nach diesen vergeblichen Versuchen wurden gegen 1.00 Uhr nachts an dem Denkmal die Gewehre zerstört und die Flammenwerfer unschädlich gemacht, weil sich die Situation immer mehr zuspitzte. Die Waffen sollten nicht von schlechten Elementen benutzt werden. Außerdem wollten wir vermeiden, daß die Behörden dadurch evtl. Beweise gegen uns in die Hände bekommen.

Vergebliche Hoffung der StudentInnen

„Der autonome Hochschulverband“ machte alle Menschen auf diesem Platz auf die augenblicklich gefährliche Situation aufmerksam. Um blutige Auseinandersetzung zu vermeiden, sollten alle Menschen den Platz räumen. Aber trotzdem blieben insgesamt ca. 40.000 bis 50.000 StudentInnen und 100.000 BürgerInnen auf diesem Platz versammelt. Auch ich blieb an diesem Ort.

Im Rückblick muß ich sagen, daß die Stimmung von diesem Zeitpunkt an sehr gereizt war. Alle Studenten standen in ihrem Leben bisher nicht vor einer solch gefährlichen Situation. Wer behauptet, keine Angst zu haben, sagt in meinen Augen nicht die Wahrheit. Aber wir hatten uns auf diese Situation vorbereitet und waren von der Annahme ausgegangen, daß die Soldaten nicht auf uns schiessen würden. Auf jeden Fall hatten wir das Gefühl, daß wir uns für die Demokratie und den Fortschritt Chinas opfern wollen, und das ist wertvoll.

Nach Mitternacht fuhren zwei Panzerwagen aus der Richtung des Qianmen-Tors von zwei Seiten mit hoher Geschwindigkeit auf den Platz vor. Die Situation spitzte sich weiter zu. Das Militär ließ wiederholt eine Räumungsansage verbreiten. Gleichzeitig rückten die Soldaten mit Stahlhelmen in mehreren Reihen von allen vier Seiten auf den Tian’anmen-Platz. In der Dunkelheit konnte man aber erkennen, daß beim „Museum für chinesische Geschichte und Revolution“ Maschinengewehre postiert waren. Wir Studenten zogen uns zum Denkmal zurück. Von den anwesenden Studenten waren nach meiner Schätzung etwa 2/3 Männer und 1/3 Frauen.

Um Punkt 4.00 Uhr gingen die Lichter auf dem Platz aus, und es erging der erneute Befehl, den Platz zu verlassen. Plötzlich wurde ich sehr ängstlich und dachte mir, daß nun unsere Zeit gekommen wäre.

Maschinengewehre: Feuer frei!

Zu der Zeit hatten Hou Dejian, der auch an dem Hungerstreik teilgenommen hatte, und andere Studenten mit dem Militär über einen friedlichen Rückzug verhandelt. Als die StudentInnen den Platz verlassen wollten, um 4.40, wurden rote Signalraketen in den Himmel geschossen. Darauf gingen alle Lichter auf dem Platz wieder an. Ich sah, daß vor dem Platz viele Soldaten standen. In diesem Augenblick kam von der Ostseite der „Großen Halle des Volkes“ eine Truppe Soldaten in Kampfanzügen und Gewehren mit aufgesteckten Bajonetten. Sie trugen Helme und Gasmasken.

Nachdem die Truppe vorgestürmt war, wurden etwa ein Dutzend Maschinengewehre aufgestellt. Die Maschinengewehrschützen legten sich auf den Boden, im Rücken das Tian’anmen-Tor, die Gewehrmündungen zeigten in Richtung des Denkmals. Nachdem die Maschinengewehre postiert waren, tauchten plötzlich wieder viele Soldaten und bewaffnete Polizisten mit elektrischen Schlagstöcken und mit Plastik überzogenen Stöcken auf. Ich sah außerdem Bewaffnung, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Bewaffneten rannten direkt auf uns, eine friedlich demonstrierende Gruppe, zu. Sie schlugen uns mit aller Kraft und trieben uns nach zwei Seiten auseinander. So haben sie einen Keil gebildet und uns bis zur dritten Stufe des Denkmals getrieben, immerzu auf uns einschlagend. Ich habe gesehen, daß bei 40 bis 50 Studenten die Köpfe so stark verletzt wurden, daß alles voller Blut war. In diesem Moment kamen die Panzerwagen und die Soldaten, die auf dem Platz standen, langsam auf uns zu. Die Panzerwagen kreisten uns eng ein und ließen nur einen Ausgang in Richtung Museum.

Erst niedergeschlagen, dann niedergeschossen

Die Soldaten, die uns bis zur dritten Stufe des Denkmals hinuntergeprügelt hatten, zerstörten zuerst Megaphone, Druckwerkzeuge und Getränkevorräte. Danach wurden die StudentInnen unter Schlägen nach unten getrieben. Wir blieben sitzen und sangen Hand in Hand die „Internationale“.

Außerdem riefen wir „Volksbefreiungsarmee, schlag nicht das Volk!“ Aber viele Soldaten schlugen uns von oben mit ihren Stöcken, und die Studenten, die auf der dritten Stufe saßen, wurden dadurch gezwungen, herunterzukommen.

Als die StudentInnen von der dritten Stufe bis zum Boden heruntergeschlagen worden waren, fingen die Maschinengewehre an zu feuern. Manche Soldaten knieten nieder und schossen. Gewehrkugeln flogen über die Köpfe hinweg. Die Soldaten, die auf dem Boden lagen, trafen mit den Kugeln die Menschen in Brust und Kopf. Als wir das sahen, flohen wir wieder hoch auf das Denkmal. Aber sobald wir auf dem Denkmal angelangt waren, hörten alle Maschinengewehre auf. Gleichzeitig prügelten uns die Soldaten wieder vom Denkmal herunter. Als wir unten waren, schossen die Maschinengewehre wieder. Ohne Rücksicht auf das eigene Leben haben umstehende Bürger Flaschen und Holzsäcke genommen und mit den Sodaten gekämpft. In diesem Augenblick forderte „der autonome Hochschulverband“ die Studenten und Bürger dazu auf, den Platz zu verlassen. Es war kurz vor 5.00 Uhr am Morgen.

Vermerk der Übersetzer

Das berühmte „Denkmal für die Helden der Revolution“ besteht aus einer großen Säule mit einer 3stufigen Plattform. Die Oberfläche der Säule ist mit Reliefs versehen, welche sowohl die wichtigsten Angelegenheiten als auch die Volkshelden der vergangenen 100 Jahre chinesischer Geschichte zeigen. Die „Erst niederschlagen, dann niederschießen“-Taktik des Militärs diente dem Zweck, Schäden des Denkmals zu vermeiden und keine Spuren des Massakers zu hinterlassen.

Fluchtweg über die Leichen

Die Panzerwagen hatten den Platz eingekreist und nur einen Ausgang offengelassen. Als die StudentInnen in Richtung dieses Ausganges zu fliehen versuchten, wurde dieser Ausgang von gewissenlosen Panzerfahrern blockiert. Mehr als dreißig Panzerwagen überrollten einige Menschen, auch unsere Flaggen vor dem Denkmal. Auf dem Platz herrschte ein Chaos. Ich war überrascht, daß die Studenten so mutig sind. Denn wir gingen zu den Panzerwagen hin und versuchten, sie mit den Händen zurückzuschieben. Einige von uns wurden dabei erschossen. Andere rannten über die Leichen hinweg zu den Panzerwagen und versuchten ebenfalls, diese mit den Händen zurückzuschieben Endlich gelang es uns, einen Panzerwagen wegzuschieben und dadurch einen Ausgang zu schaffen. Ich lief in einer Menge von über dreitausend Studentinnen durch den Ausgang hinaus. Gleichzeitig wurde von hinten auf uns geschossen. Nur etwa tausend von uns erreichten das „Museum für chinesische Geschichte und Revolution“. Vor dem Museum standen noch viele BürgerInnen. Mit diesen liefen wir aus Angst sofort nach Norden, Richtung Tian’anmen-Tor. Kaum waren wir einige Schritte gerannt, sahen wir Mündungsfeuer aus Richtung Norden hinter den Bäumen. Da drehten wir uns um, zurück nach Süden, in Richtung Qianmen-Tor.

Wir rannten, weinten und sahen auf dem Weg viele Tote. Als wir bis zum Qianmen-Tor gerannt waren, kamen uns Soldaten entgegen. Sie kamen aus Richtung Schmuckmarktstraße. Sie schossen nicht auf uns, aber schlugen mit langen Stöcken auf uns ein. Viele Bürger versuchten, die Soldaten aufzuhalten, um die Studenten zu schützen, sodaß wir in Richtung Pekinger-Bahnhof fliehen konnten. Die Soldaten verfolgten uns weiter. Inzwischen war es 5.00 Uhr morgens. Der Lärm der Schießerei wurde langsam schwächer. Ich traf einen Kommilitonen in der Rot-Kreuz-Station. Dieser erzählte mir, daß nur die Studenten, die bis 5.00 Uhr den Platz verlassen hatten, fliehen konnten. Ungefähr zwanzig Minuten dauerte das Schießen der Maschinengewehre.

Was mir unvergeßlich ist: einer meiner Kommilitonen aus der Jiangsu-Provinz von der Qing-Hua Universität war von den Schüssen schwer verletzt worden und flüchtete mit uns. Unterwegs konnte er nicht mehr weiter und sagte zu mir. „Trag mich!“ Ich hatte schon zwei schwache Kommilitoninnen eingehakt. Ich habe ihn nicht halten können. Er fiel hinunter. Andere traten auf ihn. Er muß gestorben sein. Auf meinem Hemd ist noch eine Blutlache von ihm. Sein Körper war voller Blut gewesen.

Beistand für Tote und Verletzte ohne Rücksicht auf das eigene Leben

Ich werde nie vergessen, wie die Menschen ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben versuchten, Verletzten Hilfe zu leisten und die Toten zu bergen. Einige KommilitonInnen gaben ihre Kleider her, um die Wunden der Verletzten zu verbinden. Nachdem wir bis zum Pekinger-Bahnhof gekommen waren, ging ich mit zwei anderen Kommilitonen wieder zurück auf den Platz. Es war 6.30 morgens. Um das Qianmen-Tor waren viele Bürgerinnen versammelt. Ich folgte den Leuten bis zum „Mausoleum Mao Zedongs“. Dort konnten wir nicht mehr weiter. Mehrere Reihen von Panzerwagen und Soldaten bildeten dort eine Blockade. Deswegen ging ich in einen Seitenweg und kletterte auf einen Baum. Von dort sah ich, daß die Soldaten auf dem Platz riesige Plastiksäcke nahmen und die Leichen von StudentInnen und BürgerInnen nacheinander in diese Säcke packten. Mit großen Segeltüchern überdeckten sie diese Säcke.

Wie viele Tote es insgesamt gab, weiß ich nicht. Aber ich glaube fest daran, daß eines Tages das Volk die genaue Zahl ermitteln und die Rechnung begleichen wird!

Pessimistisch? Nein, ich bin nicht pessimistisch, weil ich den Willen des Volkes und die Hoffnung Chinas gesehen habe. Einige meiner Kommilitonen sind gestorben und die Wunden vieler Menschen bluten noch. Ich habe glücklicherweise überlebt und weiß, wie ich mein Leben weiterführen werde. Ich werde meine gestorbenen Kommilitonen nicht vergessen und bin auch zutiefst davon überzeugt, daß alle aufrechten Menschen auf der Welt uns verstehen und unterstützen werden.

(editiert von Zhao Hanqing)
(Peking, 4.6.1989)
Dieser Artikel erschien am 5.6.1989 in der Wen-Hui Zeitung Hongkongs. Diese Zeitung wird von der Chinesischen kommunistischen Partei zu 100% finanziert.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1989
, Seite 27
Autor/inn/en:

Martin Friedrich: Sinologe, lebt auf dem Lande in Nordrhein-Westfalen/BRD.

Zhao Hanqing:

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