MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 48
Ernst Fischer
CSSR 1968:

Das Ende einer Illusion

Vor 20 Jahren entstand dieser Essay, den autobiographischen Erinnerungen des österrreichischen Kommunisten vorangestellt. Ernst Fischer, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus der KPÖ ausgeschlossen, war die Galionsfigur einer ganzen Generation von KommunistInnen und Linken. Er starb im Sommer 1972 in Wien. Die MONATSZEITUNG dankt dem Sendler-Verlag für die Abdrucksrechte.

Am 21. August des Jahres 1968 um sieben Uhr morgens trat Lou in mein Zimmer. Ihr Gesicht war verstört. Sie trug einen Radioapparat in der Hand; und diese Hand zitterte.

„Bin ich verückt?“ fragte sie. „Das kann doch nicht sein. Das ist eine Mystifikation, wie damals, die Landung der Marsmenschen, du erinnerst dich. Hörst du?“

Wir hörten die Meldung vom Einmarsch der Truppen, der russischen, der polnischen, der ungarischen, der bulgarischen und der deutschen (der ostdeutschen, nicht der westdeutschen!) in die sozialistische Tschechoslowakei. Auf Wunsch der Staats- und Parteiführer seien sie einmarschiert, um ihnen brüderliche Hilfe zu leisten, gegen die Konterrevolution. In der Nacht waren sie gekommen, mit Flugzeugen, Panzern und Geschützen, und hatten das Land besetzt. Auf wessen Befehl, wurde nicht gesagt, nur, in wessen Namen es geschah. „Im Namen des proletarischen Internationalismus.“

Ich arbeite intensiv an einem Buch, von Wäldern und Wiesen umflutet, in einem stillen steirischen Tal. Eine Woche zuvor hatte Antonin „Tonda“ Liehm uns aufgesucht. Er war auf der Durchfahrt nach Jugoslawien. „Endlich vierzehn Tage Urlaub!“ sagte der kluge Freund, einer der besonnensten Vorbereiter des demokratischen Umschwungs in der Tschechoslowakei. „Das Schlimmste, glaube ich, ist vorbei. Einige Wochen lang haben wir die militärische Intervention für eine akute Gefahr gehalten. In Cierna nad Tisou haben wir uns mit den Russen verständigt, hart am Bruch vorbei. Vielleicht ist verständigt ein falsches Wort, denn Dubcek hat, so sehr er es hoffte, die Russen nicht überzeugt — aber sie haben eingesehen, daß das gemeinsame Interesse eine vernünftige Zusammenarbeit erfordert — und wir haben Zugeständnisse gemacht, die zu vertreten sind, auch wenn sie die Entwicklung der Demokratie nicht erleichtern. Die Schwierigkeiten, vor allem die ökonomischen, sind enorm — doch wenn sie uns halbwegs in Ruhe lassen, sich nicht dauernd einmischen, uns nicht fortwährend an der Arbeit behindern, kommen wir durch. Ihr wißt, ich bin kein Romantiker, wir werden ich weiß nicht wie viele Jahre brauchen, um die Wirtschaft in Ordnung zu bringen, das Vertrauen des Volkes zu rechtfertigen, aber dieses Vertrauen haben wir Kommunisten nach zwanzig Jahren zurückgewonnen und mehr als zurückgewonnen, noch niemals in der Geschichte hat ein Volk eine kommunistische Parteiführung so einmütig unterstützt. Natürlich gibt es auch Antikommunisten, und natürlich versuchen die Novotnys noch immer, den Arbeitern einzureden, der Umschwung sei ein Putsch der Intellektuellen gegen das Proletariat, aber das alles wird von Tag zu Tag unwirksamer. Das Bündnis der Arbeiter mit den Intellektuellen, die Einheit des Volkes ist so mächtig, daß in Cierna nad Tisou auch die Gegner Dubceks in unserer Delegation keine Spaltung gewagt haben; wahrscheinlich hat dies entscheidend zum Zustandekommen einer Vereinbarung beigetragen. Ja, wir werden es schwer haben — aber ich hoffe, unser kleines Volk wird allen Völkern das Beispiel eines demokratischen Sozialismus geben, und damit wird es das kapitalistische System in Europa zum erstenmal seit vielen Jahrzehnten ernsthaft erschüttern. Ich erinnere mich, vor einigen Monaten habt ihr gesagt, was bei uns begonnen hat, sei die größte Chance des Sozialismus in Europa aber auch die letzte für absehbare Zeit. Wenn diese Chance vertan wird, ist alles in Frage gestellt. Ich glaube mit Zuversicht sagen zu dürfen: Die Chance wird nicht vertan.“ Wir kannten Tonda seit je als zuversichtlich in seiner ruhigen Festigkeit und unbeirrbaren Intelligenz; doch so heiter, ja so glücklich haben wir ihn nie zuvor gesehen. Es war das Glück eines ganzen Volkes, das im Gesicht, in der Stimme dieses überarbeiteten, schlaf- und erholungsbedürftigen Mannes zugegen war. Dieses Glück haben damals alle Tschechen und Slowaken, mit denen wir zusammenkamen, ein- und ausgeatmet.

Kam der Überfall auf ein kleines sozialistisches Land mitten in Europa wirklich so unerwartet?

Lou und ich hatten, nicht anders als Tonda, ein paar Wochen lang diesen Überfall für möglich, ja für wahrscheinlich gehalten. Die Einmischung der Sowjetunion und ihrer Satrapen, vor allem der ostdeutschen, in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei war immer massiver, infamer geworden seit dem Januar 1968 — seit dem Beginn der gewaltlosen demokratischen Revolution. Die Manöver der Truppen des Warschauer Pakts, die systematische Verzögerung ihres Abzugs, die ultimativen Forderungen der Ostblockführer an die „Bruderpartei“ beunruhigten uns. Dann aber ließen unsere tschechoslowakischen Freunde und wir mit ihnen uns durch die Vereinbarungen von Cierna nad Tisou und Bratislava täuschen. So sehr uns die Küsse Breschnews, die Lügen Ulbrichts mißfielen, weigerten wir uns zu glauben, daß diese Politiker einen Vertrag, nur um ihn zu brechen, unterschrieben, daß schon damals der Bruch die Absicht, der Einmarsch der Sinn des Vertrags war. Obwohl wir es besser wissen mußten, hielten wir an der Fiktion, den Resten der Fiktion fest, daß die Sowjetunion von heute trotz allem ein sozialistischer Staat sei, die Großmacht eines, wenn auch deformierten, Sozialismus. Der 21. August war das Ende dieser Illusion.

Am 21. August 1968 hat sich noch Schlimmeres zugetragen als „die Invasion ... des großrussischen Chauvinismus, ja Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist“ (Lenin-Werke, Berlin 1962), und mehr noch wurde völlig untergraben als die „ganze prinzipielle Aufrichtigkeit“ des Kampfes der Sowjetunion gegen den Imperialismus.

Was der russische Apparat, seit fünfzig Jahren mit Sowjetöl gesalbt, niedergewalzt hat, ist die seit Jahrzehnten erste und für Jahrzehnte vielleicht letzte Chance des Sozialismus in Europa, eines nicht abstoßenden, sondern attraktiven Sozialismus, den das kapitalistische System zu fürchten hat, weil die Völker bereit sind, ihn zu bejahen.

Es gibt kein Paradies, doch immerhin eine Welt, etwas vernünftiger, etwas humaner als die Gegenwart. Nichts ist humaner geworden, nichts vernünftiger. Bis eines Tages zwei kleine Völker inmitten dieses halb schon vergangenen, sein Gesicht nicht findenden Kontinents, die Tschechen und Slowaken, das Wagnis auf sich nahmen.

Alle Macht, so sagt man, geht vom Volk aus. Wann aber kehrt sie zum Volke zurück?

Ebendies geschah in der Tschechoslowakei. Der Apparat hatte dem Volk die Macht entwunden. Das Volk begann, die ihm entzogene Macht wieder zu ergreifen. Eine gewaltlose demokratische Revolution war im Gange, Vereinigung von Freiheit und Kommunismus das Ziel.

Verachtete Machthaber, unfähige Bürokraten wurden nicht gewaltsam gestürzt, vielmehr in demokratischer Diskussion und Abstimmung zum Rücktritt genötigt. Nicht Rache wurde geübt, keiner der Schurken, der es verdient hätte, vor Gericht gestellt.

„Wir wollen keine Prozesse“, sagten die Erneuerer der Tschechoslowakei, „wir wollen keine Vergeltung.“ Das menschliche Gesicht des Sozialismus soll nicht befleckt werden.

„Vielleicht war das unser Fehler“, erwogen nach der Okkupation einige meiner tschechischen und slowakischen Freunde.

Nein, es war kein Fehler, es war die paradigmatische Größe dieser gewaltlosen demokratischen Revolution. Bewiesen wurde durch ein tapferes und kluges Volk, daß es möglich ist, auf der Basis eines nicht mehr kapitalistischen Wirtschaftssystems eine revolutionäre Umwälzung ohne Blutvergießen, ohne Grausamkeit zu vollziehen, sich eines unerträglich gewordenen Machtapparates mit demokratischen Methoden zu entledigen. Wie sollte es ein Fehler gewesen sein, diese Möglichkeit zu beweisen? (Die Tschechen und Slowaken wollten nicht zu kapitalistischen Eigentumsverhältnissen zurückkehren; sie wünschten den deformierten zu einem wohlgeratenen Sozialismus umzugestalten; es fehlte daher das Fundament, das Reservoir für eine Konterrevolution.)

„Aber wir haben doch Fehler gemacht!“

„Warum sollt ihr gerade keine Fehler gemacht haben, in einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, in der Rettung des Sozialismus unter höchst schwierigen Bedingungen?“

„Aber der Einmarsch der Russen ...“

„... hat nichts mit diesen Fehlern zu tun. Im Gegenteil: daß ihr mit so geringen Fehlern etwas so Großes vollbracht habt, eben dieses Beispiel durfte nicht sein. Euch, den Tschechen und Slowaken, zwei kleinen, keineswegs mächtigen Völkern sollte gelingen, was den zwanzigfach größeren nicht gelungen war, den Sozialismus attraktiv, das heißt zum wirklichen Sozialismus zu machen? Euch sollte gelingen, das kapitalistische System in leiser Unwiderstehlichkeit zu untergraben, in Millionen Menschen das Gefühl zu wecken: Ja, wenn Sozialismus so zu sein vermag, warum nicht? Da ihr doch wißt, daß nichts verdächtiger ist als die Anerkennung, die Sympathie bisher Andersdenkender zu gewinnen, statt Haß und Furcht hervorzurufen, denn immer noch gilt: Viel Feind’, viel Ehr’! und nicht durch das menschliche Gesicht des Sozialismus, nicht durch das Beispiel der Freiheit, der Freundlichkeit, des Aufbruchs aus der Entfremdung erobert man die Welt, sondern worauf es ankommt, ist die Perfektion der Raketen, die Masse der Panzer, des Sprengstoffs, der Unterseeboote, das militärische Übergewicht. Sozialismus? Legt ihn aufs Eis! Nichts käme den Machtpolitikern ungelegener als eine autonome, sozialistische, demokratische Bewegung, denn das Ergebnis könnte sein: Es gibt einen Sozialismus, völlig anders als das von Moskau angeordnete Modell, einen Sozialismus, der in freien Wahlen siebzig und mehr Prozent des Volkes zu gewinnen vermöchte. Wie kann man derlei dulden?“

Darum ging es. Die den Befehl zum Einmarsch gaben, waren nicht durch falsche Informationen irregeführt. Sie wußten, daß in der Tschechoslowakei keinerlei Konterrevolution existierte, weder eine sich offen erhebende noch eine geräuschlos „schleichende“, daß keinerlei militärischer Angriff der Bundesrepublik Deutschland drohte, daß keinerlei Absicht bestand, den Warschauer Pakt zu kündigen. Alle Bemühungen, nachträglich irgendwelche Anzeichen einer Konterrevolution zu fabrizieren, schlugen fehl. Die des Verrats bezichtigen, nach Moskau verschleppten Parteiführer mußten noch längere Zeit — wollte man nicht gleich die unverhüllte terroristische Fremdherrschaft errichten — als Partei- und Staatsführung anerkannt werden. Die Kommunistische Partei, unter dem Regime Novotny ins Leere hinein dekretierend, war unter der Leitung Dubceks und seiner Freunde wie nirgendwann und nirgendwo zur führenden Kraft des Volkes geworden. Das zur Phrase abgestorbene Wort von der politisch-moralischen Einheit des Volkes, hier war es unerwartete, unanfechtbare Wirklichkeit. Auch wenn man den Intellekt der Männer, die den Befehl zum Einmarsch gaben, nicht überschätzt — das alles mußten sie wissen, und eben darum setzen sie ihre Armeen in Bewegung, nicht gegen die erfundene Konterrevolution, sondern gegen die gewaltlose demokratische Revolution, an deren Spitze Kommunisten standen, eine sich selbst erneuernde, in ihrer geschichtlichen Aufgabe sich begreifende Kommunistische Partei. Denn eine Kommunistische Partei, die dazu imstande war, stellte alles in Frage, worauf die Machtapparate rückständiger kommunistischer Parteien, in denen nicht mehr das Herz des Sozialismus schlug, sondern eine fremde Blutpumpe, sich unentwegt beriefen.

Warum in solcher Trauer, in solchem Zorn von all dem sprechen, von dieser Hoffnung, die nichts mehr ist als Erinnerung? Was in der Tschechoslowakei geschah, bis die Panzer es niederwalzten, war die Rechtfertigung unseres Daseins als Kommunisten, mit all den Irrtümern, Verirrungen, Verfehlungen, die wir uns vorzuwerfen haben. Unser Leben war also nicht sinnlos.

Die Tschechoslowakei hat den Beweis für die Möglichkeit eines europäischen Sozialismus erbracht. Das zu erleben war ein Glück, wie wir zu hoffen es kaum noch gewagt hatten; umso entsetzlicher war der Schlag des 21. August, man kann das gar nicht übertreiben.

Denn hatten die Tschechen und Slowaken den Beweis erbracht, daß ein europäischer Sozialismus möglich ist — der 21. August war der Gegenbeweis. In einer so kurzen Spanne Zeit die Möglichkeit des Sozialismus, und seine Unmöglichkeit, solange Großmachtpolitik über das Schicksal der Völker entscheidet — es ist der Widersinn, der uns in Frage stellt.

Was aber tun?

Sollen wir resignieren, wir Narren der Freiheit, wir Träumer vom Glück?

Der 21. August 1968 war das Ende einer Illusion, daß der Staat, der aus der Oktoberrevolution hervorging, den Sozialismus garantiere.

Unangetastet bleibt die Überzeugung, daß die Menschheit keine Zukunft hat, wenn nicht den Sozialismus — und daß der Sozialismus möglich ist.

Aus: Ernst Fischer: „Das Ende einer Illusion.“ Sendler-Verlag Wien-Frankfurt/M. 1988 (2. Auflage).

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1990
, Seite 34
Autor/inn/en:

Ernst Fischer:

Österreichs prominentester Kommunist, mauserte sich zu einem der prominentesten Nonkonformisten im europäischen Kommunismus. Siehe seine Ansichten über moderne Kunst (vgl. seinen Aufsatz im März/April-Heft des FORVM), seinen Protest gegen die Moskauer Schriftstellerprozesse (Wortlaut im Januar/Februar-Heft des FORVM), überhaupt die Fülle seiner jüngsten Bücher, die in West- wie Osteuropa weite Verbreitung fanden. („Von der Notwendigkeit der Kunst“, Claassen, Hamburg 1967, „Von Grillparzer bis Kafka“, Globus, Wien 1967, „Was Marx wirklich sagte“, gemeinsam mit Franz Marek, Molden, Wien 1968, „Kunst und Koexistenz“, Rowohlt, Hamburg 1968, „Auf den Spuren der Wirklichkeit“, Rowohlt, Hamburg 1968.) Erster österreichischer Unterrichtsminister nach 1945, langjähriger Abgeordneter der KPÖ, übte Fischer seither schonungslose, von seiner Partei mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommene Kritik an seiner Haltung in stalinistischen Zeiten; seine ebenso schonungslose, von seiner Partei mit noch gemischteren Gefühlen aufgenommene Wendung zu neuen Positionen, eigentlich schon jenseits des Marxismus, brachte ihm berechtigtermaßen enormes Prestige unter den europäischen Intellektuellen, insbesondere der studentischen Jugend aller Richtungen.

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