Streifzüge » Print-Ausgaben » Jahrgänge 1996 - 2000 » Jahrgang 1999 » Heft 1/1999
Gaston Valdivia

Arbeit und Wahn II

Nahezu ungebrochen herrscht der volkswirtschaftliche Aberglaube, durch mehr innovative Investitionen könnte der Arbeitsgesellschaft noch einmal auf die Sprünge geholfen und ihr chronischer Arbeitsplatzmangel behoben werden. Zwar dringt die Tatsache ins Bewußtsein, daß Investitionen heute vorwiegend der Rationalisierung dienen und unablässig Arbeitsplatzverluste mit sich bringen, der Glaube bewahrt aber vor der tieferen Einsicht, es könne sich dabei um einen irreversiblen, globalen Prozeß handeln, dem mit Opferkerzen, Arbeitszeit- und Kostenjonglieren nicht mehr beizukommen ist. Beizukommen ist dem Glauben leider auch nur schwer und so hält sich hartnäckig das Gerücht, man habe es zwar mit einem gräßlichen, aber nur vorübergehenden Spuk zu tun. Alles wird gut!

Die heilige Konjunktur

Folglich konzentrieren sich die Hoffnungen der um die allgemeine Volksgesundheit besorgten EntscheidungsträgerInnen und deren ExpertInnen auf die sakrosankte Konjunktur, die durch Lohn- und Lohnnebenkostensenkung, Arbeitszeitflexibilisierung, Steuerreformen und neue Branchen soweit angekurbelt werden soll, daß alsbald alle BürgerInnen wieder in den (zweifelhaften) Genuß von Arbeit kommen könnten. Obwohl die Konjunktur kaum als Indikator fur Wohlstand und Arbeitsmarktlage taugt, starren die ÖkonomInnen und PolitikerInnen gebannt auf ihre Entwicklung und knüpfen ihre Heilserwartungen an sie. Man erwartet, daß mit höheren Gewinnen ausgestattete Unternehmen in Dienstleistungen, Genlabors, Hightechcenter und Umweltprojekte investieren, sich den globalen Marktbedingungen flexibler anpassen und so der Konjunktur den ultimativen Kick verpassen. Horst Afheldt merkt dazu lakonisch an: „Millionen heute Arbeitslose werden aber kaum an Genen herumfummeln“. [1] Anhand der Entwicklung der Arbeitsplatzentstehung und des Sozialprodukts der letzten 30 Jahre rechnet er vor, daß es bei einem steten Konjunkturwachstum von 5,5% nicht weniger als 120 Jahre dauern würde, bis die heute allein in Deutschland fehlenden 6-7 Mio. Arbeitsplätze geschaffen wären. Und das auch nur unter der Voraussetzung unveränderter Demographie und Produktivkraftentfaltung ohne Krisen, Hyperinflation und andere realiter zu erwartende Turbulenzen.

Die Logik „Investitionen gleich mehr Arbeitsplätze“ hat ihre Gültigkeit im Fordismus gehabt, heute hat sie sie verloren. Je reichlicher den Unternehmungen Geldkapital zur Verfügung steht, desto rascher setzen sie „arbeitsfreie“ Innovationen durch. Das übrige Vermögen kann und wird ausgiebig zur spekulativen Vermehrung in die bislang recht lukrativen Geld-, Kapital- oder Devisenmärkte gepumpt. Welches klassische Unternehmen oder welcher „selbstverwaltete Betrieb“ wird so töricht sein, unnötige Arbeitsplätze zu schaffen, statt sich künftige Konkurrenzvorteile durch Einsatz von Hightech und lean-management zu verschaffen? Wenn sich die gesellschaftlich relevanten Kräfte also weitgehend darin einig sind, die Kosten für Arbeit zu senken, damit die daraus resultierende Ausbeute investiert werden kann, wirken sie geradezu blind an der Durchsetzung des Gegenteils ihrer arbeitsmarktpolitischen Intentionen mit. Nicht anders ergeht es den AnhängerInnen der Nachfrageschule keyensianischer Herkunft, teils in der SPD, den GRÜNEN oder Alternativkreisen beheimatet, deren Augen ebenfalls gebannt an den Konjunkturkurven haften. Durch Schaffung kaufkräftiger Nachfrage via höhere Löhne, Arbeitsumverteilung und verbesserte Transfereinkommen glauben sie der Misere besser beikommen zu können. Doch auch dieserart induzierte Gewinne werden natürlich in Rationalisierungen gesteckt und zaubern keine neuen Arbeitsplätze her.

Das alternative Wunschpotpourri

Auch die gutgemeinten Konzeptionen von alternativen WirtschaftswissenschaftlerInnen und SoziologInnen erweisen sich rasch als illusorisch. Gefordert werden qualitatives, angepaßtes Wachstum, drastische Arbeitszeitverkürzung und eine Vermögensumverteilung von oben nach unten. Ein starker Sozialstaat und eine zu ihrer „ursprünglichen“ Funktion zurückgekehrte Politik sollen dieses Programm im Verbund mit den verschiedensten gesellschaftlichen Interessensgruppen wuppen. Die aus drastischer Senkung der Arbeitszeiten bei begrenztem Lohnausgleich resultierenden Gewinne dürften nicht mehr in erster Linie den KapitaleignerInnen zugute kommen, sondern sollten der kulturellen und sozialen Betreuung des Volkes dienen, das die nun hinzugewonnene Freizeit ausfüllen müßte. Gern wird dieses Wunschpotpourri als realistische Alternative oder positive Utopie auf dem Boden der Marktwirtschaft angepriesen. Das klingt seriös und soll davor bewahren, ins Abseits linksradikaler Spinnereien gestellt zu werden.

Unbekümmert wird die längst von der realsozialistischen Wirklichkeit ad absurdum geführte Vorstellung weiter transportiert, man könne den Markt durch gelenkten Einsatz von Geld und Ressourcen in den Griff bekommen und nach eigenem Gusto gestalten. Wie bei allen anderen marktwirtschaftlichen Strömungen auch, halten sie Geld für ein notwendiges und nützliches Mittel zur Ressourcenallokation und nehmen lediglich seine praktischen Funktionen, Tauschmittel, Recheneinheit und Wertmaßstab zu sein, wahr. Dabei wird gründlich verkannt, daß im Geld das chaotische wie bewußtlose gesellschaftliche Verhältnis von einander durch abstrakte Arheit vermittelten und zugleich getrennten Individuen dinglich dargestellt ist. Geld ist daher kein bloßes Ding, das sich den eignen Wünschen gemäß als Steuerungsinstrument einsetzen ließe, sondern vielmehr die verselbständigte „automatische Macht“, die die Menschen zu „handelnden Objekten“ [2] degradiert. Wer nun meint, die Gesellschaft über den Markt erfolgreich planen zu können, erweist sich als Opfer der bürgerlichen „Illusion des freien Willens“, wie Marx es einmal treffend ausgedrückt hat.

Auch bleiben die getrennten Sphären Staat, Politik, Arbeits- und Freizeit, Recht, Ökonomie etc. in den Modellen unangetastet — sie sollen lediglich moralisch und ethisch anders besetzt werden. Die strukturell verursachte menschliche Vereinseitigung wird nur partiell kritisiert, die Arbeitsethik bleibt gänzlich unberührt. Sie erhält im Gegenteil eine vermeintlich ganz neue, realiter uralte, sinnstiftende Bedeutung. Hinzu kommt, daß alle postulierten Umverteilungsmodelle eine stabile Nationalökonomie voraussetzen und damit zwangsläufig zwischenstaatliche Konkurrenz implizieren. Nicht zufällig titelt eine aus christlich-alternativer Feder stammende Zukunftsvision „zukunftsfähiges Deutschland“, statt beispielsweise „zukunftsfähige Welt“. Vor dem Hintergrund schrumpfender Wertmassen läßt sich staatliche Prosperität aber nur noch zu Lasten von Weltmarktverlierern erzielen.

Mit erschreckender Naivität hinsichtlich Marktmacht und deren Garanten meinen die AlternativökonomInnen ihre Konzepte durch Überzeugungsarbeit, andere Wahlergebnisse, Basisinitiativen und Gewerkschaften in die Tat umsetzen zu können. Doch obwohl es sich um keine die Marktwirtschaft transzendierenden Alternativprogramme handelt, würde ihre Durchsetzung doch eine Bewegung von gewaltigen Dimensionen erfordern, wie sie sie selbst im Traum nicht erahnen. Eine solche könnte sich auch gleich gegen das ganze Kapitalbrimborium richten und ihm den Garaus machen. Man fährt ja auch nicht mit dem Bagger auf die Wiese, nur um ein einzelnes Unkräutchen zu rupfen.

Die Überflüssigen müssen weg

Da bisher alle Maßnahmen zur Behebung der Arbeitsplatzmisere versagen und sich kaum jemand so recht für die „realistischen Utopien“ alternativer Provenienz begeistern kann, gehen die EntscheidungsträgerInnen derweil pragmatisch auf dem Weg des geringsten Widerstandes vor. Der gesunde Menschenverstand suggeriert, die Arbeitskräfte seien überflüssig, nicht die Marktwirtschaft. Was also liegt näher, als den nationalen Markt von ihnen zu „säubern“? Beflügelt von Ausländerfeindlichkeit und rassistischen Ressentiments haben Staatsapparat und Politik das nötige Klima für die Jagd auf Nichtdeutsche und „fremd“ Aussehende geschaffen. Sozialdarwinistische Literatur wird wieder populärer, um die Ausgrenzungsintentionen entsprechend wissenschaftlich untermauern zu können. Gewerkschaftsbosse wie Zwickel von der IGM fordern AusländerInnenquoten, um „den Arbeitsmarkt zu entschärfen“. Jahrelange Arbeitsquarantänen fur AsylbewerberInnen und zugereiste Familienangehörige sind durchgesetzt, und an der Oder ertrinken von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt die Flüchtlinge, die von Zäunen und Wächtern am Betreten deutschen Bodens gehindert werden. (Auf Zaunprozesse weiden wir allerdings vergeblich warten.) Die maliziöse Visumspflicht für in Deutschland geborene Kinder von Menschen ohne deutschen Paß könnte sich künftig als nützliche Abschiebungsmöglichkeit erweisen, falls dies arbeitspolitisch sinnvoll erscheinen sollte. Auch macht sich in manchen Kreisen seit längerem die Ansicht breit, Frauen sollten wieder ihrer „natürlichen Bestimmung“ gehorchen und am heimischen Herd bleiben.

Längst schon geistert in vielen Köpfen die Frage umher, ob RentnerInnen, „Behinderten“, SozialhilfeempfängerInnen oder Arbeitslosen überhaupt ein Existenzrecht zustehe. Sich inflationär verbreitende entsprechende Witzeleien gehören längst zur täglichen Erheiterung des tristen betrieblichen Alltags. Flankierende rechtlich-repressive Maßnahmen gegen die störenden Überflüssigen und informellen MarktteilnehmerInnen werden in atemberaubender Geschwindigkeit durchgesetzt, beklatscht vom Pressemainstream und law-and-order-BürgerInnen.

Überflüssige Arbeitszeit statt Müßiggang

Emanzipatorische Perspektiven sind nur noch jenseits von Geld und Arbeit realisierbar. Gedanklich lassen sie sich nur ausgehend von der kritischen Analyse des Bestehenden entfalten. Die Kritik an Wesen und Wirkung der Arbeit möchte ich noch um eine Kritik der Bestimmung zahlloser besonderer Tätigkeiten erweitern, die in einer direkt vermittelten Gesellschaft schlicht überflüssig wären, heute aber in gigantischem Ausmaß Zeit „binden“. Damit gerät das Phänomen der Zeit ins Visier, [3] dessen Entschlüsselung zugleich auf Möglichkeiten einer müßigen Lebensgestaltung hinweist. Zeit kann ebensowenig wie die Arbeit als überhistorische, universelle Kategorie begriffen werden, da sie als Resultat einer spezifischen Herstellung von Realität und entsprechender Denkweise dechiffrierbar ist. Im entwickelten Kapitalismus erlangt sie als Substanz der abstrakten Arbeit quasi reale Macht über die Menschen und „weist“ ihnen, in unterschiedlichem Maße, Herrschaft durch Verfügungsgewalt über Zeitquanta zu. Aufhebung von Geld/Arbeit bedeutet also zugleich die „Befreiung von der Zeit“. Zeit „strukturiert“ die Gesellschaft, indem sie sich in Arbeit „bindet“. Grob geschätzt dienen 80% der kollektiven „Lebensarbeitszeit“ in den westlichen Industrienationen der Erhaltung des selbstreferenziellen Prozesses der Kapitalverwertung. Mit anderen Worten, sie erfüllen einzig und allein den Zweck, die indirekte Verteilung der Waren zu gewährleisten. [4]

Als Beispiel seien hier allein die unzähligen Arbeitstätigkeiten im Warenhandel, dem Finanz-, Bank- und Versicherungswesen, Abrechnungswesen, zur rechtlichen und politischen Flankierung, zur Sicherung des Geldes, Ausbildung und Kindererziehung [5] herausgegriffen. Gleichzeitig werden horrende stoffliche und räumliche Ressourcen verbraucht, nebst unzähliger Arbeitsstunden zu ihrer Bereitstellung. Man denke an die verbauten Flächen für Büros, Handel, Banken, Verwaltung etc. und die gesamte dazugehörige materielle Logistik. Eine Gesellschaft, die sich vom Tausch emanzipiert hätte, bedürfte all dieser Arbeiten und Ressourcenaufwendungen nicht mehr. Deren Wegfall würde erheblich zum Machtverlust der Zeit beisteuern und ihre „Auflösung“ in einen kreativen Müßiggang befördern. Nicht als universeller Maßstab des Lebensrhythmus, sondern bestenfalls als praktische Maßeinheit unter vielen würde sie noch ein ungefährlicheres Dasein fristen. [6]

Ohne Zwang zur abstrakten Quantifizierung von konkreten Tätigkeiten, ohne Zeitdiktatur und vereinseitigende Arbeit wäre endlich das Tor zu einer müßigen Lebensgestaltung ohne Mangel geöffnet. Von einem Bilderverbot halte ich nicht viel. Die Wege aus der Arbeitsgesellschaft ergeben sich weder von selbst, noch entsteht eine neue Gesellschaft naturwüchsig. Neben der Kritik an den bürgerlichen Ausdrucksformen kommt es deshalb darauf an, nach in der Gesellschaft vorhandenen geistigen und materiellen Potenzen zu scannen, die für ihre gründliche Revolutionierung fruchtbar gemacht werden könnten. Sie bilden das Substrat notwendiger Überwindungsansätze. [7] Aufspüren lassen sie sich nur im dialektischen Spannungsverhältnis von herrschender Gesellschaft, Kritik, Begehrtem und Denken des Möglichen.

Literatur

[1Ajheldt, Horst: Wohlstand für niemand? Die Marktwirtschaft entläßt ihre Kinder, München 1994, S. 100. Afheldt liefert eine materialreiche Analyse der sozio-ökonomischen Entwicklung, ohne mit seiner Kritik den Horizont der Marktwirtschaft zu verlassen. Seine Krisenlösungsvorschläge beschränken sich auf vage Andeutungen über „direkte Demokratie“, „umweltverträgliche Ökonomie“ und „Wohlstand für Alle“ — durchzusetzen mittels eines wiederzuerlangenden „Primats der Politik“.

[2Der in diesem Zusammenhang häufig an die Adresse der Krisis gerichtete Vorwurf, in ihrer Analyse würden den Menschen die individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit abgesproclien und so auch die KapitalistInnen von der Verantwortung für ihre weltweiten Schweinereien enthoben, geht daneben. Die bürgerlichen Individuen als Objekte des Werts zu entschlüsseln, bedeutet keinesfalls, zu ignorieren, daß sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten eigene Strategien fahren, danach trachten, ihr Vermögen zu vergrößern, und sich größtmögliche gesellschaftliche Vorteile zu verschaffen suchen. Daß die BürgerInnen Objekte des „automatischen Subjekts Wert“ sind und zugleich subjektiv handeln können, macht das phantasmagorische an der Subjektform, die nur in der bürgerlichen Gesellschaft vorkommt, aus.

[4Vgl. ebenda, S. 177ff.

[5Um sie marktwirtschaftstauglich zu bekommen, müssen Kinder über Jahre hinweg mühselig auf das Tauschprinzip und Eigentumsdenken zugerichtet werden.

[6Ohne den durch den Wert induzierten automatischen Zwang zur Identifizierung sind vermutlich auch die universell gültigen Maße nicht mehr lange sicher.

[7Eine Auseinandersetzung mit der von Robert Kurz in die Debatte gebrachten Entkoppelungstheorie und der von Norbert Trenkle eingeführten „mikroelektronischen Subsistenz“ soll in den nächsten Nummern erfolgen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1999
, Seite 6
Autor/inn/en:

Gaston Valdivia: Geboren 1954, ist seit nunmehr 35 Jahren aktiver Gesellschaftskritiker in Theorie und Praxis. Meist hält er sich in Hamburg auf, zwischendurch in Südamerika. Er hat in der Krisis, Karoshi, Jungle World und anderen Publikationen Artikel veröffentlicht. Nach zwei Berufsausbildungen und vielen Berufsjahren hat er Volkswirtschaft studiert und ist seit 15 Jahren als Trainer in der Computer- und Neue Medien-Branche unterwegs. Er hat einen erwachsenen Sohn.

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