FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 86
Egmont Moussier

Belgien bleibt eigensinnig

Belgien befindet sich noch im vorigen Jahrhundert. Dies hat sich vor allem in seiner Kolonialpolitik gezeigt — die ja den historischen Hintergrund der Streikbewegung darstellt. Obgleich Asien und Afrika allerorten auf dem Weg zur Selbständigkeit waren und die westlichen Demokratien ihre Überreste von Kolonialismus alten Stils liquidiert hatten, glaubte in Belgien niemand — keine der Parteien, keiner der Sozialpartner und auch nicht die Kirche —, daß innerhalb der nächsten dreißig Jahre dem patriarchalischen Regime im Kongo eine Änderung widerfahren könnte. Man vertraute unter anderem auf eine Methode, die man für besonders klug hielt: bis 1956 galt ein Gesetz, demgemäß jeder Kongolese, der in Belgien studieren wollte, sich schriftlich verpflichten mußte, nie wieder in seine Heimat zurückzukehren. Die Hoffnung, auf diese Weise einer etwaigen nationalen Aufstandsbewegung die intellektuelle Führung vorenthalten zu können, hat sich zum Schaden aller Beteiligten erfüllt. Als man vor etwa Jahresfrist in armseliger Hilflosigkeit das Steuer der Kolonialpolitik herumwarf, brach prompt das Chaos herein. Die UNO mußte den Liquidator spielen; über ein Land von Kannibalen versuchen nun die Vegetarier zu regieren.

Die verbitterten Genießer

Was die europäische Arbeiterbewegung anlangt, so war sie sich über die Probleme des Kolonialismus stets im unklaren. Sie hing der Auffassung an, daß aus den Kolonien nur einige mächtige Kapitalisten ihren Vorteil zögen, während die Arbeiterklasse vom Kolonialbesitz weder Vor- noch Nachteile zu erwarten hätte. Man verschloß sich der Realität, die darin bestand, daß die Arbeiterschaft der Länder mit Kolonialbesitz indirekt dessen Vorteile mitgenoß, weil eben die billigen Rohstoffe, die Investierung der großen Gewinne im Mutterland und nicht zuletzt der Luxuskonsum der nach Hause zurückkehrenden älteren Generation von Kolonialherren für die nationale Wirtschaft von wesentlicher Bedeutung war. Die Arbeiterbewegung opponierte aus moralischer Solidarität mit den rechtlosen Kolonialvölkern und war sich ihrer Nutznießerrolle nicht bewußt. Dem Interessierten mag es bitteren Genuß bereiten, die Kolonialdebatte des Kongresses der Sozialistischen Internationale vom Jahre 1907 in Stuttgart nachzulesen. Der hundert Kilogramm schwere niederländische Sozialist van Kol und der kleine, schmächtige Karl Kautsky lieferten einander ein Wortgefecht, das immerhin erkennen läßt, um wieviel mehr die Holländer vom Kolonialproblem begriffen hatten als die theoretisierenden Deutschen. Kautsky empfahl, den Eingeborenen die nötigen Maschinen zu liefern und sie sodann ihrem Schicksal zu überlassen; van Kol prophezeite einen Kriegstanz der Eingeborenen um die Maschinen, mit anschließendem Festessen, wobei er befürchtete, daß die Vorliebe der Eingeborenen sich auf ihn und nicht auf seinen zähen Diskussionspartner konzentrieren würde.

Um die belgische Situation zu begreifen, ist davon auszugehen, daß es kein europäisches Industrieland gibt, in dem die Gegensätze zwischen arm und reich so groß sind wie in Belgien. Während in anderen westlichen Ländern — zumindest der allgemeinen Tendenz nach — die Zahl der wirklich armen Leute ebenso abnimmt wie die Zahl der wirklich reichen, stehen sich in Belgien die sozialen Fronten mit einer Erbitterung gegenüber, die anderswo der Vergangenheit des rücksichtslosen Hochkapitalismus angehört. Die belgische Form der Wirtschaftspolitik — ein hemmungsloser Raubbau an Menschen wie Gütern — setzte nach dem zweiten Weltkrieg unverändert wieder ein. In Belgien kam das Kriegsende schon im September 1944, neun Monate früher als in den Nachbarländern. Das Land mußte von den Deutschen in einem Tempo geräumt werden, das wenig Zeit für Verwüstungen ließ. Dann war es die Nachschubbasis der westlichen Alliierten. Während im Winter 1944/45 die Lage in den Nachbarländern sich rapid verschlechterte, befand sich Belgien in der ersten Phase eines blendenden Aufstiegs. Es konnte dem warenhungrigen Europa alles zu jedem Preis verkaufen. Zu den Gewinnen aus diesen Quellen kam ein während des Krieges entstandenes gewaltiges Devisendepot in den Vereinigten Staaten, die damals über das kongolesische Uranium ausschließlich verfügten und dafür fürstliche Preise bezahlten. Wenn es sodann in den ersten Nachkriegsjahren nicht gelang, die Benelux-Wirtschaftsunion voranzubringen, so eben deswegen, weil es zwischen diesem reichen, vom „miracle belge“ geblendeten Land und dem armen, ausgeplünderten Holland keine Vergleichsbasis gab.

In Belgien hatten sich Unternehmer und Arbeiterbewegung gleichermaßen daran gewöhnt, diesen Zustand als normal zu betrachten. Die Riesengewinne der einen Seite und ein entsprechend proportioniertes „Schweigegeld“ für die andere Seite galten als selbstverständlich. Niemand sah die Verpflichtung, sich auf eine Zukunft vorzubereiten, in der auf dem europäischen Markt auch die anderen Länder wieder erscheinen würden, denen man dann gewachsen sein mußte. Der außergewöhnliche Ertrag, den man vernünftigerweise in Verbrauch und Investitionen hätte teilen sollen, wurde statt dessen zur Gänze aufgezehrt. Heute ist Belgien von Nachbarn umgeben — Deutschland, Frankreich und Holland —, welche sich unter größten Opfern, und gerade auch unter Opfern der Arbeiterschaft, einen modernen Industrieapparat aufgebaut haben. Belgiens Industrie, die sich solcherart der schärfsten Konkurrenz gegenübersieht, ist in groteskem Ausmaß veraltet. Für diesen Zustand sind alle belgischen Nachkriegsregierungen und beide Sozialpartner verantwortlich.

Es wäre jedoch ungerecht, der gesamten Sozialistischen Partei und den zugehörigen Gewerkschaften vorzuwerfen, daß sie ohne Einsicht seien und die begangenen Fehler nicht wahrhaben wollten. Der gegenwärtige heftige Konflikt innerhalb der Partei- und Gewerkschaftsführung beweist, daß sich die kritischen Stimmen mehren und daß ein Kurswechsel diskutiert wird.

Der Richtungsstreit zwischen Radikalen und Reformisten, welcher sich in der Arbeiterbewegung schon ein halbes Jahrhundert hinzieht, steht in Belgien unglückseligerweise zugleich im Zeichen des Streites zweier Kulturgemeinschaften. Dem Konflikt der Wallonen und Flamen liegt nicht nur ein Sprachenunterschied zugrunde, sondern eine schlechthin unterschiedliche Gesellschaftsstruktur. Der flämische Landesteil ist agrarisch und katholisch, der wallonische industrialisiert und überwiegend antiklerikal. Wenn heute der radikale wallonische Flügel unter Führung des Gewerkschaftssekretärs Renard die flämischen Reformisten bekämpft, dann ist dies nicht nur ein theoretischer Streit über die gesellschaftlichen Aufgaben der modernen Arbeiterbewegung, sondern zugleich ein Nationalitätenkampf. Der ideologische Streit führt daher nicht bloß zu Fraktionsbildungen innerhalb der Partei und der Gewerkschaften, sondern gipfelt in dem Entschluß, das Trennungsprinzip des Zweivölkerstaates auf die Organisation der Arbeiterbewegung zu übertragen. Der marxistisch-radikale Renard ist zugleich der wallonische Nationalist par excellence.

Die unterdrückten Unterdrücker

Renard vertritt die These der Wallonen, daß ihr Land von den Flamen unterdrückt werde. Die kulturellen Verhältnisse legen den gegenteiligen Schluß nahe. Zahlenmäßig sind die Flamen in der Mehrheit; ihr Kinderreichtum wird diese Tatsache in Zukunft noch stärker hervortreten lassen. Dennoch macht man in Belgien die merkwürdige Erfahrung, daß die Flamen weniger gelten als die Wallonen. Während überall in der Welt der Zweisprachige, weil er Zugang zu zwei Kulturen hat, mehr Ansehen genießt als der Einsprachige, ist dies in Belgien umgekehrt. Zweisprachig ist der Briefträger, der Taxifahrer, der Straßenbahner und der kleine Geschäftsmann — der Flame. Zur guten Gesellschaft gehört nur der französisch sprechende Wallone — welcher selbstverständlich kein Wort Flämisch kann. Wer Flame ist, gehört zum Haus- und Küchenpersonal; der Salon spricht nur französisch. Die kulturelle Distanz ist so ausgeprägt, daß es fraglich scheint, ob die zweifellos in der Mehrheit befindlichen Flamen aus einer Volkszählung tatsächlich als Mehrheit hervorgingen; viele von ihnen würden aus Angst vor der gesellschaftlichen Diskriminierung und aus Gründen des besseren Fortkommens ihre nationale Herkunft verleugnen.

Dennoch ist es nicht bloße Demagogie, wenn sich Renard über die Vernachlässigung und Unterdrückung der Wallonen beklagt. Da die Wallonen im industrialisierten Teil des Landes leben, werden sie von den Folgen der katastrophalen Wirtschaftspolitik sehr viel härter betroffen als die Flamen. In Wallonien ist die Dauerarbeitslosigkeit größer als in den übrigen Landesteilen, und hier ist daher die Heimat des Radikalismus. Was wiederum zur Folge hat, daß den ruhigeren flämischen Provinzen vom investitionssuchenden in- und ausländischen Kapital der Vorzug gegeben wird. Der unheilvolle Zirkel war bisher nicht zu sprengen.

In dieser wie in jeder anderen Hinsicht befinden sich die Sozialistische Partei und die sozialistischen Gewerkschaften noch im vorigen Jahrhundert. Doch wäre es falsch, ihre Haltung isoliert zu betrachten. Es handelt sich einfach um eine Façette der belgischen Gesellschaft, welche insgesamt in der Vergangenheit steckengeblieben ist. Der Streik als Druckmittel ist hier ebenso üblich wie die brutale staatliche Gegenaktion; der Sozialist van Acker — derselbe, der jetzt in seiner Verantwortung als Oppositionsführer ein Kompromiß mit Ministerpräsident Eyskens sucht — hat seinerzeit, in seiner Verantwortung als Regierungschef, mehr als einen Streik der sozialistischen Gewerkschaften mit denselben Mitteln gebrochen wie Eyskens. Die belgischen Sozialpartner entsprechen einander eben darin, daß sie noch keine sind. Die Kapitalisten haben die Arbeiter, die sie verdienen, und die Arbeiter haben die Kapitalisten, die sie verdienen.

Das Sparprogramm der „loi unique“ ist ein erster — bescheidener — Sanierungsversuch. Das Land steht vor der dreifachen Aufgabe, seine Industrie zu modernisieren, seine Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen und den Verlust seines Kolonialbesitzes auszugleichen. Um die Fiktion „normaler Verhältnisse“ aufrechtzuerhalten, hat Belgien bisher Jahr um Jahr ein Budgetdefizit von 26 bis 28 Milliarden Francs in Kauf genommen. Die Sanierung verdient freilich den Vorwurf, daß sie die orthodoxesten und unsozialsten Mittel zur Anwendung bringt. Eyskens operiert vor allem mit Ausgabenkürzungen und Erhöhungen der indirekten Massensteuern. Er glaubt anscheinend — mitten im 20. Jahrhundert — immer noch an die automatische Selbstsanierung der Wirtschaft, bei welcher der Staat bloß die Rolle des neutralen Zuschauers spielt. Die Folge wird ein Anwachsen der ohnehin bereits bestehenden Arbeitslosigkeit sein.

Belgien weigert sich auch hier, den Anschluß an die Gegenwart zu suchen. Es wendet eben jene Methoden der Sanierung an, die in den Dreißigerjahren zu einer Verschärfung der Wirtschaftskrise und zu gewaltigen politischen Spannungen führten. Das konjunkturpolitische Instrumentarium, dessen sich heute die USA und die europäischen Länder gleichermaßen bedienen, scheint für Belgien nicht zu existieren. Im übrigen hat so manches an dem von Eyskens geplanten Rückzug des Staates aus der Sphäre der sozialen Leistungen auch seine guten Gründe; es gibt hohe Offiziere und Parlamentsabgeordnete, deren Frauen immer noch Arbeitslosenunterstützung beziehen, weil sie vor ihrer Heirat einmal in einem Büro gearbeitet haben.

Belgien ist eine Insel des 19. Jahrhunderts im heutigen Europa. Nur wenn man dies bedenkt, läßt sich der explosionsartige Massenstreik erklären, für dessen Formen in anderen europäischen Ländern die Vergleichsmaßstäbe fehlen. Natürlich gibt es in Belgien Kommunisten, und mancher Sabotageakt mag auf ihre Rechnung gehen. Aber sie brauchten das Milieu für ihre Tätigkeit nicht erst künstlich zu produzieren; sie fanden es bereits vor. Sie als Organisatoren des Streiks zu bezeichnen, wäre eine groteske Simplifizierung. Um die belgische Arbeiterschaft zum Streik zu bringen, bedurfte es keiner kommunistischen Infiltration. Erst jetzt setzt im demokratischen Sozialismus des Landes jener Gärungsprozeß ein, welcher der Abrechnung mit dem Geist und den Methoden der Vergangenheit gleichkommt. Wenn die Neuwahlen stattfinden werden, dann wird sich dies bedauerlicherweise zunächst durch sozialistische Stimmenverluste anzeigen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1961
, Seite 56
Autor/inn/en:

Egmont Moussier:

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