MOZ » Jahrgang 1989 » Nummer 42
Birge Krondorfer

Wen wundert’s, wenn’s dann blockt

Wien gibt sich intellektuell, Österreich besinnt sich seiner geistigen Tradition, und Sigi läßt grüßen. Freuds Notiz zum Wunderblock als Beschreibung des Ortes des menschlichen Gedächtnisses, was die Seele ausmacht, ist Anlaß für das Vorzeigeprojekt der Wiener Festwochen.

Richard Dadd: Skizze für „Crazy Jane“, 1855.

Gegenüber der Vernunft ist der Wahnsinn von doppelter Art; er ist zugleich auf der anderen Seite und unter ihrem Blick.

Foucault

Nichts steht mehr einfach neben dem anderen, das Nächste ist das Entfernteste, die Verzweigungen folgen nicht aufeinander, sondern treten gleichzeitig auf und durchdringen einander. Der Eingang ins Labyrinth ist unvermittelt einer seiner Mittelpunkte, oder genauer: Wir wissen nicht mehr, ob es einen Mittelpunkt gibt, was ein Mittelpunkt ist. Dunkle Gänge führen in alle Richtungen, verbinden sich mit anderen, die — man weiß nicht, woher — kommen und vielleicht nirgendwo münden. Man hätte den Schritt nicht wagen dürfen, man hätte draußen bleiben müssen. Aber wir sind nicht einmal mehr sicher, ob wir ihn nicht immer schon getan haben, ob die gelben und weißen Flecke ... die uns in manchen Augenblicken verwirren, jemals anderswo existiert haben als auf der Innenseite unserer Augenlider. Die einzige Wahl, die uns bleibt: statt in diesen in jenen Gang einzudringen, ohne zu wissen, wohin sie uns führen mögen, ob sie uns nicht vielleicht sogar zu eben dieser Kreuzung zurückführen werden oder zu einer anderen, die dieser gleicht.

(C. Castoriadis)

Eines bißchen des Wagemuts bedarf es schon, den Schritt ins Labyrinthische der Ausstellung am Glacis zu setzen. Entweder man/frau läßt sich darauf ein oder läßt es besser bleiben. Im letzteren gewinnt man den Eindruck eines Wirrwarrs einer Kuriositätensammlung, und die MacherInnen erscheinen als die Kuriere dessen, was letztendlich — und damit beginnt die Ordnung der hier dargestellten Dinge — auf der Kur der Couch landete, der Redekur. Jene soll nach Freud das reproduzieren, was sich als Erinnerung (schmerzlich) ins Gedächtnis eingeritzt hat, verschwunden ist, aber als Spur erhalten blieb und „bei geeigneter Belichtung sichtbar“ wird, was die Arbeit des Analytikers darstellt. Am gegenüberliegenden Ende des Saals der Seele liegt der Anfang dieser Erforschungsgeschichte des modernen Innenlebens. Dort ist die Mesmersche Holztonne inmitten eines Spiegelraumes zu sehen, um die herum die Patienten gesetzt wurden, sich an den Händen zu halten hatten und durch „lebensmagnetische Ströme“ geheilt wurden. Das erinnert an heutige Formen der Bioenergetik, wobei, nicht zufällig wohl, das Produkt des Vaters dieser Therapierichtung, W. Reichs Orgonmaschine — ein Holzhäusl im übrigen —, am Eingang sich befindet. Dies spiegelt sogleich die verzweigten historio-psychischen Zusammenhänge, die auch immer zugleich die psychohistorischen sind. In einem kurios anmutenden Nebeneinander von Gemälden, dokumentarischen Fotografien und Zeichnungen sowie medizinisch-mechanischen Objekten aller Un/arten scheint es schwierig, einen Sinn, eine Logik, eine Reihenfolge zu erkennen.

So ist es unmöglich, im Durchgang wie im Beschreiben die polymorphe Vielfalt des Dargebotenen zu erfassen. Der bemerkenswerte Katalog ist dabei eher vorgebildeten Geistern dienlich, doch dadurch ausgezeichnet, daß er weniger ein Bilderbuch denn ein Lesebuch darstellt.

Die Seele zwischen Apparat und Ästhetik

Die Epilepsie, die Hysterie und viele andere krankhafte Zustände sind wie ebensoviele Sphinxe, welche der gründlichsten anatomischen Forschung Trotz bieten.

(J. M. Charcot)

Das Augenfällige ist die Zusammenstellung von Kunst(geschichte) und der Geschichte der Techniken der Seelenerkundung. Dem Gerücht nach sollen sich einige Museen geweigert haben, ihre Kunstwerke zu verleihen, wenn sie neben obskuren Gerätschaften zu sehen wären. Dies verweist ex-akt auf den Scheinwiderspruch von einer reinen Ästhetik, einer puren Technik und einer Psycholehre und ihrer jeweiligen Anwendungen. Dabei wird zumeist der gemeinsame Entstehungszusammenhang in den letzten zwei Jahrhunderten übersehen. Im 19. Jahrhundert beispielsweise standen sich mechanistische Welt- und Menschenvorstellungen und der romantisch schwärmerische Begriff der Seele „als einem weiten Land“ nicht nur gegenüber. Wem nur Werthers Leiden einfallen, der vergißt die „heilsamen“ Torturen, denen die „Irren“ beispielsweise in Form von Eiswasserschocktherapien und sonstigen körperlichen Exorzitien ausgesetzt waren. „... es verwundert doch, wie sehr die romantische Naturphilosophie in ihrer Wirkung, das naturwissenschaftliche Denken im beginnenden 19. Jahrhundert populär und verpflichtend gemacht zu haben, unterschätzt und mißachtet wurde. Natürlich hatte die erneute Aufnahme der Idee einer ‚Weltseele‘ spekulativen Charakter, aber die romantische Naturphilosophie erschöpfte sich darin nicht. Sie knüpfte darüber hinaus enge Beziehungen zur Naturwissenschaft ihrer Zeit, insbesondere zum Galvanismus; dieser sollte einer Theorie des Lebens dienlich werden. ... die experimentelle Psychologie ... gewinnt einen über die Mechanik weit hinausgehenden Status in einem energetischen Spiel, das es erlauben wird, den menschlichen Körper und seine Seele nicht nur als Energiemaschine, sondern auch als informationsverarbeitende Maschine zu lesen. ... Jeder vom Apparat abgegebene physische Reiz wird eine physiologische Empfindung auslösen, deren Rückmeldung aber nur über eine symbolische Codierung möglich ist, welche schon der ganzen Experimentalsituation vorausgesetzt ist...“ (W. Pircher, Katalog).

Nebenbei vermerkt sollten sich dieses Mal sämtliche Experimentalpsychologen vergegenwärtigen.

In jenem Jahrhundert waren also, als Entstehungsbedingung der Moderne, nicht nur alle Länder erobert, sondern nun sollten auch die Körper und die Seelen und was man dafür hielt — erobert werden. Der Körper als Maschine und die Seele als Apparat mündete noch in Freuds neurologischer Vorstellung von der inneren Konzeption des Menschen.

Auf der anderen Seite erlaubte die Kunst nicht nur die Flucht ins Reich der Phantasie, sondern stellte selbst die Vorstellungen der inneren wie äußeren Wirklichkeit ins Bild. Die Kunst selber schrieb die moderne Seele fest. „Die Gesetze der Kunst und die Verbindung der Wissenschaften sind in ihrem innersten Wesen mechanisch und also göttlich. Auch die Gesetze der Seele desgleichen“ (F. Schlegel).

Das widerläuft dem Alltagsverstand und der Einteilung des Wissens, die die Kunst in eine ihr eigentümliche Sphäre verbannen. Die heutzutage angelegte Ununterscheidbarkeit von Kunst und Technik (in Geräten und der Dingproduktion) bis hin zur Werbung und ihrem psychologischen Kalkül wäre somit auch ein Ausfluß jener szientistisch-ästhetischen Wahrnehmungen. Als Einspruch dazu läßt sich noch die Exterritorialität der Seele denken, die in ihrer Nichtverortbarkeit einer Ordnung der Vernunft widerspenstig bleibt — ähnlich wie die Kunst das Abwesende, die Einbildungskraft (auch als gesellschaftsentwerfende Utopie) wahrnimmt und wachhält.

Die schwarzen Seiten der Medaille

... eine Annäherung an den männlichen Typus, die den Kern der kriminellen Charaktere des Weibes ausmacht. Die Tragweite und atavistische Bedingtheit dieser Anomalie erhellt besonders daraus, daß die Virilität ein spezifischer Charakter der Weiber wilder Stämme ist.

(C. Lombroso, 1894)

Die Ausstellung muß sich einen zwiefachen Vorwurf gefallen lassen: den der historizistischen und den der positivistischen Darstellungsweise. Für den unaufgeklärten Besucher zumindest könnte es diesen Effekt haben. Historistisch im Sinne eines Sammelsuriums ohne Hinweise auf Verstehens- und Deutungsmöglichkeiten, nicht nur bezüglich der geschichtlichen Einordenbarkeit, und positivistisch im Sinne einer reinen Darstellung ohne Verweise auf die Nachtseite der Wissenschaften vom Menschen als Herrschaftswissen und dessen Praktiken. Die Historie der Seelenwissenschaft war immerhin auch eine der Machtpolitik (nicht nur erst seit Foucault) und entwickelte nicht zuletzt die eugenischen Lehren faschistischer Prägung. Diese Seite, ebenso wie der Aspekt des Zugriffs und der Hinrichtungen des Weiblichen als Bedenkliches, Gefährliches (Paradebeispiel: Hysterie) und der „Heilungsarten“ von Patientinnen, wird lediglich angedeutet und als Nacht- bzw. Schattenseite viel zu wenig expliziert. Somit wird die schwarze Folie als Definitionsraster der folie (franz: Verrücktheit, Wahnsinn) weiterhin verschwiegen. Andererseits könnte die Präsentationsform, das einfache Ausstellen (denn im Prinzip sind alle Aspekte vorhanden) schon von sich aus den Wahnsinn des Sinns vor Augen führen. Das allgemeine Problem von Darstellbarkeit selbst — ob nämlich durch die museale Form der Repräsentation in ordentlichen Schaukästen nicht immer schon eine Verästhetisierung stattfindet — ist hier besonders prekär. Die dadurch produzierte Beschaulichkeit des Schreckens und der Irrtümer der (Wissenschafts-)Geschichte bedürfte eines kritischen Leitfadens im Raum selber. Doch der Verzicht auf kritisch-pädagogische Aufklärung könnte andererseits eine vehementere Wirkung der nackten Tatsachen provozieren. Das bleibt letztendlich unentscheidbar. Empfehlungsschreiben für BesucherInnen lassen sich nicht ausstellen.

Was sicher bleibt, ist der Schwindel, der eine/n bei diesem Aufenthalt befällt. Er mag dem Schwindel entsprechend sein, der jeder Psychotherapie inhärent ist — ebenso wie dazumals diese Drehtonne, in welche die/der Kranke hineinverfrachtet wurde, um durch das Gedrehtwerden bis zum Brechreiz schwindelerregend geheilt werden sollte.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1989
, Seite 57
Autor/inn/en:

Birge Krondorfer:

Politische Philosophin und feministische Aktivistin. „Freie“ Lehrende für Bildungs-, Kultur-, Genderwissenschaften seit 1990 an inter/nationalen Universitäten. Veröffentlichungen zur Theorie- und Praxisbildung der Geschlechterdifferenzen. Organisierung von Frauengroß- und kleinkonferenzen seit 1985. Mitgründung und ehrenamtlich tätig in der Bildungsstätte Frauenhetz/Wien und im VfW. Tätig in der Erwachsenenbildung; zertifiziert in Groupworking, Supervision, Mediation, Interkulturelles Training.

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