Internationale Situationniste » Numéro 6
Lothar Fischer • Pierre Gallissaires (Übersetzung) • Dieter Kunzelmann • Uwe Lausen • Hanna Mittelstädt (Übersetzung) • Heimrad Prem • Helmut Sturm • Hans Peter Zimmer

Über die gesellschaftliche Unterdrückung in der Kultur

Als Individuen werden alle Künstler der modernen Epoche, die keine bloßen Reproduzenten der anerkannten Mystifikationen sind, mehr oder weniger deutlich an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gestoßen. Das geschieht, weil sie gezwungen werden, selbst mit illusorischen bzw. bruchstückhaften Mitteln die Frage nach der Bedeutung dieses Lebens und nach dessen Anwendung zu stellen, während es bedeutungslos bleibt und ihm irgendeine andere erlaubte Anwendung als ein passiver Konsum fehlt. Von Natur aus weisen sie auf die schlechten Verhältnisse einer unbewohnbaren Welt hin. Ihr persönlicher Ausschluss aus dieser Welt — ob durch die bequeme Trennung oder die tragische Beseitigung — geschieht dann sozusagen auf natürliche Art.

Im Gegenteil dazu stoßen die Avantgardegruppen, die ein Programm zur Veränderung all dieser oder bestimmter Verhältnisse deutlich zum Ausdruck bringen, gegen eine bewusste und organisierte gesellschaftliche Unterdrückung. Die Formen dieser Unterdrückung haben sich seit sagen wir z.B. 40 Jahren mit der Entwicklung der Gesellschaft selbst sowie deren Feinden weitgehend verändert.

Um 1920 wurde in Europa auf das mit dem Finger gezeigt, was den Skandal gegen die anerkannten Werte der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens mit sich brachte. Damals war die Avantgarde verworfen und als solche bekannt. In der Gesellschaft, die sich seit dem letzten Weltkrieg entwickelt hat, gibt es keine Werte mehr; daraus folgt, dass nur rückständige Sektoren der Öffentlichkeit, die immer noch mit sehr veralteten, kohärenten Konventionssystemen — wie z.B. der christlichen Weltauffassung — verbunden sind, der Beschuldigung zustimmen können, irgendeine Konvention werde nicht mehr geachtet. Um diejenigen herum, die eine allgemeine neue Aufwertung vorhaben, lassen die Kultur- und Informationskontrolleure keinen Skandal mehr aufwirbeln: sie neigen vielmehr dazu, das Stillschweigen dauerhaft zu organisieren.

Durch diese neuen Kampfbedingungen wird zuerst die Arbeit einer neuen revolutionären Avantgarde verzögert, ihre Entstehung gehemmt und ihre Entwicklung verlangsamt. Sie haben aber auch eine sehr positive Bedeutung: die moderne Kultur ist leer; keine starke Kraft kann sich den Entschlüssen dieser Avantgarde widersetzen, sobald es dieser gelungen ist, sich als solche anerkennen zu lassen. Die Aufgabe dieser Avantgarde ist es nur, eines Tages ihre Anerkennung durchzusetzen, bevor sie ihre Disziplin und ihr Programm hat angreifen lassen. Das hat die Situationistische Internationale vor.

Diese Erklärung wurde im Februar 1961 in der 4. Nummer von Spur, dem Organ der deutschen Sektion der S.I. veröffentlicht.

Die, von denen man gerne spricht, sind die glücklichen spektakulären Rebellen — „die Rebellen, die man gerne hasst“. Man kann sie aber nur wenig gebrauchen. Nach drei oder vier Jahren ist man unredlich genug, um durch ihren offensichtlichen Konformismus enttäuscht zu scheinen, ohne den man es nie akzeptiert hätte, sie öffentlich als Erneuerer hinzustellen. So spielt die herrschende Kultur mir ihrem Hauptwiderspruch: dem Bedürfnis und gleichzeitigem Entsetzen vor einer Neuheit, die ihren Tod darstellt.

Wie kurz war die Tollheit der wütenden jungen Engländer … Die Bewegung der „angry young men“ ließ die bürgerlichen Fensterscheiben vor Furcht klirren und die Herzen vor Hoffnung leben — es würde etwas passieren. Herr Osborn kam — und schon hatte er sich eingerichtet. 1956-1957 fing man an, von diesen jungen Schriftstellern zu sprechen, die jeden Konformismus laut von sich wiesen und die gegen die dem modernen Menschen aufgezwungenen, unmenschlichen Lebensbedingungen protestierten … Jedoch war diese Gruppe buntscheckig und ihre gemeinsame Benennung als „angry young men“ entsprach vielmehr einem leichten journalistischen Trick als einem gemeinsamen Programm … Vermutlich genügte das nicht: heute schon scheint die Gruppe keine Bedeutung, ja sogar kein Leben mehr zu haben. Die individuellen Talente sagen sich von ihr los … Colin Wilson, ein einfältiger Autodidakt, fällt in einen nebelhaften Mystizismus usw. … Aber durch die literarische Gesellschaft werden sie vollkommen integriert.

R. Kanters, L’Express vom 13. Juli 1961

Der Gestank nach faulen Eiern, der den Gottesgedanken umschwebt, hüllt die mystischen Idioten der amerikanischen „beat generation“ ein und man findet ihn sogar in den Erklärungen der „angry young men“ (vgl. Colin Wilson) wieder. Im allgemeinen entdecken diese mit 30 Jahren Verspätung ein subversives moralisches Klima, das England ihnen in der Zwischenzeit völlig verheimlicht hatte, und sie meinen, sie seien an der Spitze des Skandals, indem sie sich öffentlich als Republikaner ausgeben. „Es werden weiter Theaterstücke gespielt“, schreibt Kenneth Tynan, „die sich auf die lächerliche Idee gründen, dass die Leute die Krone, das Empire, die Kirche, die Universität und die gute Gesellschaft immer noch fürchten und achten“. Die Wendung „es werden weiter Theaterstücke gespielt ...“ lässt den seicht literarischen Standpunkt dieser Gruppe der „angry young men“ erkennen, die schließlich bloß ihre Meinung über einige konventionelle gesellschaftliche Formen geändert haben, ohne den Gebiets-Wechsel der gesamten kulturellen Aktivität einzusehen, den man bei jeder avantgardistischen Tendenz dieses Jahrhunderts deutlich beobachten kann. Besonders reaktionär sind die „angry young men“ sogar dadurch, dass sie der Literaturübung. einen bevorzugten Wert, einen Erlösungssinn, beimessen, was also heißt, dass sie heute als die Verteidiger einer Mystifizierung auftreten, die in Europa um 1920 entlarvt wurde und deren Fortleben eine größere konterrevolutionäre Bedeutung als die britische Krone hat.

Editorische Notizen der Situationistische Internationale No. 1, Juni 1958

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1976
, Seite 28
Autor/inn/en:

Lothar Fischer:

Geboren 1933 in Germersheim, gestorben 2004 in Baierbrunn bei München. Bildhauer, Mitgründer der Gruppe SPUR.

Heimrad Prem:

Geboren 1934 in Roding (Oberpfalz), gestorben 1978 in München. Maler, Mitgründer der Gruppe SPUR.

Helmut Sturm:

Geboren 1932 in Furth im Wald, gestorben 2008 in Pullach bei München. Maler, Mitgründer der Gruppe SPUR.

Hans Peter Zimmer:

Geboren 1936 in Berlin, gestorben 1992 in Soltau. Maler und Bildhauer, Mitgründer der Gruppe SPUR.

Dieter Kunzelmann:

Geboren 1939 in Bamberg. Mitglied der Gruppe SPUR und der Situationistischen Internationale, später Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), Mitgründer der Kommune I, des Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen und der Tupamaros West-Berlin, in den 80er-Jahren Abgeordneter der Alternativen Liste Berlin.

Uwe Lausen:

Geboren 1941 in Stuttgart, gestorben 1970 in Beilstein bei Stuttgart. Maler, Mitglied der Gruppe SPUR und der Situationistischen Internationale.

Pierre Gallissaires:

Geboren 1932 in Talence (Gironde). Übersetzer und Mitgründer der Edition Nautilus in Hamburg.

Hanna Mittelstädt:

Geboren 1951 in Hamburg. Autorin und Übersetzerin, Mitgründerin der Edition Nautilus in Hamburg.

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