MOZ » Jahrgang 1989 » Nummer 40
Franz Schmidjell
Japan:

Apokalyptische Wende

Im „Land der aufgehenden Sonne“ beginnt mit der Herrschaft von Kaiser Akihito die Heisei-Ära, zwei chinesische Zeichen, die für „Friede“ und „Wachstum“ stehen. Japans Nachbarn allerdings betrachten Nippons neuerliche Militarisierung und sein Streben nach regionaler Hegemonie mit Mißtrauen.

Polizeiabsperrungen beim Hiro Hito Begräbnis
Bild: Contrast/Kaku Kurita

Nach den Worten des japanischen Friedensaktivisten Kan Takayuki könnte das Begräbnis von Kaiser Hirohito jenen „apokalyptischen Wendepunkt“ markieren, an dem „die Position der Militaristen zur nationalen Politik erhoben wird“. Mit dem Emperor, dem letzten überlebenden Führer des japanischen Faschismus, sollten Kriegsschuld und das schändliche Image bei den Nachbarn ein für allemal begraben worden sein.

Jetzt kann auch unter den Bewohnern Nippons Erfolg haben, was der konservative Ex-Premier Nakasone mit dem „sengo-sokessan“-Prinzip — der „Beseitigung der Nachkriegszeit“ — eingeleitet hat: die Ablehnung der japanischen Kriegsverantwortung und Schuld zugunsten eines „Neuen Nationalismus“. Worin sich diese Politik manifestierte, zeigen folgende Beispiele:

In der Neuinterpretation der Geschichte versuchte das Unterrichtsministerium, die Greueltaten japanischer Truppen zu vertuschen und vermerkte den Überfall auf Nanking unverfänglich als „Vorfall“. Einige Politiker der regierenden LDP (Liberaldemokratische Partei) sprachen davon, daß der Krieg mit China rein zufällig ausgelöst worden war und einem Akt der Selbstverteidigung entsprochen hatte.

  • Zur Ehre der japanischen Kriegshelden und -märtyrer besuchte Nakasone 1985 den „Yasukuni-Shrine“, in dem auch Kriegsverbrecher wie General Tojo begraben liegen.
  • Im gleichen Jahr erging an alle öffentlichen Schulen der Bescheid, bei Eintritts- und Abschlußzeremonien der „Kimigayo“ (Nationalhymne) und der „Hinomaru“ (Aufgehende Sonne) einen festen Platz einzuräumen. Beides waren Vorkriegssymbole für Militarismus und die Bereitschaft, für den Kaiser zu sterben.
  • Großes Aufsehen erregte Nakasones Äußerung, die Japaner seien den Amerikanern auf Grund deren Rassengemisches überlegen.

Der „Neue Nationalismus“ ertönt als notwendige ideologische Begleitmusik zu Nippons Remilitarisierung. Der in der Bevölkerung weitverbreitete Pazifismus, der einerseits in der Opfermentalität, hervorgerufen durch den atomaren Massenmord im August 1945, andererseits in ihrem insularen Denken begründet liegt, muß beseitigt werden. Bisher wurde die eigene Friedfertigkeit kultiviert, während die Realität von Kriegen am Festland und die Gefahr eines Angriffes auf das durch das Meer vermeintlich geschützte Inselreich einigermaßen verdrängt werden. So dauerte es bis 1986, um das Limit für Verteidigungsausgaben von einem Prozent des Bruttosozialproduktes zu sprengen. Erfolglos blieb der Widerstand der japanischen Linken, die weiterhin die unbewaffnete Neutralität auf ihre Fahnen schreibt. Diese entspräche auch der pazifistischen Verfassung von 1947, insbesondere dem sogenannten Kriegsverzichtsartikel, wonach Japan auf die Unterhaltung jedweder Mittel zur Kriegsführung zu verzichten hat.

Atomwaffentests und Aufrüstung am asiatischen Festland bis zur Mitte der 80er Jahre (UdSSR, VR China), die großangelegte mediale Umsetzung des Abschusses eines südkoreanischen Passagierflugzeuges im Jahre 1983 und eben die Politik des „Neuen Nationalismus“ brachten nun einen erkennbaren Stimmungswechsel bei den Japanern.

Die begrenzte Aufrüstung

Unbewaffnet war Japan nur kurze Zeit nach dem Krieg. Vor dem Hintergrund des „Kalten Krieges“, der chinesischen Revolution und dem Koreakrieg setzten sich die USA 1950 für den Aufbau der „Nationalen Polizeireserve“ bzw. vier Jahre später für den der „Selbstverteidigungskräfte“ ein. Beide verfügten bereits über Panzer, Flugzeuge und Marineeinheiten. Um die Ängste der fernöstlichen Nachbarn vor dem neuerlichen Militarismus in Japan zu beseitigen, erlegte sich der Inselstaat 1976 selbst das 1%-Limit auf. Dem fulminanten Wirtschaftswachstum war es zu verdanken, daß Nippons Verteidigungsetat mit jährlich 5,4% erheblich stärker wuchs, als jener der europäischen NATO-Länder mit rund 3%. Durch die aufgehobene Selbstbeschränkung und die Yen-Aufwertung explodierten zwischen 1983 und 1987 die Verteidigungsausgaben von 1,2 Milliarden US-Dollar auf 23,4 Milliarden US-Dollar. Damit lag Japan hinter den USA und der UdSSR an dritter Stelle und verwendete 1988 mit 30 Milliarden US-Dollar mehr Mittel zu militärischen Zwecken als Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik zusammen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die „Selbstverteidigungskräfte“ die Stärke der japanischen Armee im 2. Weltkrieg übertreffen. Richard Armitrage, US-Assistant Secretary of Defense, schätzt, daß Japan bis 1990 über mehr Flugzeuge als die US-Luftwaffe in Japan, Südkorea und den Philippinen zusammen verfügen wird bzw. über ein ebenso machtvolles taktisches Luftgeschwader wie das am US-Festland stationierte.

Diese Aufrüstung entspricht einer US-Forderung, denn aus amerikanischer Sicht muß der Inselstaat seine Rolle als sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer aufgeben und sich am „burden-sharing“ im Asien-Pazifik-Raum beteiligen. Mit einer Auslandsschuld von 163 Milliarden US-Dollar und einem durchschnittlichen Handelsdefizit von mindestens 100 Milliarden US-Dollar seit 1983 wurde es für die USA immer schwieriger, einerseits den „Weltpolizisten“ zu spielen, andererseits aber auf die Einbeziehung des größten Gläubigers und Kreditgebers der Erde zu verzichten.

Japans Beiträge konnten sich sehen lassen: 2,5 Milliarden US-Dollar für die amerikanischen Truppen im Inselreich, gemeinsame Entwicklung und Bau von hochmodernen FSX-Kampfflugzeugen in den USA, Kauf amerikanischer Militär-Hardware, japanische Beteiligung am SDI-Programm, Stationierung von Kampfpanzern auf Hokkaido, der nördlichsten Insel Japans. Letztere zielen ihre Rohre auf die Sowjets auf den nur wenige Kilometern entfernten Kurilen. Der Streit um die Inseln konnte auch beim Besuch von UdSSR-Außenminister Schewardnadse in Tokio (Ende ’88) nicht beigelegt werden.

Eine Ausrüstung von Nippons „Selbstverteidigungskräften“ mit Nuklearwaffen und einer konventionellen Invasionsarmada ginge über die von den USA geforderte Aufrüstungsgrenze und ist aus zwei Gründen nicht zu erwarten: der Reaktion der Nachbarn auf Grund deren kollektiven Traumas im 2. Weltkrieg und der Gefährdung der militärischen Vormachtstellung der USA im Asien-Pazifik-Raum. Laut Ex-Außenminister Henry Kissinger sollten sich die USA darauf konzentrieren, Tokio „in breitere politische Beziehungen einzubinden, bevor seine Militärmacht eine Eigendynamik entwickelt“. Was für Europa die NATO darstellt, findet im fernen Osten in der Dreier-Allianz zwischen den USA, Japan und Südkorea ihren Niederschlag. Die Bedeutung dieser Allianz für Amerika wird ersichtlich, wenn man die ökonomischen Entwicklungen betrachtet. Das Bruttosozialprodukt der Fern-Ost-Region hat jenes von Westeuropa erreicht, der Handel über den Pazifik übertrifft jenen über den Atlantik um 50%. Bei seinem Südkorea-Besuch 1986 forderte US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinsky vom pazifischen Bündnispartner: „Japan sollte seine Gesamtausgaben für Verteidigung und die ‚Internationale Strategische Wirtschaftshilfe‘ auf mindestens vier Prozent des BSP oder rund 50 Milliarden US-Dollar pro Jahr steigern.“ Diese „internationale strategische Wirtschaftshilfe solle“, so Brzezinsky, „Südkorea, Philippinen, Pakistan, Ägypten und Zentralamerika zugute kommen“.

Nippons Neokolonialismus

Auch nach den Worten von Unterstaatssektretär Gaston Sigur, dem für Ostasien zuständigen amerikanischen Assistance Secretary, und Richard Armitrage sei aus Rücksicht der Stabilität in Ostasien der Steigerung der japanischen Entwicklungshilfe — anstatt der Anschaffung von Offensivwaffen — eindeutig der Vorzug zu geben. „Entwicklung statt Rüstung“, verlautet es aus Washington. Und das macht Nippons Hilfe für die armen Länder verdächtig.

10 Milliarden US-Dollar haben die Japaner im Haushaltsjahr 1988/89 für die „Dritte Welt“ vorgesehen und damit die USA (8,8 Milliarden) als Nummer 1 abgelöst. Die Ziele und Motive der staatlichen Entwicklungshilfe können in drei Gruppen zusammengefaßt werden: humanitäre, ökonomische und politische. Der humanitären Begründung kommt — und da ist Japan keine Ausnahme — abgesehen von Katastrophenhilfe nur marginale Bedeutung zu. Vielmehr prägen die wirtschaftlichen Interessen das Verhältnis zu den Entwicklungsländern. Der fernöstliche Wirtschaftsgigant importiert zu einem hohem Maß seine Rohstoffe und benötigt ausländische Absatzmärkte. Für so manchen asiatischen Staat entpuppt sich die „sanfte Hilfe“ mit den einhergehenden Direktinvestitionen, kommerziellen Kreditvergaben und Handelsverflechtungen als trojanisches Pferd. So stellte Ende letzten Jahres der thailändische Außenminister Siddhi Savetsila ernüchtert fest: „Die Japaner sind in Thailand überall. Sie kennen unsere Absichten und Wirtschaftspläne genau. Weiche Darlehen gibt es für jedes Projekt, solange es ihren Interessen dient.“

In Burma trugen die aufgezwungenen Sparmaßnahmen zu den Massenprotesten vom Sommer 1988 bei. Auf den Philippinen, wo es über 750 japanische Unternehmungen zu beschützen gilt, fließen japanische Gelder in die Aufstandsbekämpfungsprojekte. Um den Weiterbestand der umstrittenen Subic-Naval-Base in Olongapo City und der Air-Clark-Base in Angeles City (beide Philippinen) zu sichern, schlug ein amerikanisch-japanisches Bankenkonsortium den „dept-for-bases-swap“ (Umwandlung der Schulden in Militärbasen) für einen Teil der 28,5 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden vor. Im Falle von Südkorea gab es, was es offiziell nicht geben darf: Militärhilfe.

Indonesien und Malaysia erhalten die ausgelagerten, umweltzerstörenden Industrien. Die japanischen Direktinvestitionen im ASEAN-(Alliance of South East Asian Nations)-Bereich haben 1987/88 jene der USA und EG zusammen überstiegen. (Der ASEAN-Handel mit Japan betrug 1987 35,1 Mrd. US-Dollar, mit den USA 27,5 Mrd.
US-Dollar und mit der EG 22,2 Mrd.)

Südostasiens dynamische Wirtschaften gehören zu den Zukunftsmärkten der japanischen Kapitalgüter. Nippons Entwicklungshilfe richtet sich kaum nach den Bedürfnissen der mehrheitlich armen Bevölkerungsgruppen, sondern vielmehr nach den Interessen der eigenen Konzerne. Die kaufwütige Bourgeoisie und Teile der Mittelschicht in den fernöstlichen „DritteWelt“-Ländern erfreuen sich zunehmend an Konsum- bzw. Luxusgütern aus dem „Reich der aufgehenden Sonne“. In ihren Metropolen flimmern japanische Reklameschilder, zählen japanische Uhren die Stunden und werden Kinder mit japanischer Hightech vertraut. Die Eliten dieser Entwicklungsländer lassen sich den Ausverkauf der menschlichen wie natürlichen Ressourcen mit „Recycling-Yens“ fürstlich belohnen. Die ökonomische Kontrolle der Völker des Fernen Ostens, eines der Kriegsziele des imperialen Japan im 2. Weltkrieg, gelingt nun in Friedenszeiten.

Doch nicht jeder Entwicklungshilfe-Yen läßt sich ökonomisch begründen. Im krisengeschüttelten Inselstaat von Präsidentin Aquino sind Risken von Investitionen höher, der „return of investment“ (ROI — Rückfluß in Form von Profiten) niedriger als anderswo. Stabilisierung von genehmen Regimen und eigene Sicherheitsinteressen zählen zu den politischen Motiven. Zu letzteren gehört beispielsweise die Straße von Malakka, auf der nahezu die gesamten Erdölimporte Japans transportiert werden. Es gilt auch, durch Entwicklungshilfe das negative Image bei den Nachbarstaaten abzubauen, der Angst vor neuerlichem japanischem Regionalimperialismus soll durch mehr Diskretion bei Direktinvestitionen begegnet werden. Höhere Entwicklungshilfe sichert auch mehr Einfluß in der internationalen Konferenzdiplomatie, vor allem in Weltbank und Währungsfond.

Anti-Hiro Hito-Demonstration in Tokyo
Bild: Contrast/Kaku Kurita

Stelldichein am Grabe Hirohitos

Die staatlichen Trauerfeierlichkeiten von Tokio versprechen, wesentliche Folgen zu haben. Ein Arbeitsbegräbnis, wie es in der nüchternen Sprache der Weltpolitik heißt — es kam zu unüberblickbaren Kreuz- und Quer-Kontakten zwischen Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und Ministern aus 163 Staaten sowie den Repräsentanten von 28 internationalen Organisationen. Unter anderem kamen auch das Programm zur Entwicklung des Kampfflugzeuges FSX, gegen das sich im US-Kongreß aus Sorge vor künftiger Konkurrenz Widerstand geregt hatte, sowie die stärkere Integration der Entwicklungshilfe in das LIW-Konzept (Low Intensity Warfare/Krieg mit niedriger Intensität) des Pentagons zur Sprache. Die Verteidigungskonzepte von Japan und den USA sind schon durch die Dreier-Allianz „Washington-Tokio-Seoul“ und der 1981 gemachten Zusage von Ex-Präsident Reagan, der Nippons „Selbstverteidigungskräften“ nicht nur den Schutz der Küstengewässer, sondern auch der Seefahrtswege im Umkreis von 1.000 Meilen erlaubt, stark verwoben. Ungeachtet der jahrelangen Diskussion, ob es sich um englische (1,61 Kilometer) oder nautische Meilen (1,85 Kilometer) handelt und von wo aus gemessen werden soll, erstreckt sich der Verteidigungsradius Nippons bis zu den Philippinen und Guam.

Nicht alle haben aus wirtschaftlichem Opportunismus ihre Skrupel verdrängt. Der australische Premier Bob Hawke schickte Tokio eine Absage, der neuseeländische Verteidigungsminister Bob Tizard meinte, daß Emperor Hirohito als Kriegsverbrecher am Ende des 2. Weltkrieges „erschossen und öffentlich enthauptet“ werden hätte sollen. Im „Land der aufgehenden Sonne“ selbst boykottierten 50 sozialistische und kommunistische Abgeordnete die Inaugurationsfeiern des neuen Kaisers Akihito, und die radikale „Rote Armee“ kündigte ihren Kampf gegen die Monarchie und Kaiser, den sie als Symbol des „Terrors, der Unterdrückung und des Faschismus“ sieht, an. Inwieweit unter diesen Rahmenbedingungen Remilitarisierung und regionales Hegemonialstreben an längst vergangen geglaubte Zeiten anschließen können, hängt nicht zuletzt von der möglichen Einheit der in zig Fraktionen zersplitterten japanischen Linken ab. Ein einendes Thema ist jedenfalls vorhanden.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1989
, Seite 30
Autor/inn/en:

Franz Schmidjell:

Hat Wirtschaftswissenschaften studiert, er arbeitet am Wiener Institut für Entwicklungsfragen und Zusammenarbeit. Zahlreiche private Informationsreisen in Ländern Südostasiens.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar

Geographie