FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1994 » No. 485/486
Günther Anders

Anthropologie der Arbeitslosen

Paris 1933. Erste Woche Emigration

Die nachstehenden Überlegungen schrieb der Autor als zweiten Teil seines »Versuchs einer Selbstverständigung«; der erste, etwas längere und gleichfalls unfertige »Sieg des Methodenmangels. Zu Sieg des Nationalsozialismus« erschien im Heft Dezember 1993. Wir geben wieder — unkommentiert, unsortiert und unredigiert — eine historisch-dokumentarische Ausgabe mit {allen Streichungen, soweit entzifferbar, in geschwungener Klammer} sowie [geringen Ergänzungen & Bemerkungen des Herausgebers in eckiger Klammer]

{A. Über den Arbeiter sprechen wir, als gäbe es kein Klassenbewußtsein, als habe es auch in den letzten Jahren keines gegeben.} Wodurch — jedenfalls vorläufig — das Klassenbewußtsein als wirksamer geschichtlicher Machtfaktor ausschied, wäre hinreichendes Thema einer eigenen Untersuchung. Wieweit die Dualität der deutschen Arbeiterparteien (selbst vielleicht mehr Symptom als Grund des Mangels) dafür verantwortlich ist, lassen wir dahingestellt. Doch sei von vornherein betont: die Arbeitslosigkeit selbst, gerade dieses Schicksal, das, wie man glauben sollte, die Arbeiter enger zusammenschließen könnte, ist zugleich Hemmung des Klassenbewußtseins. Denn die Arbeiter sind nun selber noch einmal — Konkurrenz untereinander: Arbeitende gegen Arbeitslose; Arbeitverteidigende (mit [einem] gewissem Minimum an Lebensstandard) gegen Déclassés. Diese Teilung gehört zum Bilde des späten Kapitalismus ebenso wie die relative Konkurrenz-Aufhebung durch Trusts etc. innerhalb der arbeitgebenden Bevölkerung. Die Konkurrenz wandert. Nicht nur das Elend überhaupt, sondern auch das Auftauchen des Konkurrenzphänomens in der Arbeiterklasse machte diese so mürbe, daß sie dem Ansturm des Nationalsozialismus nachgab. —

Objekt wird geschenkt

Dieser Zustand Nichtzusein, nirgends hinzugehören, nicht einmal eine brauchbare Sache zu sein, ist nicht der Tod. Denn wie beim total Verzweifelten, den eine tiefere Schicht seiner selbst vom Selbstmord zurückhält, ist auch beim Arbeitslosen die physische Existenz als Residuum übrig. Nur in dieser Existenzschicht, die man ihm ließ, kann er nun reagieren. {Er reagiert erst einmal nicht: er speichert auf.} Das Elend wird zur Wut ohne bestimmtes Wutobjekt. Rachewut ohne bestimmtes Racheobjekt. Denn wer ihn eigentlich in diese Lage brachte, ist bei der grundsätzlichen Unübersehbarkeit dieser heutigen Welt nicht zu unterscheiden. Aber er braucht ein Wutobjekt, um die Wut auszulassen. Wäre keines zu finden, wäre es erfindbar. Ein solches — gewissermaßen nachträgliches — Wutobjekt ist der Jude. —

Der Junge

Der Junge hatte mit 17 als Tischler ausgelernt. Er ist jetzt 23. Er hat, was er lernte, niemals in Arbeit umsetzen können. Erwachsen-Sein heißt für ihn chômeur [1] Sein. Erwachsen-Sein heißt für ihn nichts dürfen, nichts können. Er darf nicht heiraten — er hat kein Geld. Er darf nicht arbeiten. Er kann nicht im Haus bleiben: er sitzt nur herum. Er kann nicht auf der Straße bleiben — er läuft die Sohlen ab. Er wird niemals erwachsen, adulte, une grande personne. Nicht nur in seinen jungenhaften Kleidern läuft er herum, auch in seinem jungenhaften Gesicht. Er hat keine Sorgen, denn er könnte sie nicht beheben.

Plötzlich öffnet sich ihm ein Ausweg: er wird ernährt, besser als zu Hause; er wird gekleidet, und zwar (et cela) solide; nicht nur solide, sondern magisch: er erhält Uniform; nicht nur magisch, sondern adlig: er ist von bester Rasse; nicht nur adlig, sondern mächtig: er, der Unterste ist bestimmt, Retter zu sein. Seine geballte Faust erhält Richtung, und glücklich, schlagen zu dürfen, glücklich, seiner Wut die Legalität der Ehre und die Ehre der Illegalität geben zu können, schlägt er dorthin, wohin man ihn weist. Und nichts braucht er mehr als einen Feind.

L’apprenti sorcier [2]

Die Bewegung war klein. Sie wurde finanziert von den Deutschnationalen, die mit ihrer Hilfe hofften, die Arbeiterbewegung, den »Klassenkampf« zu neutralisieren, ja sich durch die nationalsozialistische Ersetzung des Wortes Klasse durch Rasse sicherzustellen. Die Arbeiterbewegung wurde neutralisiert, aber die Hoffnung der Deutschnationalen ging nicht in Erfüllung. Denn die Geister, die er finanzierte, wurde der Deutschnationale nicht los und der Besen, den er tanzen machte, fegte die Deutschnationalen ebenso fort wie die Arbeiterparteien.

Schwimm-Nudismus

Wo er sich fortwendet von der bürgerlichen Kultur, versucht er das Ideal zu realisieren, das die bürgerliche Revolution als Theorie aufgestellt hatte, die bürgerliche Ideologen längst aufgegeben haben: den Naturmenschen. Programmatisch nackend badet er in den Seen rund um Berlin, in Zelten wohnt er. In unentwirrbarem Zusammenhang sind dabei revolutionärer Materialismus, Nacktkultur und Naturanbetung der Jugendbewegung und Neuheidentum der rein völkischen Bewegung. Strumpflos und badehosenlos, aber mit Grammophon fahren sie im Sommer[, ] ihr Lagerleben und die Radioapparate tönen durch die Mondnacht der Camps. Die Bräune ihrer Leiber spricht davon, daß sie im Schatten keiner Fabrik mehr arbeiten, und ihre Ferien sind nicht die Erholung von der Arbeit, sondern das Ausgeschlossensein von der Arbeit.

Sie leben nur noch physisch. Da sie niemand mehr sind und als nichts mehr gelten. Begreiflich, daß sie für jene Theorie, für jene Kategorie, die das Eigentliche in eine vertu des Physischen verlegt, auf die Theorie der »Rasse« bereit sind. Um so begreiflicher, als der Begriff »Rasse« die Jahrhunderte, d.h. Geschichte, Tradition (an der sie nicht teilgenommen haben) überspringt und sich an etwas Vorgeschichtliches (= Quellenartiges) hält. Marxens Hoffnung, die Arbeiterklasse zum Erben der deutschen Geistesgeschichte einzusetzen, war ein Wahn. Die Geschichte schloß sie von der Geschichte aus. Sie, die geschichtslos und traditionslos geworden, rächen sich an der Geschichte, springen zurück in eine Utopie.

Sie haben nichts hinter sich. Das heißt: sie haben keine Tradition. Ihre Väter und Großväter arbeiteten als Landarbeiter in Ostelbien oder Pommern. Sie kamen als Arbeiter in die Stadt. Fingen von neuem an, ohne Rückerinnerung. So haben sie keinen Lebensstil. Keine Religion, keine Religionsleugnung, keine Sitte, keine Unsitte hat sie vorgeprägt — sie waren nur Menschen in einem barbarischen Sinne. Kaum älter als sie ist die Stadt, in die sie kommen. Auch sie hat keine Tradition, kann sie nicht mitprägen, kann sie nicht (wie Paris es tut) nachträglich zu Erben einer Vergangenheit machen, an der sie eigentlich nicht teilgenommen haben.

Sie haben nichts vor sich. Können auf nichts rechnen. Können nicht disponieren über ein Stückel Zukunft. Richtungs- und objektlos geworden, überstürzt sich der élan vital und schwankt zwischen den Alternativen von Tollkühnheit und Apathie.

Farbe d. Civil u.

Er lebte nicht in seiner Welt, sondern in der Welt, die »die Farbe der anderen Civilisation der anderen trug«: Seine Romane waren die schlechten bürgerlichen. Seine Sonntage waren gefüllt mit den schlechten bürgerlichen. Seine Sonntagsanzüge waren die Werktagsanzüge seines Chefs. Er lebte nicht in seiner Welt, sondern in der der anderen, deren Geschichte er nicht kannte, deren Resultate und Abfälle ihm als Behausung dienten. Womit soll er sich nun beschäftigen, da plötzlich täglich Sonntag ist? Da er — kleinbürgerliche Versuchung: — Rentner wider Willen ist? Da er die Sonntagsvergnügung nicht täglich kaufen kann. Er wünscht — soweit sein Klassenbewußtsein aussetzt — das Leben des Kleinbürgers, denn er ist Rentner, und die Welt, die er meinen muß, da er zur eigenen nicht Zeit gehabt hatte, ist die des Bürgers. (Parallelerscheinung: der Kleinbürger, der de facto proletarisiert ist, es aber nicht wünscht, hält sich an das Gleiche. Das Elend einigt die Klassen, die Enterbten verteidigen die Lumpen des Erbes.)

Was war vorher? Er war beschäftigt, aber nicht (wie etwa der Handwerker) mit seiner Welt oder der Fertigstellung eines Gegenstandes, sondern mit Teilen einer Welt, die er nicht übersehen kann, da sie nur winzige Teile sind. Er war zwar beschäftigt, aber gerade wegen Länge und Intensität so, daß diese Beschäftigung weder ein Leben (im Sinne einer biographischen Einheit) noch sein spezielles Leben konstituieren konnte. [Randnotiz:] Kette von Arbeitstagen. Aber kein Leben [Ende der Randnotiz] Er hatte zu tun, was jeder andere auch tun kann. Woran könnte nun, da er »frei« ist, seine Erinnerung ansetzen? Nur an den Ausnahmen, dem Sonntag — d.h. sie kann nicht Erinnerung sein, das Kontinuum eines Lebens wiedergeben, sondern nur die subalterne Schwester: die Sentimentalität. Die Sentimentalität, die so banal, so allgemein ist, wie es sein Alltagsleben war, das nicht er führte, das er nicht als er selbst führte: denn er lebte nicht, schon als Arbeitender nicht, sondern er wurde gelebt. Und nicht er lebte, sondern irgendeiner, der diese oder jene Arbeit tat, und das Exemplar dieses Irgendein war gerade Fritz Müller oder der 9. Schulz.

Nackt ist nicht der Naturmensch, sondern der Deklassierte

Die leere Zeit, ehemals bekannt nur als philosophische Abstraktion der immer schon erfüllten, wird hier in der Existenz des chômeur Wirklichkeit. Denn während sonst das Leben voll und ganz damit beschäftigt ist, sich mit etwas zu beschäftigen, und die Zeit nur die Ordnungsform seiner Beschäftigungen darstellt, ist Leben nun plötzlich sich selbst ausgeliefert und der Leere seiner — nicht vorwärtsgehenden, sondern stehenden Zeit. Denn je unbeschäftigter das Leben, desto langsamer seine Zeit. Aber sich mit sich selbst zu beschäftigen, die Reflexion im breitesten Sinne, ist diesem Leben eigentums- und beschäftigungslos nicht gegeben, denn Reflexion hat stets andere Motive: ist als Selbstfindung, als »Gewissen«, als Reue (Augustinus), ist Erinnerung als Rückblick aufs volle Leben und seine biographische Unifizierung (Goethe), ist {Weltverzicht} Findung der Innenwelt als Verzicht auf Welt, ist Angewiesenheit auf die Nuancen der eigenen Innerlichkeit als désordre (Proust), ist {Selbstkonstituierung des} Selbstbestimmung im Abhören des moralischen Gebotes (Kant). Hier aber ist das Leben lediglich durch etwas anderes »Äußeres« auf sich zurückgeworfen und ohne daß es sich selbst dazu entschlossen hatte. Es findet es nicht, nicht zu kantischer Autonomie, es bereut nicht. Es ist von Welt und Beschäftigung verlassen. Bei sich, weil »übrig«, es hat keine volle Innenwelt, sondern hatte (für wen) beschäftigte Tage. Es ist nicht nur nicht eingeübt in der Reflexion, ja hätte kein Objekt, es würde {sich} nichts finden: nicht sich finden. Denn dieses Leben war ja nicht es selbst, es muß sich für eine Beschäftigung mit etwas anderem entscheiden. Beschäftigung womit?

{Irgendwie muß es sich beschäftigen,} Wenn nicht durch Schlaf und Spiel, d.h. durch Tod der Zeit oder durch Betrug der Lebenszeit durch Einfügung der künstlichen Spielzeit, so mit dem richtungslosen Umherlaufen. Da für das Leben gesorgt wird (für das sogenannte nackte Leben durch Arbeitslosenunterstützung und Fürsorge gesorgt wird), ist diesem Leben selbst dies elementare, vormenschliche, naturhafte Recht genommen, sich um sich selbst zu kümmern. Die Kartoffeln werden sowenig geerntet als verdient: sie werden vorgesetzt wie den Löwen im Zoo.

[Randnotiz: ] Vorher [—] Andere waren schon für andere. Und unerklärlich. Welt war nicht meine Welt.

 [3]Ce n’est pas la personne en état de la soit disante pure nature, qui est nue, c’est le déclassé {qui est nu}.

Le temps vide, autrefois connu seulement comme abstraction philosophique, comme abstraction du temps rempli de monde, d’évenements, d’occupations, se réalise dans l’existence du chômeur. Tandis que la vie s’était toujours occupée, de s’occuper de quelque chose, de quelque autre chose, tandis que le temps s’était rien que la catégorie et l’ordre des occupations, brusquement la vie est exposée à elle même et au vide de son temps — de son temps pas allant en avant, restant en inaction. Car plus la vie perd ses occupations, plus sa vitesse diminue.

[1Arbeitsloser

[2Der Zauberlehrling

[3Anfang einer Übertragung des vorigen Stückes durch den Autor.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1994
, Seite 1
Autor/inn/en:

Günther Anders:

Günther Anders wurde am 12. Juli 1902 in Breslau geboren. Nach dem Studium der Philosophie 1924 Promotion bei Husserl. Danach gleichzeitig philosophische, journalistische und belletristische Arbeit in Paris und Berlin. 1933 Emigration nach Paris, 1936 nach Amerika. Dort viele „odd jobs“, unter anderem Fabrikarbeit, aus deren Analyse sich später sein Hauptwerk ‚Die Antiquiertheit des Menschen‘ ergab. Ab 1945 Versuch, auf die atomare Situation angemessen zu reagieren. Mitinitiator der internationalen Anti-Atombewegung. 1958 Besuch von Hiroshima. 1959 Briefwechsel mit dem Hiroshima—Piloten Claude Eatherly. Stark engagiert in der Bekämpfung des Vietnamkrieges. — Auszeichnungen: 1936 Novellenpreis der Emigration, Amsterdam; 1962 Premio Omegna (der ,Resistanza Italiana‘); 1967 Kritikerpreis; 1978 Literaturpreis der ‚Bayerischen Akademie der Schönen Künste‘; 1979 Österreichischer Saatspreis für Kulturpublizistik; 1980 Preis für Kulturpublizistik der Stadt Wien; 1983 Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt; 1992 Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Günther Anders starb am 17.12.1992 in Wien.

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