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Dirk Rupnow

Wir sollten Lueger nicht auf seinem Sockel stehen lassen

Wir sollten Lueger nicht auf seinem Sockel stehen lassen
Geschichte. Ein Denkmal über alle Zeiten für vollkommen
unantastbar zu erklären negiert Geschichte und sich wandelnde
Einschätzungen.

Heißt, so ein häufiger Einwand, die Entfernung Luegers von seinem
Podest auf dem Wiener Stubentor (Dr.-Karl-Lueger-Platz) zu fordern,
Geschichte zu ändern oder unsichtbar zu machen, etwas unter den
Teppich kehren zu wollen? Etwa Luegers Antisemitismus, den er als
einer der Ersten als politische Waffe einsetzte, oder den
Antisemitismus danach, einschließlich den seines Verehrers Adolf
Hitler, mit den bekannten Folgen? Oder gegenwärtigen, wieder im
Aufwind befindlichen Antisemitismus?

Warum sollten wir nur darüber reden können, so lang Lueger
unangetastet auf seinem Sockel steht? Gibt es nicht täglich genügend
Anlässe dafür: antisemitische, aber auch rassistische Ausfälle und
Übergriffe? Ein Denkmal zu demontieren heißt vielmehr, dass wir eine
historische Person nicht mehr einer öffentlichen Ehrung für würdig
befinden. Gerade ein Denkmal über alle Zeiten für vollkommen
unantastbar zu erklären negiert Geschichte, Veränderung und sich
wandelnde Einschätzungen, aber auch den historischen Kontext der
Errichtung.

Ist Antisemitismus verzeihlich?

Man stelle sich vor, man hätte 1945 bei der Entfernung der
NS-Symbole „Cancel Culture“ geschrien, ihre Erhaltung gefordert, um
eine Aufarbeitung zu ermöglichen. Damit Geschichte nicht unsichtbar
gemacht werde. Eine absurde Vorstellung. Der Vorwurf der Cancel
Culture ist in vielen Fällen nichts anderes als ein polemischer
Versuch, Debatten und Veränderungen zu unterbinden. Niemand hat vor,
so zu tun, als wäre nichts gewesen. Eine zukünftige Nutzung des
Lueger-Platzes muss ja gerade auf die Vorgeschichte von Örtlichkeit
und (dem dann ehemaligen) Namensgeber eingehen, um ihr etwas
entgegenzusetzen.

Natürlich, so ein anderer Einwand, Lueger ist nicht Hitler. Aber
darf abwärts von Hitler alles intakt bleiben? Zudem: Es gab auch
noch viele andere Nicht-Hitlers, die aber antisemitisch bzw.
antijüdisch waren: Maria Theresia, die am Ring zwischen den beiden
großen Museen thront und 1744/45 die Vertreibung der Juden aus Prag
anordnete; oder Kaiser Leopold I., der 1670 die Wiener Juden aus der
Stadt ausweisen ließ, weshalb gleich ein ganzer Stadtteil nach ihm
benannt wurde; und was ist mit Richard Wagner, der ein
entscheidender Akteur bei der Etablierung des Antisemitismus im 19.
Jahrhundert war und nach dem ein Platz in Ottakring benannt ist? Hat
jemals jemand behauptet, alles wäre geklärt und erledigt, wenn die
Frage, die das Lueger-Denkmal an uns stellt, beantwortet ist? Aber
ergibt es umgekehrt Sinn, das Lueger-Denkmal intakt zu lassen, bis
alle anderen Fragen geklärt sind, also wohl für alle Zeit?

Schließlich wären da noch die guten Taten:
Hochquellwasserleitung, Gas- und Elektrizitätsversorgung,
Straßenbahnen, Sozialeinrichtungen. Wie bei Hitler die Autobahnen.
Können sie rabiaten Antisemitismus aufwiegen? Ist Antisemitismus
verzeihlich, also ein Kavaliersdelikt? Dann sollten wir heute
allerdings lieber keine Nulltoleranz gegenüber Antisemitismus
fordern. Man könnte uns leicht Doppelstandards vorwerfen.

Es ist eine globale Debatte

Wichtig ist: Wir führen nicht nur eine Wiener Debatte über Lueger
auf seinem Podest auf dem Stubenring. Wir nehmen teil an einer
globalen Debatte, wie mit Denkmälern umzugehen ist, die uns
mittlerweile fragwürdig erscheinen, die Teile der Bevölkerung
beleidigen, die nicht unsere Werte widerspiegeln. In Bristol wurde
im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung der Sklavenhändler Colston
vom Sockel gestoßen, der der Stadt zu Wohlstand verholfen hatte. In
London wurde sogar eine Statue Churchills angegriffen, der immerhin
Hitler besiegt hat: wegen rassistischer Anschauungen und seiner
Rolle im britischen Imperialismus. Natürlich kann man mit dem
Verweis auf den Denkmalschutz jede Veränderung verunmöglichen. Aber:
Wir akzeptieren damit unwidersprochen geschichtspolitische Maßnahmen
und Setzungen früherer Zeiten - und berauben uns weitgehend der
Möglichkeit eigener Akzente im öffentlichen Raum.

Übrigens war Lueger nicht „nur“ Antisemit. Er spielte
unterschiedliche Gruppen in der Stadt gegeneinander aus. Vor allem
beharrte er darauf, dass Wien deutsch sei und deutsch bleiben müsse.
Um dies sicherzustellen wurde 1890 das Einbürgerungsgesetz geändert:
Bewerber mussten schwören, den deutschen Charakter der Stadt zu
erhalten. Auch diese Seite seiner Politik wirkte langfristig nach.
Im Programm der Christlichsozialen Partei aus dem Jahr 1926 - dem
Jahr, in dem das Lueger-Denkmal am Stubentor errichtet wurde -
wurden „die Pflege deutscher Art“ und die Bekämpfung der "Übermacht
des zersetzenden jüdischen Einflusses" gefordert. Dies sind die
verschiedenen Subtexte eines Lueger-Denkmals an einem prominenten
Platz in Wien.

Wir sollten ehrlich sein: Der Kampf gegen den Antisemitismus wird
nicht im ersten Wiener Gemeindebezirk entschieden werden. Es wird
viele Maßnahmen brauchen und vor allem mehr Ehrlichkeit, wenn man
ihm nachhaltig entgegentreten will. Aber der Umgang mit dem
Lueger-Denkmal kann tatsächlich ein Symbol sein für Nulltoleranz
gegenüber Antisemitismus in unserer Gesellschaft - und ein
Bekenntnis für Diversität. Wir sollten nicht darauf warten, bis die
Platane hinter dem Denkmal sich Karl Lueger einverleibt, mithin:
Gras darüber wächst. Es braucht ein klares Zeichen, keinen
halbherzigen Kompromiss. Und nicht immer reichen Kommentierungen und
Kontextualisierungen. Erklärungstafeln können einer überlebensgroßen
Figur auf einem hohen Podest nichts anhaben. Eine künstlerische
Ergänzung oder Intervention, ohne die Figur vom Sockel zu räumen,
würde leicht zu einer weiteren Monumentalisierung führen.

Die bei Weitem klügste Rede zu diesem Themenkomplex wurde
übrigens in New Orleans gehalten, bereits 2017, vom damaligen
Bürgermeister, Mitch Landrieu, anlässlich der Entfernung von vier
Confederate Monuments, die Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts
als Zeichen weißer Vorherrschaft in der Stadt errichtet wurden:
"This is not just about statues, this is about our attitudes and
behavior as well. If we take these statues down and don’t change to
become a more open and inclusive society this would have all been in
vain. (. . .) We have not erased history; we are becoming part of
the city’s history by righting the wrong image these monuments
represent and crafting a better, more complete future for all our
children and for future generations."

Wien ist voll mit einer Erinnerungskultur, zu der wir heute
keinen Zugang mehr haben und die uns für unsere Gegenwart - vor
allem aber auch für unsere Zukunft - nichts sagt. Lueger auf seinem
Sockel stehen zu lassen ist keineswegs ein Stachel für weitere
produktive Debatten, sondern höchstens ein Symbol für unsere
Trägheit, sich der Geschichte und den gegenwärtigen
Herausforderungen unserer Gesellschaft zu stellen. Ein mutiger
Umgang mit dem Lueger-Denkmal würde einer weltoffenen Stadt gerecht
werden und ein wichtiges Signal aussenden - auch jenseits der
Stadtgrenzen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
2021
Autor/inn/en:

Dirk Rupnow:

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