MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 55
Ulrike Sladek
Fremdenverkehr:

Wo sich Polen, Tschechen und Slowaken gute Nacht sagen

Still und heimlich ist ein neues Touristen-Center in der Touristenstadt Wien entstanden. Es steht in keinem Zusammenhang mit der Weltausstellung 1995, hat keine Milliardenbeträge verschlungen und ist auch sonst wie die ganze Stadt im allgemeinen: anders als die anderen.

Busparkplatz Handelskai: Urlaub mit Gewinn

Im Zeitalter der Beschleunigung sind aus der Spezies der Reisenden hauptsächlich Touristen geworden, einerlei, ob es sich dazumals um Urlaubsreisende, Handelsreisende oder Reisende aus romantischer Liebe gehandelt hat. Sie treten in Mengen auf, haben eine gemeinsames Reiseziel und werden dorthin in Mengen transportiert, wo schon eine Menge Leute darauf warten, mit ihnen eine Menge Geld zu machen. Auch die sogenannten Individualtouristen müssen ihr Schicksal mit einer großen Zahl Gleichgesinnter teilen.

So können Urlaubsziele, wohin Touristen fahren, um Vergnügen zu haben, sehr leicht ihre Chance wahrnehmen, zu Touristenzentren zu werden, weil viele Touristen das gleiche Vergnügen beim Besichtigen der gleichen Gebäude haben oder glauben, haben zu müssen oder ganz einfach, weil es mehr Spaß macht, mit vielen Artgenossen am gleichen Badestrand des gleichen Längen- und Breitengrades sich dem Ozonloch auszusetzen. Touristenzentren sind also Orte oder Gegenden, die von Touristen bevorzugt aufgesucht werden und deren Wirtschafts- und Infrastruktur sich daher auf die angeblichen oder tatsächlichen Wünsche der Touristen spezialisiert haben. Fest steht, daß Tourismus mit etwas zu tun hat, wo der ‚Gast‘ für sein Vergnügen, woanders zu sein, bezahlt, und der Wirt für das Vergnügen bezahlt wird, einen Gast zu beherbergen. Ganze Industrien sind dadurch entstanden, und in manchen Ländern werden deren Geschäfte von einem eigens dazu bestellten Minister überwacht.

Ein Dach über dem Kopf ist aber noch nicht alles, was der Tourist wünscht. Sein Bedürfnis besteht auch darin, die Kultur des fremden Ortes kennenzulernen, wofür er natürlich bezahlt. Er will unterhalten werden und Souvenirs (Erinnerungen) sammeln, und ist auch dafür bereit, zu bezahlen. Das Ganze nennt sich Umwegrentabilität des Fremdenverkehrs.

Nun verkehren aber in Österreich Fremde — und seit der Öffnung der Grenzen der ehemaligen Ostblockländer werden es immer mehr —, die Umwege scheuen und außerdem die Rentabilität auf ihrer Seite wissen wollen. Viele von ihnen steuern geradewegs auf die Wienerstadt zu und brauchen kein Zimmer für sich allein, denn sie haben ein Auto oder einen Autobus, in dem sie schlafen können.

Jede andere Weltstadt wäre ob dieses Affronts gegen ihre gastfreundlichen Bemühungen beleidigt oder zumindest enttäuscht. Doch hier zeigt sich, daß Wien wirklich das hält, was es verspricht:

Wien ist anders

Oh Autofahrer, kommst du nach Wien, so entdeckst du im Werbeschilderwald entlang der Highways auch Tafeln, die dir ein freundliches Willkommen bereiten: Wien ist happy, daß du kommst! Während die Freudenkundgebungen im Westen der Stadt noch mehrsprachig abgefaßt sind — frankophon und anglophil, wie Wien nun mal ist, will es englisch- und französischsprachigen Fremden die peinliche Entdeckung ersparen, nicht deutsch zu verstehen —, prangt an der Osteinfahrt gar: Wien ist, wo man eintaucht ohne unterzugehen. Wenn das kein attraktives Angebot ist! Keine Vorspiegelung der Zungenfertigkeit in anderen Sprachen ist hier zu sehen, die Bildung der werten Gäste aus dem sogenannten Osten wird so hoch eingeschätzt, daß ungarische, tschechische, slowakische oder polnische Aufschriften geradezu eine Zumutung darstellten.

Doch die Reisenden, deren Fortbewegungslust jahrelang am „Eisernen Vorhang“ eine unüberwindliche Grenze vorgefunden hat, geben sich mit dieser vornehmen Zurückhaltung nicht zufrieden. Sie fühlen sich unerwünscht und ziehen die Konsequenzen: Sie bleiben unter sich. Sie baden sozusagen, ohne naß zu werden, ganz im Sinne des von der Stadtverwaltung vorgeschlagenen Tauchexperiments. My car is my castle (Mein Auto ist meine Burg) — noch dazu eine mobile Burg, die bloß 6 qm Bodenfläche benötigt und bis zu fünf Personen Obdach gewähren kann.

Hilflos und argwöhnisch sieht das goldene Wienerherz der Verkehrs-Wirtschaft dieser Fremden zu und räsonniert, ob jene Touristen denn auch wirklich Touristen wären, da sie sich genau proportional umgekehrt zum Bild des erwünschten Gastes verhalten: Sie verbinden das Angenehme der Freizügigkeit mit dem Nützlichen des Hartwährungserwerbes. Sie begeistern sich nicht für die unermeßlichen Schätze der Wiener Kultur, sondern bringen im Gegenteil Kulturgegenstände aus ihrer Heimat mit.
Ergebnis: Den ortsansäßigen Dienstleistungsbetrieben im Namen des Gastes entgeht ein Geschäft, und die Müllabfuhr hat viel zu tun. So war das Eintauchen ohne Unterzutauchen wohl nicht gemeint.

Das Angenehme mit dem Nützlichen des Gelder­werbs verbinden

Wenn Worte herzlicher Gastfreundschaft nutzlos sind, laß Taten sprechen, dachten sich wohl die Gemeindeväter, eines Sinnes mit der fremdenfreundlichen Bevölkerung, und installierten ein ‚Tourist-Center‘ für unsere Freunde und Freundinnen aus jenen östlichen Regionen, das genau auf deren Bedürfnisse bzw. deren Bedürfnislosigkeit abgestimmt ist.

Offiziell wird dieser ansprechende, geradezu attraktive Lagerplatz als Busparkplatz Handelskai ausgewiesen. Er befindet sich dort, wo auf der Straßenkarte der Wienerstadt ein unberührter weißer Fleck, genannt Schögerhaus Lände, verzeichnet ist. Begrenzt wird er im Norden von der schönen blauen Donau, sodaß die p.t. Gäste Gelegenheit haben, ein morgendliches Schwimmbad im erfrischend kühlen Naß zu genießen. Im Westen zeichnet sich die romantische Anlage des Frachtenbahnhofs Donaukai am Horizont ab, und vom Osten wehen die Küchendüfte eines Fischrestaurants auf das Gelände. Im Süden letztendlich schließt die idyllische Hafenzufahrtsstraße das Tourist-Center ab. Kurz und gut, wer das ursprüngliche Einssein von Natur und Industriegelände genießen will, ist dort gut aufgehoben.

Auch für sanitäre Einrichtungen ist gesorgt, denn „Universale Bau“ spendete freundlicherweise zwei Baucontainer, die sich wunderschön in die Landschaft einfügen — „Damit alles ein bißchen leichter fällt“.

Vor Ort

Es ist Samstag früh. Am Vortag hatte es geregnet und die kräftige Morgensonne bringt die Restfeuchtigkeit zum Verdampfen. Doch nicht nur sie, denn die Luft ist von einem Geruchskonglomerat der besonders intensiven Sorte angereichert. Donauuferseitig steigen zarte Düfte von Urin und Fäkalien auf, neben den Bahngeleisen scheint sich eher der Campingmüll in allen Stadien der Verwesung zu befinden. Dazwischen jedoch herrscht reges Treiben. Es verspricht, ein heißer Sommertag zu werden. Offensichtlich war die letzte Nacht ruhig verlaufen und der lange Arm des Gesetzes hatte keine Schlafstörungen verursacht. Immer häufiger soll es in letzter Zeit vorgekommen sein, daß Abordnungen von Zoll, Marktamt und Polizei Autos und Zelte äußerst genau durchsuchten, um Zigaretten- und Alkoholschmugglern auf die Schliche zu kommen. Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs sind von solchen Kontrollen nicht betroffen, und wenig anderes ist auf dem, dem Tourist-Center angeschlossenen Schwarzmarkt käuflich zu erwerben.

Kurz vor neun Uhr morgens sind die letzten Schlafmützen erwacht und beginnen, ihre Habseligkeiten dekorativ auf Pappkartons und Kühlerhauben zu arrangieren. Ob die Nacht eine erholsame war, ist zu bezweifeln. PKW- und Autobusverkehr sowohl auf der Hafenzufahrtsstraße als auch am Parkplatz bringen den Boden zum Schwingen, auf den die Touristen ihr müdes Haupt gebettet hatten. Die Verschubtätigkeit der ÖBB auf den nahegelegenen Gleisen tut ein übriges, um die Lärmentwicklung nicht abflauen zu lassen. Wenn die VerkäuferInnen dann allerdings neben ihren Waren stehen, sind ihnen die Strapazen der Nacht und der Mangel an Waschgelegenheiten nicht anzusehen.

Schwarzmarkt als soziales Netz: Von Armen für Arme

Das Angebot ist vielfältig. Es reicht von Kopfkissen und Bettdecken über Geschirr- und Badetücher, Haushaltsgeräten, Tafel- und Kaffeeservice über Werkzeuge aller Art bis zu Jogging-Anzügen und Turnschuhen. Ein junger Tscheche aus der Nähe von Budweis bietet Thermosflaschen in vielen Farben an. Um nur vierzig Schilling. Der Preis ist, wie bei fast allen Menschen hier, das einzige, was er auf deutsch sagen kann. Viel Gestikulieren ist notwendig, um zu erfahren, daß er alle zwei Wochen nach Wien fährt. Er ist auch einer der wenigen, die sich überhaupt gesprächsbereit zeigen. Den meisten sitzt das Mißtrauen im Nacken — zu oft haben in letzter Zeit Razzien stattgefunden, im Zuge derer die Handelsgegenstände vom Zoll und vom Marktamt konfisziert wurden.

Der Billigstmarkt hier hat mehrere Funktionen. Zum einen dient er der Versorgung der finanzschwachen ‚ausländischen‘ Bevölkerung Wiens. Egal, ob sie im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft sind oder nicht, TschechInnen, SlowakInnen und PolInnen decken sich hier bei ihren Landsleuten günstig mit Gebrauchsgütern ein, auch manche TürkInnen sind hier zu sehen. Die VerkäuferInnen kommen so in Besitz der begehrten Schillinge, um dann in den Diskontläden rund um den Mexikoplatz Kaffee und jene elektronischen Geräte zu kaufen, die in ihren Herkunftsländern Mangelware oder unerschwinglich sind. Auch manche Flohmarktdauerstandler vom Naschmarktgebiet nützen die Gelegenheit, sich hier am Handelskai billig mit Waren einzudecken, um sie am nächsten Samstag verteuert den West-Touristen im Zentrum der Stadt zu verkaufen.

Hauptsächlich dient aber die illegale Handelstätigkeit am Donauufer der Versorgung von AusländerInnen durch AusländerInnen, dient als soziales Netz für jene, die von den ‚Segnungen‘ des Sozialstaates ausgeschlossen werden.

Von Häkeldecken ...
... bis Plastikpanzer — ein breites Angebot

Noch immer bin ich eine der wenigen Deutschsprechenden auf dem Markt, entdecke noch Butter und Käse, letzterer von der geräucherten Sorte, deren Verpackung trotz der starken Sonneneinstrahlung noch nichts an Festigkeit verloren hat. Dreißig Schilling für ein Kilo, das kein Kilo ist, aber immer noch mehr, als in Restwien um diesen Preis zu kriegen ist. Ein junger Mann ist gerade dabei, kleine Lackschäden an seinem roten Polski-Fiat mit Nagellack in der passenden Farbe auszubessern, und ein kleiner Bub preist lauthals Cola und Fanta an. Nach einem weiteren Rundgang beschließe ich, in der Stadt unterzutauchen, was mir als Wienerin gebührt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1990
, Seite 58
Autor/inn/en:

Ulrike Sladek:

Kulturwissenschafterin in Wien.

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Geographie