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Gerhard Jordan • Klara Rajki

Ungarns „Amoklauf in die NATO“

Am 16. November 1997 stimmte die ungarische Bevölkerung bei einem Referendum mit überwältigender Mehrheit für den NATO-Beitritt ihres Landes.

Die Volksabstimmung

Am Abstimmungstag waren 3.327.118 UngarInnen (85,3 %) für einen Beitritt zur NATO und nur 572.084 (14,7 %) dagegen. Die Beteiligung betrug nur knapp über 49 %. Damit wäre an sich das Referendum ungültig, weil die 50 %-Marke nicht erreicht war. Da jedoch mehr als 25 % der Stimmberechtigten sich für die gleiche Antwort (nämlich „Ja“) entschieden, war die Gültigkeit doch gegeben. In West- und Südungarn war die Zustimmung etwas größer als in den östlichen Teilen des Landes.

Zum Ergebnis muß angemerkt werden, daß alle Parlamentsparteien – also die regierenden Sozialisten (Ex-Kommunisten) und ihr liberaler Koalitionspartner SZDSZ (Bund Freier Demokraten) wie auch die konservative Opposition aus MDF (Ungarisches Demokratisches Forum), Kleinlandwirtepartei, Christdemokratischer Volkspartei und den rechtsliberalen Jungdemokraten (FIDESZ) – dezidiert für ein „Ja“ eingetreten waren, dazu noch der Staatspräsident, der Klerus, die Gewerkschaften und praktisch das gesamte Medien-Establishment. Parallelen zur österreichischen EU-Abstimmung 1994 drängen sich auf.

Der Fragestellung der Volksabstimmung – „Sind Sie damit einverstanden, daß die Republik Ungarn die Verteidigung des Landes durch den Beitritt zur NATO sichert?“ – ist eine suggestive Tendenz nicht abzusprechen. Alle Parlamentsparteien Ungarns sind für die NATO eingetreten. Insgesamt hat die Regierung in Budapest 280 Millionen Forint (knapp 16 Millionen Schilling) für die NATO-Propaganda ausgegeben. Alleine 147 Mio betrug das Budget des sogenannten „NATO-Kommunikationsbüros“ im Außenministerium. Die Gruppen, die für eine Allianzfreiheit Ungarns eintraten, hatten nicht einmal ein Zehntel dieser Mittel zur Verfügung.

Die BefürworterInnen eines NATO-Anschlusses diagnostizierten ein „sicherheitspolitisches Vakuum“ nach dem Abzug der Sowjet-Tuppen 1991, appellierten an das Zugehörigkeitsgefühl zur „westlichen Welt“, suggerierten, daß ein Nichtbeitritt ein Absinken auf „Balkanniveau“ und eine Rückkehr des Landes in die russische Einflußzone zur Folge haben werde, stellten für den Fall des Beitritts ein Berufsheer und somit die Abschaffung der Wehrpflicht in Aussicht und versuchten immer wieder, einen Beitritt zur NATO als notwendige Vorbedingung für den ersehnten EU-Beitritt darzustellen.

Karikaturen aus: Tamós Csapody und Làszló Vit, „Ámokfutás a NATO-ba“

Die NATO-GegnerInnen

Unter den NATO-GegnerInnen befanden sich pazifistische Gruppen wie Alba Kör und katholische Basisgemeinden, feministische (Zöld Nök – Grüne Frauen) und anarchistische Gruppen, kleine linke Jugendorganisationen, die von einigen Intellektuellen ins Leben gerufene Társadalmi Koalició („Zivile Koalition für eine humane Politik“), eine Stiftung für das neutrale Ungarn und die (nicht im Parlament vertretene) Grüne Alternative, die kurz vor der Abstimmung in einer Pressekonferenz ihre Gegnerschaft zur NATO kundtat.

Als Problem für die GegnerInnen erwies sich, daß zwei nicht im Parlament vertretene Parteien ebenfalls für ein „Nein“ eintraten: die alt-kommunistische Munkáspárt und die rechtsextrem-nationalistische MIEP (Ungarische Wahrheits- und Lebenspartei). Waren die Motive der einen eher in der traditionellen Verbundenheit mit Rußland zu suchen, so waren es bei der MIEP Bedenken, daß ein „Groß-Ungarn“ dann schwerer verwirklicht werden könnte. So wurde denn auch den NATO-GegnerInnen von den Medien immer wieder Extremismus unterstellt. MIEP-Führer István Csurka konnte so nach der Abstimmung nahezu unwidersprochen den Großteil der „Nein“-Stimmen für sich reklamieren, indem er der Zeitung Népszabadság erklärte, die meisten Stimmen seien von SympathisantInnen seiner Partei gekommen. Daß dies nicht stimmen kann, da die „Nein“-Stimmen rund zehnmal soviel waren wie die WählerInnen der MIEP, sei nur am Rand erwähnt.

Ausblick

Ungarn hofft nun auf einen NATO-Beitritt irgendwann zwischen 1999 und 2002. Als „Musterschüler“ hat sich die Regierung Horn mit dem Referendum auf jeden Fall erwiesen, zur Freude von NATO-Einpeitschern in den Nachbarländern. Außenminister Schüssel, Verteidigungsminister Fasslabend und die FPÖ wollen nun, daß Österreich schnell dem Beispiel Ungarns folgt.

Die Kosten, die Ungarn bei einem NATO-Beitritt zu bezahlen haben wird, spielten eine eher untergeordnete Rolle. Der Kurier (17.11.1997) beziffert sie mit umgerechnet 2 bis 3 Milliarden Schilling pro Jahr, bis 2009 soll das Verteidigungsbudget auf umgerechnet mehr als 15 bis 16 Milliarden Schilling verdoppelt werden. Die derzeitigen Wehrausgaben betragen 1,5 % des Bruttosozialprodukts (Österreich: 0,9 %). Eine Verschärfung der sozialen Lage wird – das ist unschwer vorauszusagen – die Folge sein.

Daß Ungarn eine NATO-Enklave sein wird (keines der angrenzenden Länder wird, sofern Österreich und Slowenien keine weiteren Anstalten in diese Richtung machen, NATO-Mitglied sein), stört offenbar kaum jemanden. Zu befürchten ist aufgrund dieser geopolitischen Konstellation jedoch, daß von der NATO Ungarn nunmehr als propagandistischer „Brückenkopf“ benutzt wird, um Österreich zu einem Beitritt zu bewegen. Diesem Werben selbstbewußt entgegenzutreten wird eine der nächsten Aufgaben hierzulande sein.

NEIN, NEIN und NEIN zur NATO

NEIN, denn für den Beitritt müssen wir bezahlen!
NEIN, denn sie schützt uns nicht!
NEIN, denn sie zementiert die gegenwärtigen Macht­strukturen!
NEIN, denn wir haben genug von Bevormundung!
NEIN, denn wir wollen nicht zu eine Mülldeponie ver­kommen!
NEIN, denn sie garantiert uns nicht die Atomwaffen­freiheit!

Also vergiß auch Du nicht mit NEIN zu stimmen, wie wir, die Tärsadalmi Koaliciö, es tun!

(Flugblatt der Zivilen Koalition für eine humane Politik)

Das Buch zur Kampagne

Im Rahmen der Kampagne der NATO-GegnerInnen ist in Budapest ein Buch erschienen (Cartafilus-Verlag), dessen Titel „Amokfutás a NATO-ba“ („Amoklauf in die NATO“) das Ergebnis schon vorwegzunehmen schien.

Bei den Autoren handelt es sich um den Soziologen Tamás Csapody, Sprecher der gewaltfreien Bewegung Alba Kör, und um László Vit, Publizist und ehemaliger Aktivist der Umweltgruppe Duna Kör („Donau Kreis“), die in den 80er Jahren erfolgreich gegen das Donaukraftwerk Nagymaros gekämpft hat.

Das Buch umfaßt Studien, Essays, Analysen und Berichte sowie Interviews mit ExpertInnen, die zwischen 1995 und 1997 in Ungarn veröffentlicht wurden, vorwiegend in diversen Zeitungen und Magazinen. In sieben Abschnitten setzen sich die Autoren mit der NATO und der NATO-Osterweiterung auseinander.

Im ersten Abschnitt gehen die Autoren auf eine Tradition der ungarischen Neutralität ein, die auf 1848/49 (Opposition der RevolutionärInnen gegen Krieg im Ausland und ausländische Truppen in Ungarn) und 1956 (Austritt aus dem Warschauer Parkt durch Imre Nagy kurz vor der sowjetischen Invasion) zurückgeht. 1990/91 haben sich alle ungarischen Parteien für die Neutralität und gegen Blockbindungen ausgesprochen.

Im zweiten Abschnitt werden militärische Fragen (Rüstung und Sicherheit) im Zusammenhang mit der NATO-Erweiterung behandelt. Die These der Autoren ist, daß im Umbruchs-Jahr 1989 die Chance bestanden hat, ein neues Europa (und Mitteleuropa) ohne militärische Organisationen zu schaffen. Die Kosten einer ungarischen Teilnahme an der NATO und der amerikanischen NATO-SFOR-Präsenz in Ungarn werden genau berechnet.

Der dritte Abschnitt dreht sich um die Frage der Atomwaffen und um die Notwendigkeit nuklearer Abrüstung. Der politischen Elite in Ungarn wird vorgeworfen, der Bevölkerung vorzugaukeln, daß ein NATO-Mitglied Ungarn nichts mit Atomwaffen zu tun haben werde.

Im vierten Abschnitt empfehlen die Autoren ihrem Land die Neutralität und die Ablehnung der Bindung an Militärblöcke. Das Nachbarland Österreich wird unter diesem Gesichtspunkt genauer unter die Lupe genommen: László Vit führt an, daß bei osteuropäischen NATO-Fans der österreichische Weg der NATO-Skepsis nicht akzeptiert wird. In diesen Kreisen wird Österreich als Fremdkörper, als „Kuckucksei-Staat“ bezeichnet. Vit hingegen empfiehlt seinem Landsleuten, diesem Beispiel des Nachbarn zu folgen und nicht Hals über Kopf in die NATO zu stürmen.

Im fünften Abschnitt wird untersucht, wie die Intellektuellen, die regierungsunabhängigen Organisationen, die Bewegungen und die politischen Parteien Ungarns zur NATO stehen. Die Motive der gegen einen NATO-Anschluß eingestellten Gruppen und deren gesellschaftliches Gewicht werden dargestellt.

Der sechste Abschnitt setzt sich mit den Aspekten des Instruments „Volksabstimmung“ in Ungarn auseinander – die Rolle im Rechtssystem und in der Praxis der ungarischen Demokratie. Die Autoren belegen auch, wie die einseitige Pro-NATO-Propagandakampagne der Regierung zu einer ungleichen und ungerechten Verteilung der Möglichkeiten zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen geführt hat.

Das abschließende siebte Kapitel faßt die Argumente und Ansätze nochmals zusammen.

Das Buch legt gut dokumentiert die Gründe für ein ungarisches „Nein“ zur NATO dar. Die UngarInnen stimmten trotzdem für den Beitritt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1998
, Seite 14
Autor/inn/en:

Gerhard Jordan:

Jahrgang 1960, Angestellter. Hat Geschichte und Kunstgeschichte studiert und war vor seinem Grün-Engagement in der Anti-AKW-Bewegung, in der Katholischen Jugend, in der Friedensbewegung und im Alternativreferat der Österreichischen Hochschülerschaft aktiv. Seit deren Gründung im Jahr 1986 Mitglied der Grünen, von 1989-1991 Vorstandsmitglied der Europäischen Grünen, langjährige Erfahrung als Bezirksrat, zunächst im 21. Bezirk. Seit 1992 im Grünen Rathausklub tätig (zunächst als persönlicher Mitarbeiter von Christoph Chorherr in dessen Zeit als Stadtrat, derzeit als Referent für Europapolitik). Mitbeteiligt am Aufbau eines europäischen Netzwerks grüner KommunalpolitikerInnen. Seit 2001 Bezirksrat und Klubvorsitzender in Hietzing. Mitglied in der Planungskommission, im Bauausschuss und in der Kulturkommission, Ersatzmitglied in der Verkehrskommission. Schwerpunkte: Demokratie, Flächenwidmungen, Verkehr, Architektur, Bezirksgeschichte.

Klara Rajki:

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