FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 203/II

Bürger der CSSR, kapituliert nicht!

Flugblatt zum 52. Jahrestag der Republik

Ein geheimes Flugblatt, das für die Bevölkerung zum Kampf für die Ideen des Prager Frühlings aufruft, wurde anläßlich des 52. Jahrestages der Gründung der Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1970 in der ganzen Tschechoslowakei verteilt. Das Flugblatt war von einer „Sozialistischen Bewegung der tschechoslowakischen Bürger“ gezeichnet. Der Aufruf, der mehr als 2000 Wörter umfaßt, wurde bei einer Versammlung von „Vertretern der Bürger von Böhmen und Mähren“ in Prag ausgearbeitet, „die noch nicht kapituliert haben, sondern sich weiterhin weigern, die Unwahrheiten der Regierung zu akzeptieren“. Die Bewegung will alle Bürger sammeln, die, gleichgültig ob sie Kommunisten sind oder nicht, in einer „sozialistischen, demokratischen, unabhängigen und freien, in der Innen- und Außenpolitik souveränen Tschechoslowakei“ leben wollen.

(...) Wir lehnen sowohl den autoritär-bürokratischen als auch den Wohlstandssozialismus ab, denn weder der eine noch der andere befreit den Menschen von der Entfremdung, unter der er im Osten wie im Westen leidet. (...)

Die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter uns, auch diejenigen, die, ohne das gemeinsame Ideal aufzugeben, nach dem August 1968 emigriert sind, sei es aus existentiellen Gründen, sei es, um den Kampf für die Ideen des Prager Frühlings in einem anderen Milieu fortzusetzen.

Wir erleben zur Zeit eine politische, wirtschaftliche, ideologische und moralische Krise von noch nie dagewesenem Ausmaß. Diese Krise kann nicht beseitigt werden durch die primitive politische, wirtschaftliche, ideologische und kulturelle Diktatur, die eine kleine Gruppe aktiver Anhänger der gegenwärtigen Macht in unserem Land errichtet hat, eine Gruppe, die sich für eine Elite hält, die allein fähig ist, das Land aus der Krise herauszuführen. (...)

Die jüngsten Entwicklungen — insbesondere der Vertrag zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik — haben bestätigt, daß unsere außenpolitischen Stellungnahmen im Jahr 1968 richtig waren. Wir sind weiterhin überzeugt, daß es in Westdeutschland nicht nur Revanchisten gibt, daß ein Akkommen über die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Westdeutschland möglich ist, ohne daß wir dadurch auf irgendeinen unserer Grundsätze zu verzichten brauchten. (...) Die Verständigung und die Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern, deren Grenzen sich mit den Grenzen der beiden politisch-militärischen Machtblöcke decken, würden zur Entspannung der Atmosphäre in Europa beitragen und einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Frieden in Europa bedeuten. (...)

Unsere Haltung gegenüber der Sowjetunion, unserem größten Nachbarn, einer Großmacht ersten Ranges, ist für unsere Zukunft wesentlich. Es wird notwendig sein, die Haltung der Verständnislosigkeit, der Ablehnung, ja des Hasses zu überwinden, die gegenwärtig der Großteil unseres Volkes aus verständlichen Gründen gegenüber der Sowjetunion hegt. Die Tschechoslowakei ist nicht von der Bevölkerung oder den Völkern der Sowjetunion besetzt worden. Wir haben die gegenwärtige Situation nicht provoziert, und wir werden sie nicht allein ändern. Die Situation kann nur durch die gegenwärtige oder künftige Führung der Sowjetunion geändert werden; die Führung der Sowjetunion muß verstehen, daß sie den 21. August 1968 und dessen Folgen zurücknehmen muß, sie muß sich bewußt sein, daß für sie nur ein Nachbar und Verbündeter wertvoll ist, der im Bündnis mit der Sowjetunion nicht eine Bedrohung seiner eigenen Souveränität sieht, sondern im Gegenteil die Achtung und möglicherweise Verteidigung dieser seiner Souveränität.

Wir werden der Sowjetunion immer wieder beweisen, daß nicht Militärtruppen und eine Handvoll unfähiger und von ihrer Vergangenheit gezeichneter Personen freundschaftliche und gutnachbarliche Beziehungen garantieren, sondern nur ein Staat von freien Bürgern.

Internationalismus besteht nicht in der Tatsache, daß man die Armeen eines Landes oder mehrerer Länder in ein anderes Land schickt. Internationalismus besteht vielmehr in Bündnissen, die die Gleichheit aller Staaten, Bewegungen und Parteien anerkennen, die fortschrittlich und sozialistisch sind, ohne irgendeine Ausnahme. Wenn man will, daß sich die progressiven Kräfte in aller Welt nicht weiter zersplittern, muß man den Internationalismus neu interpretieren, als Einheit in der Vielfalt. Wer seine Meinungen und seine Positionen den anderen mit Gewalt aufzwingt, trägt nichts zum Fortschritt bei.

Alle Lügen, die nachweisen wollen, daß wir 1968 den Kapitalismus wieder einführen oder die Tschechoslowakei dem westlichen Militärbündnis einverleiben wollten, beweisen nur die Unehrlichkeit derer, die diese Lügen in die Welt setzten, bzw. ihre Unfähigkeit, zu verstehen, daß es nicht nur die Alternative: Kapitalismus oder bürokratischer Sozialismus gibt. Es gibt auch andere Modelle des Sozialismus. Keine der großen westeuropäischen kommunistischen Parteien setzt heute noch auf einen monolithischen Sozialismus, sondern vielmehr auf einen pluralistischen Sozialismus, in dem die politischen Gruppen und Interessenverbände autonom und ohne staatliche Bevormundung funktionieren. (...)

Unser Ziel ist die Rückführung der Betriebe in die Hände von Arbeiterräten, die von der Belegschaft des Betriebs gewählt werden. Der Staat, als repräsentatives Führungsorgan, das seine Existenz auf den Willen des Volkes gründet, soll im Interesse der ganzen Gesellschaft strenge Kontrolle über Preise, Investitionen, Kredite ausüben und die gesamte Sozial- und Steuerpolitik leiten. (...)

Der Föderalismus und seine politische Bedeutung werden durch die gegenwärtige Politik gefährdet. Das stalinistische Modell des Sozialismus setzt eine zentralistische Führung voraus. Die zentralistischen Tendenzen, die sich seit der Sitzung des Zentralkomitees im Jänner 1970 manifestieren, sind im Augenblick noch nicht so evident, vor allem weil an der Spitze der Partei ein Slowake steht, ein Mann, der bekannt ist für seinen langen Kampf um die Gleichberechtigung des slowakischen Volkes. Der Föderalismus ist außerdem zur Zeit seines politischen Sinnes entleert, da die Politik der ČSSR weder in Prag noch in Bratislava gemacht wird. (...)

Unser Kampf ist ein politischer und ein positiver Kampf. Er richtet sich gegen Indifferenz, Entmutigung, Zynismus ünd Rückzug ins Privatleben. Unsere Bewegung will die Bürger der ČSSR einigen und nicht aufsplittern.

Wir fordern alle auf, die positiven Ideen des Prager Frühlings überall zu verteidigen. (...) Gramsci hat geschrieben, daß Optimismus ein Resultat des Willens ist. Wenn wir in einem sozialistischen, demokratischen, unabhängigen und freien Staat leben wollen, wenn wir das Recht der Selbstbestimmung ausüben wollen, wenn wir einen Weg zu einer glücklicheren Gesellschaft suchen wollen, wenn wir daran glauben, daß wir lang genug leben werden, um diese Ziele zu erreichen, müssen wir handeln. Deswegen haben wir dieses Manifest verfaßt. Die Entwicklung bei uns, im sozialistischen Lager, unter Einschluß der Sowjetunion, in Europa und in der Welt bietet eine Chance, die wir in naher Zukunft nutzen können. Bürger der Tschechoslowakei, lest dieses Manifest, denkt darüber nach und verbreitet es weiter. Damit handelt ihr schon für die Zukunft unseres Landes.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1970
, Seite 1021
Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Desiderate der Kritik

Begriffsinventar

Geographie