FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1967 » No. 157
Xaver Schaffgotsch

Das letzte Geheimnis

Ich habe Heimito von Doderer im Mai 1919 auf der Durchreise von Omsk nach Wladiwostok in einem in der Nähe dieser Stadt gelegenen Kriegsgefangenenlager kennen gelernt. Wir alle standen damals unter dem Eindruck des Zusammenbruchs, des Untergangs der österreichischungarischen Monarchie, „unseres“ Reiches. Als ich mich von den Kameraden verabschiedete, glaubte ich ein Stück Heimat verlassen zu müssen, um in ein Niemandsland — nach Hause — zu fahren.

Ich hatte den Kameraden unter anderem auch einen Regenmantel überlassen, dessen sie sich abwechselnd bei ihren Besorgungsgängen in die Stadt bedienen wollten. Dieser Mantel gelangte, nachdem er gute Dienste geleistet hatte, schließlich in Heimitos Besitz, der ihn, wie er mir viele Jahre später berichtete, als Auflage für die Pritsche, auf der er schlief, verwendete. Daß ich dem im Aufbruch befindlichen Dichter und Verfasser der Romane „Die Bresche“ und „Das Geheimnis des Reichs“ einen Freundschaftsdienst geleistet hatte, ahnte ich damals freilich nicht.

Nach dieser ersten Begegnung traf ich Heimito von Doderer in den Nachkriegsjahren nur gelegentlich in größerer Gesellschaft. Meine langjährige Abwesenheit aus Wien, der Zweite Weltkrieg und die ersten Jahre der Besetzung, die ich außerhalb Wiens auf dem Lande verbrachte, ließen den Kontakt abreißen. Erst im Jahre 1953 stellte sich die persönliche Verbindung mit ihm wieder her: ich verdanke sie dem gemeinsamen Freund Hanns von Winter, der uns auf einer Buchauktion zusammenführte. Seitdem gehörte ich dem Kreis um Heimito von Doderer an; es war die Zeit, da er an den „Dämonen“ arbeitete.

Doderer hatte, wie mir schien, jeden von uns gewissermaßen auf Spezialfähigkeiten und Kenntnisse getestet und dann für die Materialbeschaffung zu seiner Arbeit eingespannt. Während Hanns von Winter als Diplomat Details aus dieser Sphäre auf die Richtigkeit hin überprüfte, hatte es der Maler Hans Eggenberger, Doderers alter Kamerad aus Sibirien, seit Jahren in Buenos Aires ansässig, übernommen, einen viele Punkte umfassenden Fragebogen, den Doderer ihm zugeschickt hatte, gewissenhaft auszufüllen und auch zu illustrieren. In Doderers alter enger Wohnung in der Buchfeldgase mußte ich ihm jagdtechnische Details der Auerhahnjagd erklären und das „Anspringen“ auf den balzenden Hahn vorführen. Ich fungierte auch quasi als ehrenamtlicher Konsulent in russischen Angelegenheiten. In dieser Eigenschaft sollte ich ihm an die Hand gehen bei der Beschaffung von Daten und Materialien, die er benötigte für den unbeendet gebliebenen zweiten Teil des „Romans No. 7“, der zum Teil in Rußland in den Jahren 1917 bis 1922 spielt. Er wollte mir die Überprüfung russischer Eigen- und Ortsnamen, gewisser in den Text einzubauender russischer Wörter und Redewendungen (im Original), Flüche und militärischer Kommandos anvertrauen. Auch sollte ich das Exerzier-Reglement der Kaiserlich-Russischen Armee (Fußtruppe und Kavallerie), die Personaldaten bestimmter russischer Heerführer des Ersten Weltkrieges und des russischen Bürgerkrieges beschaffen, Daten für ein Zeitschema dieser Epoche, Karten besorgen etc. Mit einem Wort: „Wenn Könige bauen, haben die Kärrner zu tuen.“

Der Kreis um Doderer war an gewisse Lokale fixiert, die er bevorzugte. Sie lagen alle in einem eng umgrenzten Bezirk, etwa halbwegs zwischen Josefstadt und Währing: das alte Gasthaus „Zu den drei Hackeln“ am Piaristenplatz, eines seiner ältesten „Stammbeisel“, dem er auch noch treu blieb, nachdem er nach Währing übersiedelt war, das Café Rathaus, als Ersatz für das nie ganz verschmerzte Café Greilinger, das Restaurant „Falstaff“, das er vor allem Helmut Qualtingers wegen, den er liebte und bewunderte, aufsuchte. In letzter Zeit schlug er für abendliche Zusammenkünfte das Restaurant „Zum Wilden Mann“ und für ein gemeinsames Mittagessen „Die Flucht nach Ägypten“ oder „Das Auge Gottes“ vor. Gute Freunde, die er sehen wollte, wurden je nach Gelegenheit in eines dieser Lokale bestellt, und wenn ich ihn mit dem einen oder anderen meiner Freunde bekannt machen wollte, weil ich sicher war, daß sie ihm genehm sein würden, so fand die erste Zusammenkunft unweigerlich in einem dieser Lokale statt. Wir, d.h. meine Frau und ich, haben es immer — schon aus genauer Kenntnis seiner Lebensgewohnheiten — als große Auszeichnung betrachtet, wenn er sich gelegentlich als Gast in unserem Hause einfand oder mit uns beiden und seiner Frau Maria, nur zu viert, ausging. Es waren unvergeßliche und unwiederbringliche Stunden.

Bei manchen unserer Gespräche in seiner Währinger Wohnung — bei einer Flasche Wein, manchem Glas Sliwowitz (ein Produkt des „Rieglhofs“, Geschenk seiner Schwester Astrid) starkem Mocca und Pfeife — es dauerte meistens bis tief in die Nacht hinein — kamen wir immer wieder auf ein Thema zu sprechen, das uns beiden aus dem Erlebnis der Jahre in Sibirien sozusagen zugewachsen war, uns beiden, ihm und mir, stets gegenwärtig geblieben ist: das Geheimnis des Reichs.

Diese Idee, die am Anfang von Doderers Schaffen steht und durch sein ganzes Werk geht, schwebt wie ein Schimmer über allen zur „Menschenwerdung“ gelangten Gestalten seines Roman-Werks. Aus der Fülle der Zeiten taucht immer wieder die Gestalt des Reichs auf, und so wie die geschichtlichen Gebilde hat auch der Mensch seinen Kairos.

Hier war ich ihm ein geeigneter Gesprächspartner, weil er in mir, wie er einmal sagte, einen „Augen- und Ohrenzeugen des alten Reichs“, aber auch einen gut fundierten Kenner der Reichsgeschichte gefunden hatte. Auf diese Weise habe ich die ganze Entwicklung, welche diese Idee in der Folge durchgemacht hat, bis sie zur vollen Evidenz gelangt ist, in diesen Gesprächen verfolgen und auch Einsicht in ihre letzte Konzeption gewinnen können.

Es war bei meinem letzten Besuch im Krankenhaus, wenige Tage vor seiner schweren Operation. Wir kamen über Gogol, dessen Ausgabe in meiner Übersetzung er vor sich liegen hatte, wieder einmal auf Rußland zu sprechen. Auch im Russischen Imperium sei eine Ausprägung, ein historischer Aspekt des Reichs und seines Geheimnisses zu erkennen. Jedoch habe es diesem „Reich“ an der „Fülle“ noch mehr gemangelt als den Ausprägungen der Reichsidee im Westen. Das Reich könne nur ein heiliges Reich sein; als Inbegriff der Ordnung in einer heilen Welt gelange es nur durch die Heiligung der Welt zur Verwirklichung. Den Russen, als asketischen Christen, fehlte der Sinn für die Heiligung der Welt. Das Reich stellt eine über-reale Wirklichkeit dar und ist zugleich die Gesamtheit der durch Selbstheilung, (Selbstentäußerung) und durch die Einsicht in die übernatürliche Ordnung zu Trägern des Reichs Berufenen.

Heute stehen wir, seine Freunde, vor einem Abgrund, vor gähnender Leere, die unser aller Erinnerungen an ihn nicht auszufüllen vermögen. Gewiß; das, was wir an Heimito von Doderer bewunderten, bleibt bei uns. Sein Werk wird weiterwirken und Zeugnis von ihm geben. Ein tröstliches Wort.

Tröstlicher aber scheint mir die Überlegung: wir sollten weniger daran denken, was wir an ihm verloren haben, als vielmehr daran, was er für sich durch die letzte und tiefste Selbstentäußerung im Tode gewonnen hat.

Als mir auf dem Heimweg vom Grinzinger Friedhof eine gute Freundin Heimitos, Helmut Qualtingers Mutter, zunickte und bemerkte: „Er hat’s jetzt besser!“, durfte ich’s dabei bewenden lassen, ohne einem „Unterbleiben der Evidenz“ Vorschub zu leisten, in der Gewißheit, daß ihm nunmehr die letzte Einsicht offen stehe: die Erkenntnis des Summum Bonum.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1967
, Seite 71
Autor/inn/en:

Xaver Schaffgotsch:

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