FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1989 » No. 430/431
Friedrich Geyrhofer

Bombengeschäfte

Noricum, Europa und die österreichische Neutralität. Der fragwürdige Prozeß.

I.

Vorfälle im Sommer 1989, betreffend die österreichische Neutralität. Von gewissen Interessenten schon stillschweigend begraben, verschaffen laufende Ereignisse ihr einen neuen Stellenwert.

  1. 25.000 Menschen aus der DDR durchqueren das Land im Spätsommer. Die Zweite Republik genießt noch einmal den Ruf, Pforte zur freien Welt zu sein. Weil der Weg über eine neutrale Grenze geht, fällt der ungarischen Regierung die Entscheidung leichter.
  2. Wegen des „Verbrechens der Neutralitätsgefährdung“ wird in Linz ein Strafverfahren, in Wien ein Untersuchungsausschuß vorbereitet. Waffenhändler der Verstaatlichten Industrie und namhafte Politiker stehen am Pranger. Auf dem Spiel steht der Zusammenhalt der Großen Koalition.
  3. Zwei Briefe, einer aus Wien, einer nach Wien. Der „Brief nach Brüssel“ langt im Juli an seiner Adresse ein. Briefträger Alois Mock wird im Hauptquartier der EG von oben herab abgefertigt. Als der belgische Außenminister Eyskens anregt, mit der Sowjetunion das Beitrittsansuchen „über unsere Köpfe hinweg“ zu besprechen, bricht in Wien eine leichte Panık aus: die Neutralität ist international zur Diskussion — und Disposition — gestellt worden. Etwas später erinnert ein energischer Brief aus Moskau an Zusammenhänge mit dem Staatsvertrag.

Ein Schriftwechsel mit Ost und West, bei dem sich die staatstragenden Kräfte der Zweiten Republik kräftig in die Tinte gesetzt haben. Immerhin, ein ganz neuer Neutralitätspolitiker ist dafür zum Zug gekommen.

Nach dem Debakel der Wiener Diplomatie in Brüssel und in Moskau meldete sich ein frischgebackener Landeshauptmann aus Klagenfurt zu Wort. Jörg Haider füllte das Sommerloch und gab im Mittagsjournal ein Interview zur außenpolitischen Lage. Wie bei ihm üblich, baute er sofort in scharfen Tönen ein Feindbild auf. Weil sich die bösen Benelux-Staaten vor der österreichischen Konkurrenz fürchten, schieben sie die Neutralität als Hindernis für den Beitritt vor. Das ist die echte haiderianische Art: den Schritt zum Binnenmarkt mit Kriegstänzen gegen drei Mitgliedsstaaten zu begleiten.

Ganz überraschend kam jedoch das warme Bekenntnis zur Neutralität. So rührend redete Haider im Hochsommer darüber, als ob er persönlich in Lederhosen beim Moskauer Memorandum im Jahr 1955 dabei gewesen wäre. Er ließ patriotische Worte in der Hitze der Hundstage zerfließen: „Die Republik Österreich bleibt ein ehrlicher Makler zwischen den Blöcken ...“ Etcetera. Woher die innere Umkehr des Jungdeutschen?

Die Antwort: nachdem die Regierung den Brief nach Brüssel abgesandt hat, dreht Haider den Spieß um. Er denkt an die Noricum-Kanonen, an Strafprozeß und Untersuchungsausschuß. Und ans Kapital, das eine Oppositionspartei aus dem Skandal schlagen kann. Er ist der schärfere Logiker, verglichen mit den Bauernschlauen von der ÖVP. Er schließt messerscharf, daß das „Verbrechen der Neutralitätsgefährdung“ nur dann ein Makel ist, wenn die gefährdete Neutralität mit großen Worten besungen wird.

Es ist wirklich ein Widerspruch, der geklärt werden müßte: Darf Anklage erhoben, dürfen Urteile gefällt werden, wenn man in Wien unter der Hand bereit ist, in Brüssel über die Neutralität mit sich handeln zu lassen? Der Gedanke aus der SPÖ, überhaupt die Waffenproduktion einzustellen, ist genau an jenen Gruppen gescheitert, die bedingungslos in die EG marschieren. Wie die Dinge liegen, liegt darin das Skandalöse am Noricum-Skandal. In einer Doppelmoral, die es Herrn Jörg Haider erlaubt, der Abwechslung halber genießerisch den großdeutschen Verehrer der österreichischen Neutralität zu spielen.

II.

Neueste Scherzfrage: Was unterscheidet den einen deutschen Staat vom anderen? Die BRD ist ein Einwanderungsland, die DDR ist ein Auswanderungsland. Es gibt also eine deutsch-deutsche Arbeitsteilung. Nur geben es beide nicht gerne zu.

Botschaftsbesetzungen in östlichen Hauptstädten, eine Völkerwanderung über Ungarn und Österreich ... Was wäre, wenn die Bundesrepublik ihr Grundgesetz ändert und die „Schutzpflicht“ für DDR-Bürger streicht? Das wäre fast ein aggressiver Akt. Zum „sozialistischen“ Alltag zwischen Oder und Elbe gehört die Fahrkarte nach dem Westen, um die man sich allerdings elend lang anzustellen hat. Amtlich genehmigte Übersiedlungen, Freikäufe politischer Gefangener, die Sanktion der Ausbürgerung: In der Praxis akzeptiert die DDR, daß ihre Bürger potentielle Bundesbürger sind („Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“). DDR-Touristen haben an der österreichischen Grenze auf die Schnelle erreicht, was ihre Regierung sonst als Strafe oder mühselig erworbene Wohltat zu gewähren prinzipiell bereit ist.

Wie lange ist es her, daß Wolf Biermann nach seinem Kölner Auftritt mit einem Federstrich verbannt wurde? Auf dem Fuße folgte damals die Ausweisung einer Heerschar von Widerspruchsgeistern aus Kunst & Literatur. „Ausgebürgert“ zu werden, hat sich seitdem als Privileg auch des kleinen Mannes eingebürgert. Kurz, der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker verwendet — in umgekehrter Himmelsrichtung — den Rat des Kalten Kriegers F. J. Strauß: „Wem es bei uns nicht paßt, der soll nach drüben gehen.“

Die alte Leier: Wer’s Maul aufreißt, fliegt raus. Bloch, Dutschke, Bahro, Nina Hagen ... lauter Ostdeutsche, die im Westen Geschichte gemacht haben. Die DDR hat keine eigene Geschichte, sieht man von einigen Greueltaten im Schutze sowjetischer Bajonette ab. Darum wird sie von ihren Bewohnern als tiefste Provinz empfunden. Es existiert heute ein bundesrepublikanisches Nationalbewußtsein; die Regierungschefs am Rhein reden von „Deutschland“ und meinen damit wie selbstverständlich die westliche Hälfte. Jetzt rächt es sich, daß die SED jeder Konfrontation mit der eigenen Gesellschaft — also der inneren Dialektik — stur aus dem Weg gegangen ist.

Honeckers Krankheiten, Operationen, Erholungsurlaube, sein Wohlbefinden und seine Lebensfrist: Medizinische Bulletins, ergänzt durch unsichere Gerüchte, stellten in den kritischen Wochen den Beitrag aus Berlin-Ost dar. „Wann kehrt Erich zu seinem Schreibtisch zurück?“ Wie ein Duodezfürstentum im 18. Jahrhundert gehabt sich die DDR Ende der achtziger Jahre. Man entsinne sich Walter Ulbrichts, eines Stalinisten reinsten Wassers. Er hatte wenigstens soviel Anmut und Würde, rechtzeitig den Schreibtisch zu räumen.

Von diesseits der Mauer mag es wahnwitzig scheinen — aber die SED hat alles auf eine Karte gesetzt: den „Panzersozialismus“. Das Einverständnis der Staatspartei mit der brutalen militärischen Intervention in Peking war es, wodurch erst der panische Ruf „Nichts wie weg!“ ausgelöst wurde. Die Honeckerianer kennen bloß eine Perspektive: eine Renaissance der „Ordnung“ im Kreml und im Warschauer Pakt. Ähnlich der Tschechoslowakei, begreift sich die DDR eisern als Westmark des Ostens. Gegenüber Verfechtern der Perestrojka verweisen die Markgrafen in Prag und Ostberlin auf die verheerenden Folgen der Evolution in Ungarn und Polen.

Wie schlimm könnte es kommen, kämen die letzten Stützpfeiler und Grenzpfosten der „sozialistischen“ Hegemonie ins Wanken? Auch Gorbatschows Projekt eines „gemeinsamen Hauses Europa“ setzt realpolitisch voraus, daß der Eiserne Vorhang nicht mit einem Ruck aufgezogen wird.

Verzweifelt ist die Hoffnung der SPD auf einen „Reformflügel“ innerhalb der ostdeutschen Staatspartei: es handelt sich dort um eine patriarchalische Organisation, zugeschnitten auf die erhabene Figur des Landesherrn. Billig ist die Häme der Unionspolitiker über die (sozialdemokratische) „Wandlung durch Anbiederung“. Und allen Bonner Parteien gemeinsam ist die rührende Sorge um die Zukunft der DDR.

Die östliche Hälfte hätte nämlich im Fall des Falles nichts zu verlieren als ihre Ketten; für die Bundesrepublik jedoch würde die Summe ihrer Errungenschaften seit dem „Generalvertrag“ von 1952 schlagartig auf dem Spiel stehen. Die Neuauflage eines verkleinerten Bismarck-Deutschland („Von der Maas bis an die Oder“) wäre das Risiko einer Isolierung nicht wert. Wie sollte ein künstlich zusammengeklebter Nationalstaat die Vorteile von Europäischer Gemeinschaft, Westintegration und freiem Zutritt zum Weltmarkt aufwiegen? Der Weg ins 21. Jahrhundert führt sicher nicht über Potsdam und auch nicht über Weimar.

Es sind die Amerikaner, die durch leichtsinniges Zitieren der „Wiedervereinigung“ bewußt Sand ins europäische Getriebe streuen. Ein Geplänkel am Rande der kontinentalen Wirtschaftsblöcke, die an den Küsten zweier Ozeane heranwachsen. Wie immer das „gemeinsame Haus Europa“ aussehen mag, es braucht eine neutrale Zone. Und darum wäre es schade, wenn die Republik Österreich eine nicht leicht errungene Stellung für ein Linsengericht verkaufen würde.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1989
, Seite 3
Autor/inn/en:

Friedrich Geyrhofer:

Geboren am 03.09.1943 in Wien, gestorben am 16.07.2014 ebenda, studierte Jus an der Wiener Universität, war Schriftsteller und Publizist sowie ständiger Mitarbeiter des FORVM.

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