FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1972 » No. 220
Lothar Mayer

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SPD-Wirtschaftspolitik

I. Verteilungssozialismus

Bei der Regierungsbildung 1969 war die SPD mit dem Versprechen angetreten, auf dem Wege zum Sozialstaat den entscheidenden Durchbruch zu schaffen. Auf der Basis des wirtschaftspolitischen Konzepts von Karl Schiller, das stetiges Wachstum verhieß, sollte eine Reihe kostspieliger Reformen die Sozialstruktur in Richtung auf eine größere Nivellierung der Besitzverteilung hin beeinflussen. Zweieinhalb Jahre danach müssen die sozialdemokratischen Führer feststellen, daß man sich dem Ziel nicht angenäherrt, eher sich davon entfernt hat.

Die Einkommens- und Vermögensverteilung hat sich weiter zuungunsten der abhängigen Schichten entwickelt, die Kluft zwischen arm und reich wird trotz steigendem Lebensstandard immer größer.

Die versprochenen Sozialreformen sind größtenteils ausgeblieben.

Selbst die Wunderrezepte des Konjunkturbändigers Schiller wollen nicht mehr so recht wirken: das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich, und die Preissteigerungen haben bisher ungeahnte Höhen erreicht.

Dem drohenden Vertrauensschwund bei ihren Wählern und der wachsenden Unruhe in den eigenen Reihen begegnen die SPD-Bosse mit dem Hinweis auf den liberalen Regierungspartner, dessen Bremserfunktion die Reformen verhindert habe; konsequent wird für den Fall einer (vorerst illusorischen) SPD-Alleinregierung die schnelle Verwirklichung der sozialpolitischen und ökonomischen Ziele in Aussicht gestellt.

Daran vermag allerdings nur zu glauben, wer zwischen der sozialstaatlichen Zielprojektion der SPD und ihrem politischen Instrumentarium keinen Widerspruch erblickt. Soziale Gerechtigkeit und Nivellierung dichotomischer Schichtung lassen sich nicht durch Sozial-„Partnerschaft“ und Konzertierte Aktion erreichen, sondern durch Klassenkampf — und der liegt der SPD ferner denn je.

Bei der Analyse der gegenwärtigen Formen reformistischer Praxis und Theorie in Westdeutschland müssen zwei Faktoren im Vordergrund stehen: das Verhältnis der Sozialdemokratie zum Staat und ihre Einschätzung der Bedeutung der Distributions- gegenüber den Produktionsprozessen. Da der Reformismus den Weg des sozialen Konflikts nicht mehr als gangbar oder wünschbar betrachtet, muß sich seine Praxis notwendig auf das verfügbare sozialtechnische Instrumentarium stützen, dessen wesentlichste Komponenten die Gesetzgebungsmaschinerie und die Staatsbürokratie sind.

Theoretisches Fundament dieser Praxis ist die schon bei Bernstein anzutreffende Auffassung vom veränderten Charakter der kapitalistischen Produktion gegenüber der Entstehungszeit der Marxschen Analyse und den Folgen, die sich daraus für die Funktion des Staates ergeben. Der Wirtschaftsprozeß wird nicht mehr als im Grunde anarchisch-unberechenbar sich vollziehend und von periodischen Krisen geschüttelt betrachtet, sondern — teils als Resultat naturwüchsiger Prozesse, teils als Ergebnis immer intensiver staatlicher Intervention — als zumindest im Makrobereich steuerbar.

Gewaltigen Auftrieb erfuhr diese Einschätzung durch den Siegeszug des von Keynes entwickelten konjunkturpolitischen Konzepts, das dem Staat im ökonomischen Prozeß die Hauptrolle zuweist und in dem folglich alle auf Massenpartizipation beruhenden, also ungeplanten Faktoren, als dysfunktional erscheinen.

Sowohl die nicht-revolutionäre Strategie Bernsteins für die Arbeiterklasse wie auch die Wirtschaftstheorie von Keynes gründen sich auf die Annahme, der Staat sei bei der Verteilung seiner Finanzen grundsätzlich souverän, stehe also den Bedingungen kapitalistischer Produktion unabhängig gegenüber. Die von ihm verwalteten und ausgegebenen Mittel gelten als der Kapitalakkumulation entzogen. Bei ständig wachsendem Sozialprodukt und, nicht zuletzt zu Zwecken des Krisenmanagements, unablässig sich ausweitender Tätigkeit des Staates werden immer mehr Gelder vom Staat verplant und ausgegeben, der somit auf die Vermögensverteilung in der Gesellschaft maßgeblichen Einfluß nehmen könne.

Die Kontrolle der Produktion kann unter solchen Bedingungen nicht das Hauptziel der Arbeiterbewegung sein; sie muß vielmehr versuchen, die Verteilung des Sozialprodukts auf dem Weg über den Staatshaushalt in die Hand zu bekommen. Vergrößert sich derjenige Teil des Sozialprodukts, der in den Staatshaushalt fließt, steigt der Einfluß des Staates auf die Investitionslenkung; damit wäre eine gewisse Kontrolle auch der Produktion gleichsam durch die Hintertür erreicht.

Der grundlegende Widerspruch der Distributionsideologie liegt darin, daß der Staat einerseits als abhängig von politischen Organisationen und Interessengruppen gesehen wird, deren Aktionszentrum das Parlament ist, andererseits aber dem wirtschaftlichen Prozeß gegenüber unabhängig sein soll. Die Regierung, deren Zusammensetzung das Resultat der sozioökonomischen Machtverteilung ist, müßte sich gegenüber den sie tragenden Interessen und Mächten verselbständigen. Der dialektische Materialismus ist auf den Kopf gestellt: nicht die Produktionsverhältnisse sind es, die den Staat (bei Marx noch die Agentur der herrschenden Klasse) formen, sondern der von seiner ökonomischen Basis abgelöste Staat lenkt die wirtschaftlichen Prozesse. Ihn beherrschen nicht länger vordergründige materielle Interessen, sondern abstrakte Prinzipien.

Sozialdemokratische Politiker vertreten diese Theorie in immer neuen Varianten, so entdeckte unlängst Entwicklungshilfeminister Erhard Eppler, die Unfähigkeit der Privatwirtschaft, bestimmte Probleme des Umweltschutzes, der Stadt- und Verkehrsplanung oder der internationalen Arbeitsteilung zu lösen, werde in naher Zukunft unausweichlich „der Politik“ einen Primat vor der Wirtschaft und ihren Interessen verschaffen.

Gemäß Distributionsideologie bestimmt nicht, wer die Produktionsmittel hat, sondern wer die meisten Wählerstimmen bekommt — sofern zwischen beiden Faktoren ein Unterschied angenommen wird. Aufgabe der sozialdemokratischen Parteien wäre dann vor allem, dafür zu sorgen, daß genügend aufgeklärte, mit dem richtigen Bewußtsein ausgestattete Wähler vorhanden sind, die in der richtigen Weise abstimmen.

Wie es bei dieser Theorie zustande kommt, daß eine SPD-geführte Regierung für Rüstungszwecke und Industriesubventionen zusammen rund 50 Prozent des gesamten Budgets aufwendet, also etwa die Hälfte der von ihr verwalteten Mittel direkt wieder an die Eigentümer der Produktionsmittel zurückfließen läßt, dürfte mit dem Hinweis auf die plutokratische FDP nicht ganz zu erklären sein.

II. Konzertierte Aktion

Die Hoffnung, den Sozialstaat über die Kontrolle der Distribution zu schaffen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der SPD seit Gründung der Bundesrepublik. Der immer klarer sich offenbarenden Unmöglichkeit, auf diesem Wege sich dem Ziel auch nur zu nähern, begegnete die SPD indessen nicht mit einem neuen Konzept, das nur Kontrolle der Produktionsmittel hätte heißen können, sondern mit fortschreitender Reduktion des Anspruchsniveaus.

Noch bei ihrer Teilnahme an der Ausarbeitung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat 1948/49 glaubte die SPD, im Vertrauen auf den vermeintlich sicheren Wahlsieg, die wirksamsten Waffen der Arbeiterbewegung aus der Hand geben zu können; so sprach sie sich z.B. für das Verbot politischer Streiks aus. Mit einem SPD-Bundeskanzler, ausgestattet mit der Richtlinienkompetenz, der Sozialstaatsklausel im Art. 20 des Grundgesetzes und gesichert durch die Offenheit der Verfassung gegenüber nichtkapitalistischen Produktionsverhältnissen, sollten die Schlüsselindustrien sozialisiert und eine grundlegende Umverteilung der Vermögen zugunsten der Arbeitnehmer in die Wege geleitet werden. Das Ausbleiben des Wahlsieges und die Schwäche der freiwillig kastrierten Gewerkschaften machten dieses Konzept unrealisierbar.

Die nächste Etappe war gekennzeichnet durch den Versuch, das für bestimmte Bereiche der Schwerindustrie auf alliierten Druck hin geschaffene Mitbestimmungsgesetz (die sogenannte Montan-Mitbestimmung) auf die Gesamtwirtschaft zu übertragen. Merkmale dieses Gesetzes sind paritätische Vertretung von Arbeitnehmern und Kapitaleignern in den Aufsichtsräten von Großunternehmen, bei der durch Entsendung inner- und überbetrieblicher Delegierter auf der Arbeitnehmerseite auch gesamtgesellschaftliche Interessen zum Ausdruck kommen sollen, ferner die Einsetzung eines „Arbeitsdirektors“, dessen Wahl im Aufsichtsrat nicht gegen die Stimmen der Arbeitnehmer möglich ist.

Die erweiterte Mitbestimmung scheiterte nach mehreren Anläufen an der Entschlossenheit der Kapitalseite, sich jeder noch so geringen Beschneidung ihrer Unabhängigkeit mit allen Mitteln zu widersetzen.

Eine systemändernde Wirkung wäre dem Montan-Modell allerdings auch dann nicht zugekommen, wenn es einen größeren Teil der Gesamtwirtschaft erfaßt hätte: die Stellung des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand (in dem die Arbeitnehmer stets in der Minderheit sind) ist relativ schwach; nicht selten sieht sich der Aufsichtsrat auf die Funktion eines Akklamationsorgans für die komplizierten technischen Entscheidungen des Vorstands reduziert. Auf betriebsändernde Maßnahmen schließlich hat der Aufsichtsrat überhaupt keinen Einfluß, Entscheidungen hierüber fallen in der Hauptversammlung.

Nachdem sich alle Formen von Entscheidungsbeteiligung der Unterprivilegierten an der wirtschaftlichen Basis als illusorisch erwiesen hatten, beschieden sich die Chefideologen der SPD, diesmal besser im Einklang mit dem Volkspartei-Anspruch seit dem Godesberger Programm, mit der Forderung nach stärkerer staatlicher Einflußnahme im makroökonomischen Bereich. Das Konzept dafür lieferte der dem Kapital sicher unverdächtige Professor Schiller, dem seine Flexibilität schon in der NS-Zeit zustatten gekommen war. Die von ihm verschriebene Wunderkur hieß Globalsteuerung und war auf dem Boden der wirtschaftlichen Pluralismusideologie erdacht worden. Die Globalsteuerung bedeutet, in groben Zügen, eine Verbindung klassischer Konzepte der Wirtschaftsautonomie, wie sie z.B. von Walter Eucken und Ludwig Erhard vertreten worden waren, mit der Theorie staatlicher Konjunktursteuerung nach Keynes. Gegenstand der staatlichen Planung ist danach der makroökonomische Bereich, sind Summen und Aggregate, nicht aber konkrete Wirtschaftssubjekte. Die erarbeiteten Daten sollen den Unternehmern (und Gewerkschaften) als Leitlinien ihrer Entscheidungen dienen, ohne jedoch ihre grundsätzliche Autonomie anzutasten.

Dabei ist Schiller freilich nicht so naiv, an eine völlige Trennung von makro- und mikroökonomischem Bereich zu glauben; im Gegenteil, er sieht in dem „ständigen osmotischen Druck zwischen beiden Funktionsbereichen“ die Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Systems. Das bedingt aber, daß die staatlichen Zieldaten in ständiger Tuchfühlung mit dem Kapital erarbeitet werden müssen, um es überhaupt zum Mitmachen zu bewegen. Langfristig angelegte, eventuell auf Änderung des Gesamtsystems bedachte Strategien sind hier von vornherein ausgeschlossen, weil der Nutzen der gesamtwirtschaftlichen Richtlinien für das in einzelnen Wirtschaftssubjekten konkretisierte Kapital jederzeit erkennbar sein muß.

Hauptinstrument der Globalsteuerung ist die „Konzertierte Aktion“, ein zur Konsensbildung zwischen den „Sozialpartnern“ eingerichtetes Gremium. Ihm gehören die sechs Spitzenverbände der Unternehmer (Industrie, Handwerk und Banken) und zwei zentrale Gewerkschaften (IG Metall und DGB) an. Die Beschränkung auf diese Gruppen und damit der Ausschluß nicht ganz so potenter Wirtschaftskräfte vom Planungsprozeß deutet schon an, in wessen Interesse die Globalsteuerung konzipiert ist. Als Instrument, das überhaupt nur in einer von starker Kapitalkonzentration gezeichneten, in Monopolen und Oligopolen organisierten Wirtschaft funktionsfähig ist, kann sie nur Strategien hervorbringen, die in keinem Gegensatz zum Kapitalinteresse stehen. Karl Schiller drückt das so aus: „Wer zu diesen Aggregaten, zu diesen organisierten Gruppen, in ein grundsätzlich negatives Verhältnis gerät, der kann schließlich in dieser Gesellschaft nicht mehr regieren.“

Das macht auch jede Anwendung staatlicher Machtmittel zur Durchsetzung von Plandaten, die nicht mit den Unternehmern abgestimmt sind, unmöglich; die Unternehmer selbst sind ja mit der Umsetzung dieser Daten in konkrete wirtschaftliche Entscheidungen betraut. Die Pläne der Regierung können unter diesen Umständen nichts anderes darstellen als die Ausformulierung der Kapitalinteressen; die Regierung wird, wie Jörg Huffschmid bemerkt, zum „Vollstrecker der Hoffnungen der Monopolgruppen“.

Das bekamen auch die Gewerkschaften zu spüren, die in der Konzertierten Reaktion allmählich ein Instrument zu ihrer eigenen Domestizierung erkannten: die in der Konzertierten Aktion durchgesetzten Schillerschen Richtdaten für die Lohnentwicklung entsprachen oft bis auf die Kommastelle den zuvor herausgegebenen „Lohnleitlinien“ der Arbeitgeberverbände. Soll bei Lohnverhandlungen oder gar bei Lohnkämpfen dann überhaupt noch etwas herauskommen, müssen die Forderungen der Gewerkschaft die Plandaten der Globalsteuerung notwendig überschreiten. Die Gewerkschaften sehen sich also von vornherein in eine moralische Unrechtsposition gedrängt, weil sie durch ihre „Maßlosigkeit“ die Stabilität gefährdeten.

Trotz immer geringeren Anteils der Lohnkosten an den gesamten Produktionskosten (in vielen Industrien zwischen 20 und 30 Prozent) erfährt das Märchen von der Lohn-Preis-Spirale, verbrämt mit der wissenschaftlichen Unfehlbarkeit des Wirtschaftsprofessors Schiller, immer neue Auflagen. Die in den Rang des „Partners“ erhobene Arbeitnehmervertretung hält endlich die Verantwortung über das Wohl und Wehe der wirtschaftlichen Entwicklung in Händen, und die Bild-Zeitung sorgt dafür, daß es die Arbeiter am Ende selbst glauben.

Nach dieser Logik ist es richtige Gewerkschaftspolitik, in Zeiten des Produktionsrückgangs und der Krise (1967/68 und auch 1971) sich zu mäßigen und keine Lohnforderungen zu stellen, damit die Unternehmergewinne wieder steigen und Investitionen getätigt werden. In Zeiten der Hochkonjunktur dürfen aber auch keine hohen Lohnforderungen gestellt werden, weil sonst die Preise steigen und Inflation droht.

Die Gewerkschaftsführer haben sich redliche Mühe gegeben, dieser Logik zu folgen: in der letzten Metalltarifrunde war trotz gewaltigen Theaterdonners durch einen langen Streik (der den in einer Absatzkrise steckenden Unternehmen gar nicht unwillkommen war) nach Aussage der Gewerkschaftsbosse das erzielte Ergebnis so mager, daß durch die Lohnerhöhung die vorausgegangene Preissteigerung und die mit der Lohnerhöhung verbundene Erhöhung der Lohnsteuer nur knapp ausgeglichen werden konnten, ein tatsächlicher Einkommensfortschritt trotz der eingetretenen Produktivitätssteigerung also nicht erreicht wurde.

Dementsprechend sieht sich die kooperationswillige Gewerkschaftsführung von ihren enttäuschten Mitgliedern arg bedrängt, aus der Konzertierten Aktion auszutreten. Dazu dürften die Gewerkschaftsbosse indessen kaum bereit sein, solange ihre eigene, auch materielle Existenz mit dieser Kooperationsbereitschaft unlösbar verknüpft ist und ihre Befriedungsstrategie dem Kapital die Anwendung brutalerer Methoden zur Abwehr von Arbeitnehmerforderungen erspart. Das Maß an Unzufriedenheit in den Gewerkschaften steigt aber unablässig an, wie die immer knapperen Abstimmungsergebnisse auf den Gewerkschaftskongressen zeigen.

Schon melden sich Stimmen, die für den Fall des Sturzes der rechten Führung und einer kämpferischen Politik der Gewerkschaften die demokratische Ordnung in der Bundesrepublik überhaupt gefährdet sehen. Damit soll allerdings nicht der in bestimmten Kreisen der Linken so beliebten Theorie vom individuellen Verrat der SPD- und Gewerkschaftsführer das Wort geredet werden; vielmehr ist das Erkennen der objektiven Ursachen der reformistischen Entartung Voraussetzung für jede Strategie, die nicht auf blankem Voluntarismus aufbaut.

III. Vermögensbildung

Ist es nun mit der Mitbestimmung nichts, und bringt auch die Konzertierte Aktion den „Arbeitnehmern“ nichts ein, muß sich die SPD wohl oder übel etwas anderes einfallen lassen, denn die Zahlen zur Einkommens- und Vermögensverteilung in der BRD sprechen eine deutliche Sprache. Die beunruhigendste Tendenz ist zweifellos darin zu sehen, daß bei ständiger relativer Zunahme der unselbständig Beschäftigten, also der Lohn- und Gehaltsempfänger, in den letzten Jahren die Lohnquote (der Anteil des Einkommens aus unselbständiger Arbeit, gemessen am gesamten Volkseinkommen) um einige Prozent gesunken ist.

Das bedeutet nicht weniger als daß bei langsam weitersteigendem oder stagnierendem Lebensstandard der Anteil der Lohn- und Gehaltsempfänger bei der Verteilung des Sozialprodukts sich verringert, also eine fortschreitende relative Verarmung gegenüber den Besitzenden festzustellen ist. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, daß der Gewinnanteil des Kapitals bei jedem Produktivitätsfortschritt größer war als der an die Arbeiter weitergegebene Anteil. So erhöhte sich z.B. während der abgelaufenen Dekade die Produktivität um 71,7 Prozent, die Reallöhne der abhängig Beschäftigten stiegen aber nur um etwa 45 Prozent. Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit erhöhten sich dagegen um 85 Prozent. Der Staat tut noch ein Übriges, indem er die Steuergruppen, in die die Arbeitnehmer hineinkommen (zwischen 800 und 2000 DM) mit der höchsten Steuerprogression belegt.

Die Obergrenze dieser Zone erreichen allerdings nur die Wenigsten: etwa vier Fünftel aller Arbeiter und Angestellten verdienen im Monat höchstens 1000 DM, ein Drittel muß mit weniger als 650 DM im Monat auskommen. In der Einkommensgruppe von 1300-2000 DM registriert die amtliche Statistik 1 Prozent (!) der Arbeitnehmer. Daß das Durchschnittseinkommen einer vierköpfigen „Arbeitnehmerfamilie“ dennoch 1150 DM netto beträgt, liegt daran, daß die Statistik auch die angestellten Manager, Vorstandsmitglieder, Direktoren usw. als Arbeitnehmer führt. Indessen beträgt z.B. im Fahrzeugbau das Durchschnittseinkommen eines Vorstandsmitglieds rund das 30fache des allgemeinen Durchschnittseinkommens, im Einzelhandel sogar das 50fache. Rund 1000 Großverdiener stecken jährlich je etwa 3,8 Millionen Mark in die Taschen. 70 Prozent der Produktionsmittel sind im Besitz von 3 Prozent der Bevölkerung.

Auch angesichts dieser Tatsachen hält die SPD weiterhin am Glauben fest, soziale Gerechtigkeit über die Distribution herstellen zu können. Das neue alte Rezept heißt „Vermögensbildung“. In der neuesten Version sieht es so aus:

Die Großbetriebe müssen sich verpflichten, einen Teil ihres Ertrages für die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand aufzuwenden. Dieser Teil der Unternehmensgewinne würde den Arbeitern aber nicht etwa ausbezahlt, sondern als Beteiligungskapital gutgeschrieben. Die Arbeitnehmer könnten lediglich die Rendite dieses Eigentums realisieren, nicht aber das Kapital selbst; im Falle wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Unternehmens müßte das Beteiligungskapital obendrein noch zur Deckung der Verluste herangezogen werden. Nach den Urhebern dieses Plans, Georg Leber und Bruno Gleitze, würden jährlich etwa 4 Milliarden DM Vermögen auf diese Weise gebildet.

Ziel ist, einen Teil der neugeschaffenen Werte in Arbeitnehmerhand gelangen zu lassen, der Besitzstand des Kapitals bliebe nicht nur unverändert, sondern würde ebenfalls weiter wachsen. Kanzleramtsminister Ehmke ging schon 1969 mit dem Wahlschlager auf Tournee, ein Arbeitnehmer werde so in die Lage versetzt, in 8-10 Jahren durchschnittlich 10.000 DM „Vermögen“ anzusammeln. Zynischer geht es kaum: was fängt ein Arbeiter mit einem Vermögen von 10.000 DM an, wenn er zum Kauf einer Wohnung oder eines Häuschens das zehn- bis zwanzigfache benötigt? Was er erhält, ist eine elende Prämie, alles andere als ein Vermögen.

Die Armseligkeit dieses Planes bewog schließlich selbst den mit Fragen der Vermögensbildung beschäftigten Staatssekretär Rosenthal, selbst Multimillionär, aus Protest zurückzutreten.

Eine zweite, noch weniger aussichtsreiche Variante wurde von dem verstorbenen Frankfurter Oberbürgermeister Walter Möller und dem als linksradikal geltenden SPD-Unterbezirk Hessen-Süd vertreten. Sie sieht vor, Teile des Unternehmensgewinns einem staatlich verwalteten „Sozialfonds“ zuzuführen, der Anteilscheine an Personen mit niedrigem Einkommen auszugeben hätte, die einen hohen Sozialbonus abwerfen sollten. Das Fondsvermögen soll zur Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben verwendet werden. Es sollten aber auch Rücklagen zur Stützung der Konjunkturprogramme gebildet werden und Maßnahmen zur Hebung der Massenkaufkraft getroffen werden.

Beiden Plänen ist gemeinsam, daß sie nur geringe Teile der Unternehmensgewinne erfassen, die Unternehmenspolitik kaum beeinflussen und angesichts der Widerstände des Wirtschaftsministers kaum Aussicht auf Erfolg haben. Denn der verkündet unablässig, daß jede Kürzung der Unternehmerprofite des Teufels ist, weil sie Investitionen und Wachstum gefährde, Arbeitslosigkeit erzeuge und und ...

Die Haltung Schillers stellt denn auch die tendenzielle Überwindung der Distributionsideologie in Aussicht, indem sie ihre völlige Unrealisierbarkeit aufzeigt. Das Nachdenken darüber, ob die Sozialdemokratie damit sich selbst als soziale, wenn schon nicht sozialistische, Institution aufhebt und endgültig zu einer Agentur des Kapitals wird, oder den hundertjährigen Irrtum besser eingesteht und den sicher dornenvollen Weg geht, in den Produktionsverhältnissen den Hebel zu aller sozialen Umgestaltung zu sehen, sollte man aber nicht Karl Schiller überlassen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1972
, Seite 21
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Lothar Mayer:

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