Context XXI » WWW » CONTEXTXXI Nº 1 » Books, Periodicals & Links » Periodicals etc. » Bulletin des Republikanischen Clubs — Neues Österreich
Martin Schenk

Zum Teufel mit Eurer political correctness!

Die Scheu vor der selbstbewußten und konfliktreichen Gesellschaft

Der Autor schrieb dieses Kommentar vor der herbstlichen Regierungskrise, anläßlich der Sommerinterviews mit Haider.

Wir öffnen den Deckel der Kiste politischer Alltgastheorien und ziehen den intellektuell-liberalen Bestsellersatz heraus: „Das ist die Bewegung der kleinen Leute, des Kleinbürgertums und der sozial Deklassierten“, also zusammengefaßt: der armen Dummen oder der dummen Armen.

Was die rassistische Einstellung und Praxis betriftt, eines der bewegenden Herzstücke europäischen Rechtspopulismus, ist der Faktor „Armut“ kaum aussagekräftig. Es ist gerade die aufgestiegene Mittelschicht, die sichtbare Armut befremdet, weil letzteres die Unsicherheit des erworbenen Standards beunruhigend ins Blickfeld rückt. Die sogenannten Modernisierungsverlierer neigen nicht mehr zu ausgrenzenden Maßnahmen gegen Menschen südländischer Herkunft als gesicherte Angestellte oder hohe Beamte. Sie sagen nur offen „Ausländer raus!“, so mancher Maturant hat gelernt, was moralisch erwünscht und intellektuell erlaubt ist. Entlang des Faktors „Bildung“ läuft die Linie von offener zu verdeckter rassistischen Einstellung. Die völkische Koppelung von Menschen- und Bürgerrecht an die Kenntnis vom Grünen Veltliner oder Maria Theresias Kinder hat sich in die Mitte unserer Gesellschaft vorgearbeitet, abendländisches Elitebewußtsein trotzt inmitten der „Festung“, sitz im „Schiff“, wohnt im „Haus“, auf der „Insel“, WIR sind unser „Körper“, während draußen das „Chaos“ herrscht, „Fluten“ uns bedrohen, der „Dschungel“ und die „Wüste“ beginnt, „Turbulenzen“ bemerkbar sind, „Viren“ und „Gift“ unsere Gesundheit gefährden.

Arm und dumm taugt noch nicht für eine profunde Analyse. In den mir bekannten Populismus-Studien zeigt sich erst der Faktor „Ohnmacht“ als durchgehend aussagekräftig für den Ruf nach einem starken Mann. Das Gefühl, das Steuerrad des eigenen Lebens nicht mehr in eigenen Händen zu halten; die Perspektive, keine Perspektive eigenen Handlungsspielraums zu erkennen, das macht unzufrieden. In rebellierender Selbstunterwerfung matschkert ein ganzes Land — nicht arm, nicht dumm, nur handlungsgelähmt. Das Identitätschamäleon Haider, vom Staatsmann zum Lederjacken-Freak in 5 Sekunden, hebt die Orientierungslosigkeit im Supermarkt der Männerbilder auf — mit ihm kauft man alle in einem Pack.

Die journalistischen Kämpfer gegen das Böse in Jörg schlagen ihm im Sommerinterview die Hintertür auf: Schöner sprechen, Herr Haider! „Das Problem ist weniger Ihre Kritik als die Wortwahl“, rät ihm der Standard. „Warum müssen Sie, wenn Sie in der Sache recht haben, dennoch so aggressiv sein?“ fragen quasi rhetorisch die Salzburger Nachrichten. Die inhaltliche Auseinandersetzung wird völlig geschenkt, der Wettstreit der Argumente der political correctness geopfert. Haben wir uns mit der völkischen Aussetzung der Menschenrechte abgefunden? Österreicher mit türkischem Reisepaß abschieben, weil sie arbeitslos gesetzt wurden, welche Wortwahl paßt dazu? Der kalte Paragraphentext am Ausweisungsbescheid wirkt im selben Maße wie die rassistische Hetze im Bierzelt. In der Sache haben beide unrecht, wenn wir davon ausgehen, daß der Mensch nicht durch Zugehörigkeit zu einer „Kultur“, sondern durch sein Mensch-Sein an sich fundamentale Rechte erwirbt.

Mich selbst sorgt besonders die listige Umkehrung des Solidaritätsprinzips. Die behauptete Teilung des Landes in „Schmarotzer“ und „Anständige“ dreht die Verantwortung Priviligierter für Benachteiligte einfach um. Gleichzeitig fungiert der Solidaritätsbegriff als Ausschlußmittel gegen jene, die der Solidargemeinschaft nicht zugerechnet werden.

Die These vom bösen Wort, dem die böse Tat folgt, ist möglicherweise das Problem, das dessen Herolde zu bekämpfen vorgeben. Vielleicht kommt nach der bösen Tat das gute Wort: Mitten in der gefrässigen Wolfsgesellschaft „Solidarität“ in aller Munde.

Zum Teufel mit Eurer political correctness! Menschenrechte oder Solidarität brauchen inhaltliche Schärfe und symbolische Zuspitzung; ab jetzt nicht so viel Lichter-mehr, sondern organisierte Widerstandsformen dort, wo Menschenrecht gebogen und sozial Benachteiligte übergangen werden.

Die Marktgesellschaft ist nicht ident mit der zivilen Gesellschaft — wie Claus Leggewie mißverständlich behauptet — vielmehr entstehen aus ihr Widerstandspunkte dort, wo herkömmlicher ökonomischer Begründungsdiskurs solidarisches Handeln als unvernünftig denunziert. Das soziale Netz, das Menschen auch untereinander knüpfen können, ersetzt den Sozialstaat nicht, es fordert ihn heraus.

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1995
Autor/inn/en:

Martin Schenk: Obmann von SOS Mitmensch, Psychologe.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen