MOZ » Jahrgang 1989 » Nummer 43
Martin Friedrich
China:

Traum kaputt!

„Wer Hoffnungen hegt, ist ein Verbrecher“, schrieb der chinesische Dichter Bei Dao. Aber warum es so gekommen ist, wie niemand von uns geglaubt hätte, danach wird man fragen müssen.

Bild: Votava

Der 4. Juni 1989 wird einmal einen Wendepunkt in der Geschichte der Volksrepublik China und der KP China markieren. Es waren, seit dem Schisma zu Beginn der 60er Jahre, in erster Linie die beiden großen sozialistischen Staaten, die Sowjetunion und China, an denen sich Kommunisten und viele andere Linke orientierten. Der „real existierende Sozialismus“ in allen seinen Formen war — im negativen oder positiven Sinne — ein Bezugspunkt, der, wollte man versuchen, die Realisierbarkeit des Sozialismus eigener Couleur zu veranschaulichen, nicht umgangen werden konnte.

Natürlich konnte er nicht perfekt sein. Noch nie gegangene Wege wurden beim Aufbau beschritten, also waren Fehler unvermeidbar. Er wurde in einer feindlichen, kapitalistischen Umgebung aufgebaut, also waren die Fehlentwicklungen der nicht erfolgten Weltrevolution geschuldet. Der Sozialismus war noch behaftet mit den „Muttermalen der alten Gesellschaft“, wie konnte er makellos sein?

Um im Marx’schen Bilde zu bleiben: China hat in diesem Juni bewiesen, wie schnell aus Muttermalen ein Melanom werden kann. Der Kriegsrecht-„Kommunismus“ als letztes Stadium des real existierenden Sozialismus ist der eine Weg, der den herrschenden Parteibürokratien noch für einige Jahre realisierbar erscheinen mag. Der andere, „friedlichere“ Weg wird bereits gegangen, vorneweg Ungarn und Polen. Er führt über kurz oder lang zur kapitalistischen „one world“.

Die Ereignisse in China zeigen uns zweierlei: Zum einen erkennen wir, wie sehr eine kleine, privilegierte Schicht von Bürokraten mit Hilfe von Panzern, Gewehren und mit dem Mythos der chinesischen Revolution als Legitimation sich gegen den Lauf der Geschichte stemmen kann, zum anderen aber — und das ist wichtiger — ist in den jetzt niedergeschlagenen Protesten der Keim einer viel größeren, umfassenderen Bewegung verborgen, die den Anfang vom Ende der kapitalistisch orientierten Reformen einläuten wird. Die sich jetzt etablierende Deng-Yang-Li-Regierung wird — unter autoritär-bürokratischer Herrschaft — die ökonomischen Reformen weiterführen wollen und, nach kurzer „moralischer“ Pause, dabei auch wieder die Unterstützung des kapitalistischen Auslandes bekommen. Sie wird weiter versuchen, mit einigen planwirtschaftlichen Eingriffen krisenhafte Erscheinungen zu korrigieren — das wird immer weniger gelingen. Die Proteste, die sich schon diesmal auch gegen die zwangsläufigen Auswirkungen der Wirtschaftsreformen richteten, werden wachsen und neben der Frage der politischen Demokratie auch die der ökonomischen Selbstverwaltung auf die Tagesordnung setzen.

Rückblick

China — das bedeutet für die westliche Linke immer noch in erster Linie die Erinnerung an einen Traum: die Kulturrevolution. Mao hatte ihn zur Realisierung freigegeben. Heute ist es — auch unter Linken — Mode geworden, die Kulturrevolution auf den Machtkampf zwischen Fraktionen des Partei- und Staatsapparates zu reduzieren und das Hauptaugenmerk auf den Terror zu legen, den es in ihrem Verlauf auch gab. Dabei wird meistens vergessen, daß Mao sich an die Spitze einer Bewegung stellte, die die Partei, deren Vorsitzender er war, zerschlug. Die Kulturrevolution war 1966 und 1967 auch eine antiautoritäre, emanzipative Bewegung, auch eine Revolte von unten, ein Aufbegehren gegen die Rückständigkeit der chinesischen Gesellschaft und die versteinerte Bürokratie. „Rebellion ist gerechtfertigt!“ und „Gegen die Strömung ankämpfen ist ein Prinzip des Marxismus-Leninismus“ sind die Schlagworte, die Maos Vorstellung eines dynamischen Sozialismus, in dem es Platz für revolutionäre Prozesse gibt, veranschaulichen. Doch das Experiment mißglückte. Die Anarchie, die teilweise entstanden war, verursachte nicht nur ökonomische Schäden, auch die Sicherheit des Landes war bedroht. So gab Mao seine Zustimmung zum Einsatz des Militärs. Staats- und Militärbürokratie, repräsentiert durch Zhou Enlai und Lin Biao, gingen eine Koalition ein und schlugen, größtenteils mit Gewalt, die sogenannten „ultralinken“ Rebellen und Rotgardisten nieder. Übrig blieben nur die, die den Fraktionen der neuen Koalition verbunden waren. Zum IX. Parteitag 1969 und in den darauffolgenden Jahren wurde die KPCh schrittweise als Herrschafts-Partei der Militär- und Staatsbürokratie rekonstruiert. Damit begann gleichzeitig der Prozeß ihrer Degeneration zu einem Club opportunistischer Karrieristen, skrupelloser Machtpolitiker und Abenteurer. Die Diktatur der Militär- und Staatsbürokratie wurde nach dem Sturz Lin Biaos 1971, dem auch umfangreiche Säuberungen und Umbesetzungen in hohen Militärrängen folgten, durch eine wieder wachsende Rolle eben dieser Partei, in der die sogenannte „Viererbande“ inzwischen, vor allem auf dem X. Parteitag 1973, immer größeren Einfluß gewann, abgelöst. Die Machtkämpfe „hinter den Kulissen“ fanden längst keinen Widerhall mehr bei den Massen, erst nachträglich wurden jeweils Jubel- und Kritik-Kampagnen organisiert.

Lin Biao und Zhou Enlai, 1967
Bild: Votava

Als Mao am 9. September 1976 starb, folgte ein kurzer, heftiger Machtkampf, der den Sieg für die zentralistische Koalition von Hua Guofeng, Ye Jianying und Li Xiannian brachte. Deng Xiaoping, der im April 1976 („Tian’anmen-Zwischenfall“) von allen Posten entfernt worden war, wurde wieder aus der Versenkung geholt. Diesmal war die Freude der Massen, die die Stagnations- und Repressionsphase der „Viererbande“ leid war, echt. Die Massen der Arbeiter wollten vor allem Ruhe und steigenden Lebensstandard. Viele Menschen waren durch die von oben aufgesetzten Kampagnen apolitisch geworden. Etwa mit der 3. Plenartagung des XI. Zentralkomitees der KPCh begann die Reformpolitik der Deng-Ära, deren Massenbasis zu Anfang in der Tat sehr groß war, vor allem, weil die Wirtschaftsreformen zu einem Aufschwung und zu einer realen Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung führten.

Die Opposition

Die nach-kulturrevolutionäre Opposition Chinas, die mit der Wandzeitung „Demokratie und Rechtssystem im Sozialismus“ von Li Yi Zhe im November 1974 in Guangzhou (Kanton) begann, kommt zu einem beträchtlichen Teil aus den enttäuschten linken und „ultralinken“ Rotgardisten-Fraktionen der Jahre 1967/68. Li Zhengtian, einer der hinter dem Pseudonym Li Yi Zhe stehenden Autoren, wurde 1968 nach der Niederschlagung der Kulturrevolution in Guangzhou für drei Jahre inhaftiert.

Auch führende Köpfe des Pekinger Frühlings 1979, wie z.B Wei Jingsheng, haben eine ähnliche Vergangenheit. Der „Pekinger Frühling“, auch „Bewegung des 5. April“ genannt, hatte seinen Ausgangspunkt im Tian’anmen-Zwischenfall Anfang April 1976, der sowohl ein spontaner Massenprotest gegen die „Viererbande“, ausgelöst durch die Trauer um den verstorbenen Ministerpräsidenten Zhou Enlai, als auch ein von Deng Xiaoping für den Machtkampf in der Partei benütztes Szenario war. Zwar wurden die Millionen-Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens niedergeschlagen (ca. 100 Tote) und Deng Xiaoping abgesetzt, aber der Sieg der „Viererbande“ war nur von kurzer Dauer. Nach Maos Tod und dem Sturz der „Vier“ wurde Deng im Juli 1977 gegen den Widerstand des Parteivorsitzenden Hua Guofeng und einiger anderer einflußreicher Funktionäre, die führend an der letzten Anti-Deng-Kampagne beteiligt gewesen waren, rehabilitiert. Deng benutzte nun die demokratische Bewegung des „Pekinger Frühlings“, die ihn in ihrer frühen Phase unterstützte, um seine Position in der innerparteilichen Auseinandersetzung zu stärken. Doch die Forderungen der Bewegung, die noch weitgehend marxistisch geprägt war, gingen immer weiter: Beteiligung der Massen an den politischen Entscheidungen, Kontrolle der Funktionäre und Politiker durch die Öffentlichkeit, Pressefreiheit usw. Als Deng die Bewegung lästig wurde und er sie sowieso nicht mehr benötigte, stellte er in einer Rede am 16.3.1979 die „vier Grundprinzipien“ auf, deren Unterstützung die Pflicht aller Bürger sei: das Festhalten

  • am sozialistischen Weg,
  • an der Führung durch die KP Chinas,
  • an der demokratischen Diktatur des Volkes,
  • am Marxismus-Leninismus und den Mao-Zedong-Ideen.

Dengs Rede wurde von Wei Jingsheng, einem der wenigen bürgerlichen Oppositionellen der Bewegung, in einem Artikel mit dem Titel „Wollen wir Demokratie oder eine neue Diktatur?“, den er in seiner Zeitschrift „Untersuchungen“ veröffentlichte, scharf kritisiert. Am 29.3. wurde Wei verhaftet. Bis zum April 1980 beendete staatliche Repression schrittweise die demokratische Bewegung. Wei Jingsheng wurde in einem aufsehenerregenden Prozeß zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt und dadurch zu einer Symbolfigur des „Pekinger Frühlings“. Die linken, marxistischen Oppositionellen wie Xu Wenli, Wang Xizhe, Chen Erjin und Lü Min gerieten in China wie im Westen mehr und mehr in Vergessenheit, obwohl sie z.T. genauso brutal verfolgt wurden wie Wei Jingsheng.

Die Studentenproteste

Am 18. September 1985 gab es erstmals seit der Kulturrevolution wieder eine Studentendemonstration politischen Charakters. Etwa 1.000 StudentInnen forderten auf dem Tian’anmen-Platz u.a. „Wir wollen essen!“ und protestierten gegen die „Invasion von japanischen Konsumgütern“. Für den 9. Dezember wurde eine Großdemonstration angekündigt, die aber von der Regierung durch Drohungen und administrative Maßnahmen verhindert wurde. Obwohl spontan und sicher auch von der gerade erfolgten Streichung der Stipendien initiiert, gelang es der Bewegung doch, sich auf andere Städte, vor allem Wuhan, Chengdu und Xi’an auszuweiten. Außerdem demonstrierten — offenbar durch ihre chinesischen KommilitonInnen angeregt — uigurische StudentInnen, Angehörige einer turksprachigen islamischen Minderheit, in Urümgqi, Peking und Shanghai gegen die Atombombenversuche in ihrer Heimat. Das ist insofern interessant, als daß einer der Anführer der jetzigen Studentenbewegung, Urkaixi, ein Uigure ist. Nach ihm wird inzwischen steckbrieflich gefahndet. Vom 5.12.1986 bis zum 5.1.1987 breitete sich eine Reihe von Studentenprotesten, ausgehend von der renommierten „Chinesischen Universität für Wissenschaft und Technik“ (CUWT) in Hefei, über viele Städte des ganzen Landes aus. Neben Hefei wurden Shanghai, Nanjing und Peking zu Zentren der Bewegung. Ihre Forderungen waren noch sehr verschwommen: „Ohne Demokratie keine Modernisierung!“, „Demokratische Reformen!“, „Gebt uns Freiheit!“, hieß es in den Parolen und auf den Spruchbändern. Später wurde dann auch gegen die falsche Berichterstattung in der Presse und gegen das brutale Vorgehen der Polizei (in Shanghai) demonstriert. Obwohl sich punktuell Teile der Bevölkerung, besonders Arbeiter in Shanghai, mit den Studenten solidarisierten, blieb die Massenbasis der Bewegung klein. An den größten Demonstrationen beteiligten sich nicht mehr als 70.000 (in Shanghai) und 10.000 (in Peking) Menschen. Das Wiedererstarken der Konservativen nimmt sich im Vergleich zu den Ereignissen der letzten Tage harmlos aus: Hu Yaobang mußte von seinem Posten als Generalsekretär des ZK der KPCh zurücktreten, weil er den Studenten gegenüber eine zu nachgiebige Haltung eingenommen hatte. Guan Weiyan und Fang Lizhi, bis dahin Rektor und Vize-Rektor der CUWT, wurden gefeuert, Fang dazu noch aus der Partei ausgeschlossen. Vor allem Fang Lizhi hatte die Proteste ausdrücklich unterstützt. War er schon vorher durch platte, den Westen verherrlichende Reden aufgefallen, zeigte er sich nach seinem Parteiausschluß vollständig als bürgerlicher Oppositioneller. Pauschale Marxismus-Verteufelung machte den Astrophysiker zum Liebling der westlichen Presse, in der er öfters als „Sacharow“ Chinas vorgestellt wurde. Zusammen mit seiner Frau ist er vor der gegenwärtigen Repressionswelle in die Botschaft der USA geflohen und zu einem diplomatisch heiklen Problem geworden.

Hu Yaobang
Bild: Votava

Im Januar 1987 begann ferner eine Propaganda- und Pressekampagne gegen den „bürgerlichen Liberalismus“, die vorgab, Einflüsse in Presse, Literatur, Kunst und Wissenschaft zu bekämpfen, welche zu einer „Verwestlichung des Denkens“ führten. Der Propagandachef der KPCh mußte seinen Posten zur Verfügung stellen. Zwei berühmte Intellektuelle, der Literaturkritiker Wang Ruowang und der Journalist und Schriftsteller Liu Binyan, wurden aus der KP ausgeschlossen. Von den Teilnehmern an den Demonstrationen wurden einige Arbeiter, die sich in Shanghai solidarisiert hatten, und zwei oder drei Studenten verhaftet und mit Gefängnis bestraft.

Am 15. April dieses Jahres starb Hu Yaobang, bis zu seinem Tode Mitglied des Polit-Büros des ZK. Für die StudentInnen war er seit seinem erzwungenen Rücktritt 1987 zu einer Symbolfigur ihres Kampfes geworden. Sie nahmen die offiziellen Trauerfeierlichkeiten zum Anlaß, ihre eigene Trauer besonders demonstrativ zu bekunden und von der Partei- und Staatsführung eine posthume Rehabilitierung Hus zu fordern. Die offiziellen Ansprachen ließen hingegen die Ereignisse von 1987 einfach unerwähnt. Protest- und Trauerkundgebungen, vorwiegend auf dem Tian’anmen-Platz, zogen sich bis zum 4. Mai hin, an dem, ausgerechnet in diesem Jahr, der 70. Jahrestag der „Bewegung des 4. Mai“ von 1919 begangen wurde. Als „Bewegung des 4. Mai“ wird die gesamte geistige Erneuerungsbewegung Chinas von 1917 bis 1921 bezeichnet, für die stellvertretend der „4. Mai-Zwischenfall“ im Jahre 1919 steht, als patriotische Studenten gegen die Entscheidung der Versailler Konferenz, die ehemalige deutsche Kolonie in Shandong Japan zuzuschlagen, protestierten. Der 4. Mai 1919 steht heute synonym für die antikonfuzianische Kulturrevolution, mit der sich sowohl die Ausbreitung des Marxismus als auch das westlich bürgerliche Denken in China verbindet. So war dieser 70. Jahrestag für beide ein Grund zum Feiern: Die Partei feierte, weil die Gründung der KPCh 1921 auch ein Produkt der „Bewegung des 4. Mai“ war, die StudentInnen feierten, weil sie sich selbst in die Tradition dieser Bewegung stellen und die Erfüllung der 70 Jahre alten Forderungen nach „Wissenschaft“ und „Demokratie“ einklagen. Nach einem kurzen Abflauen der Proteste begannen am 13.5., zwei Tage vor der Ankunft Gorbatschows, mehrere tausend StudentInnen auf dem Tian’anmen-Platz einen öffentlichen Hungerstreik mit dem Ziel, die Regierung zu ernsthaften Gesprächen mit ihnen zu zwingen. Thema der Gespräche sollten nach wie vor die bereits am 18.4. aufgestellten sieben Forderungen sein:

  • gerechte Beurteilung der politischen Rolle Hu Yaobangs (Rehabilitierung)
  • Annulierung der Bewegungen „gegen geistige Verschmutzung“ (1984) und „gegen bürgerliche Liberalisierung“ (1987), Rehabilitierung aller in diesem Zusammenhang Beschuldigten und Verurteilten;
  • Partei- und Staatsführung sowie ihre Familien (Kinder) sollen öffentlich Auskunft über Besitz und Einkünfte geben;
  • Zulassung der unabhängigen Zeitungen, Aufhebung der Pressezensur;
  • Erhöhung der Staatsausgaben für Bildung, Erhöhung der Einkommen für Intellektuelle;
  • Aufhebung der vom Ständigen Ausschuß des Pekinger Volkskongresses verfassungwidrig aufgestellten „zehn Bestimmungen“ zur Einschränkung von Demonstrationen;
  • korrekte Berichterstattung über die Demokratiebewegung in den Zeitungen der Partei und der Behörden.

In den darauffolgenden Tagen solidarisierten sich immer größere Teile der Pekinger Bevölkerung mit den Forderungen und demonstrierten auf dem Tian’anmen Platz. Der Gorbatschow-Besuch, als erster chinesisch-sowjetischer Gipfel seit 30 Jahren immerhin nicht ganz unbedeutend, wurde nicht nur in seinem Programmablauf erheblich gestört, er fand auch in den Medien und der Öffentlichkeit nicht die gebührende Beachtung — alle Welt und ganz China interessierten sich mehr für die StudentInnen auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

Am 17. Mai kam für die Protestbewegung der Studenten endgültig der Durchbruch zur Massenbewegung: In ganz Peking demonstrierten 3 Millionen Menschen, die die Forderungen der Hungerstreikenden unterstützten, ein Ende von Korruption, Vetternwirtschaft und beschleunigte Demokratisierung forderten. Neben SchülerInnen, StudentInnen und Intellektuellen nahmen auch Soldaten, ArbeiterInnen, Bauern und Partei- und Regierungskader an der Demonstration teil. Erstmals tauchten Transparente auf, die den Rücktritt Li Pengs und Deng Xiaopings forderten. Am Morgen des 20. Mai wurde schließlich das Kriegsrecht über acht Bezirke Pekings verhängt. Hunderttausende Bürger verhinderten am 20. Mai und den darauffolgenden Tagen durch Demonstrationen und Barrikaden ein Vorrücken von Armee-Einheiten in die Innenstadt und damit die Durchsetzung des Kriegsrechts. Hungerstreik und Kundgebungen auf dem Platz des Himmlischen Friedens wurden bis zur Nacht vom 3. und 4. Juni fortgesetzt, wenn auch Erschöpfungserscheinungen bemerkbar waren und die Unterstützung durch die Bevölkerung quantitativ etwas nachließ. Die gesamte Staats-, Partei- und Armeeführung hatte sich in dieser Zeit zum internen Machtkampf aus der Öffentlichkeit verabschiedet.

Die Interessen der Studentinnen/Intellektuellen

Als Gründe für die Proteste der Studenten und Intellektuellen sind im wesentlichen zu nennen:

  • Intellektuelle sind materiell unterprivilegiert. Selbst das Einkommen eines Professors liegt unter dem eines Industriearbeiters. Intellektuelle haben weniger Möglichkeiten, ihr Gehalt durch Prämien oder Nebenbeschäftigungen aufzubessern.
  • Die Intellektuellen fühlen sich — ganz entsprechend der chinesischen Tradition — berufen, die Geschicke des Landes zu lenken. Sie sind der Meinung, daß sie zuwenig Einfluß in der Politik haben.
  • Eine starre und meistens völlig inkompetente Wissenschaftsbürokratie, die dafür aber mit fast totalen Machtbefugnissen ausgestattet ist, macht vielen Wissenschaftlern an Universitäten, Akademien und Instituten Leben und Arbeit schwer.
  • Im Rahmen der Öffnungspolitik seit 1978 waren es natürlich die Intellektuellen, die als erste mit einer Vielzahl von ausländischen Ideen und Theorien konfrontiert wurden. Nicht nur Coca-Cola, McDonalds und Micky-Maus sind nach China gekommen, sondern auch Sartre, Freud, Kafka, Popper und die Friedrich-Ebert-Stiftung.

Die Vorstellungen von „Freiheit“ und „Demokratie“ sind bei der Mehrzahl der StudentInnen und Intellektuellen stark westlich-bürgerlich geprägt. Den meisten geht es um eine politische, institutionalisierte Demokratie und vor allem um ein funktionierendes Rechtssystem, das die Rechte des Einzelnen schützen und eine Kontrolle von Partei und Regierung gewährleisten soll. Über die ökonomische Basis einer solchen Konstruktion machen sie sich bisher offenbar wenig Gedanken. Im allgemeinen kann aber festgehalten werden, daß die Mehrzahl von ihnen, obwohl sie z.Zt. selbst besonders stark unter der Inflation leiden (kaum Nebenverdienstmöglichkeiten), die Wirtschaftsreformen, d.h. die Rekonstruktion des Kapitalismus in immer größeren Teilbereichen der Wirtschaft, unterstützt.

Die Wirtschaftsreformen

Nachdem die ökonomischen Reformen einige Jahre relativ erfolgreich waren und den Lebensstandard fast aller anhoben, folgte zwangsläufig in den letzten Jahren die Krise. Auf dem Lande wurde zuerst die Kollektivierung, dann, ab 1984/ 85 durch die Pachtverträge und Nutzungsrecht-Verkäufe, auch die Bodenreform teilweise rückgängig gemacht.

Es enstehen neue Grund- bzw. Großgrund-Besitzer. 50 Millionen Menschen, die ihre Existenz auf dem Lande verloren haben, ziehen ziellos umher auf der Suche nach Verdienst- und Lebensmöglichkeiten. In Joint-Venture- oder privaten Unternehmen, vor allem in den ökonomischen Sonderzonen, herrschen teilweise frühkapitalistische Verhältnisse: Kinderarbeit, Arbeitsunfälle durch fehlende Sicherheitsvorkehrungen, keinerlei Entlassungsschutz, Akkord, ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern usw. Hinzu kommt in den letzten vier Jahren noch die grassierende Inflation, die durch lächerliche Lohnerhörungen nicht aufgefangen wird. Im Zusammenhang mit der weitgehenden Zerschlagung kollektiver Strukturen wie Kinderhorten, Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern, die jetzt entweder zu „ökonomisch rechnenden Einheiten“ gemacht werden, d.h. sich finanziell selbst tragen müssen, oder in entlegenen Gebieten sogar ganz geschlossen werden, was die Versorgungsleistungen nur schwer erreichbar und für viele nahezu unerschwinglich macht, bedeutet diese Entwicklung eine reale Senkung des Lebensstandards eines großen Teils der Bevölkerung, d.h. Verarmung. In einigen Gebieten muß sogar von Verelendung gesprochen werden. Diejenigen, die von den neuen ökonomischen Freiheiten profitieren, sei es auf dem Lande oder in der Stadt, sind häufig Partei- und Verwaltungskader bzw. deren Familien, die ihre privilegierte Stellung ausnutzen, um billig an Kapital zu kommen, Firmen zu günden, günstige Pachtverträge abzuschließen und staatlich subventionierte Waren einzukaufen.

Die Unzufriedenheit vieler Arbeiter und Bauern wird noch dadurch verstärkt, daß es auf den Märkten heute ein riesiges Warenangebot gibt, ein großer Teil von ihnen es sich aber nicht leisten kann, diese zu kaufen. Die „Bereichert euch!“-Devise von Deng Xiaoping, die ja mit der Einschränkung verknüpft war, daß eben „einige früher, andere später“ reich werden, muß für viele heute wie der blanke Zynismus wirken. So waren es auf den Demonstrationen auch gerade die ArbeiterInnen, die Bilder von Mao Zedong oder sogar Mao-Buttons trugen. Viele Betriebe in Peking — darunter das berühmte hauptstädtische Stahl-Kombinat — und in anderen Teilen des Landes streikten ganz oder teilweise. In einigen Provinzen wurden sogar Fabriken besetzt. In der Provinz Liaoning feuerten sie kurzerhand die korrupten Direktoren von über 100 Unternehmen. Neben den organisierten Protesten der Arbeiter gab es allerdings auch erstmals so etwas wie „riots“, die an Argentinien, Kolumbien oder Algerien erinnerten: Am 22. April, dem Tag der offiziellen Trauerfeier für Hu Yaobang, kam es in Xi’an und Changsha zu militanten Protesten von zehntausenden aufgebrachten Menschen, die Autos anzündeten, Barrikaden bauten und Geschäfte plünderten. Hier zeigt sich ein neues Unruhepotential, das mit der weiteren wirtschaftliche Entwicklung Chinas — egal welche Parteifraktion diese bestimmen sollte — noch wachsen wird: städtische, arbeitslose Jugendliche, umherziehende landlose Bauern sowie pensionierte ArbeiterInnen und Angestellte, die von ihrer Rente nicht leben können. Dieses explosive Gemisch‚ das sich — regional unterschiedlich — noch durch religiöse und ethnische Widersprüche verschärfen kann, wird sich in Zukunft immer wieder entzünden. Anlässe gibt es genug.

Die Fraktionen in der KP Chinas

Die in der bürgerlichen Presse allgemein gemachte Unterteilung in „Refomer“ und „Reformgegner“ vereinfacht ein sehr komplexes Geflecht pesönlicher Beziehungen und politischer Vorstellungen in den Führungsgremien der Partei in unzulässiger Weise. Deng Xiaoping ist zum Beispiel, was die Ökonomie angeht, eindeutig ein Reformer. Er brauchte seine Zöglinge Hu Yaobang und Zhao Ziyang, um seine Reformpolitik gegen die alte Garde sowjetisch-planwirtschaftlich orientierter Parteiveteranen, mit Chen Yun an der Spitze, durchsetzen zu können. Was die politische Ebene betrifft, war Deng immer ein autoritärer Bürokrat, der nichts so haßte wie Masseninitiative und Basisdemokratie. Li Peng entstammt als Adoptivsohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Zhou Enlai der bürokratischen Schicht. Seine Karriere ist ein Musterbeispiel für die Privilegierung von „Kader-Kindern“. Li, verantwortlich u.a. für das chinesische Atomprogramm, kann als kalter Technokrat, versiert in den Methoden modernen Industriemanagments, beschrieben werden. Er ist ein effizienter Vertreter der ökonomischen und politischen Interessen der zunehmend in sich geschlossenen Bürokraten-Schicht, wobei ihn keinerlei ideologische Bindungen behindern. Der verstorbene Hu Yaobang und der jetzt gestürzte Generalsekretär Zhao Ziyang vertraten — soweit das von außen erkennbar war — sowohl eine noch über Dengs Konzept hinausgehende Liberalisierung der Wirtschaftspolitik als auch eine Reform des politischen Systems, die vor allem Intellektuelle befriedigen und soziale Proteste, die zwangsläufig verstärkt entstehen mußten, kanalisieren sollte. Möglicherweise haben sie dabei an eine mit Ungarn vergleichbare Entwicklung gedacht. Daß das die Alleinherrschaft der Partei und die Geschlossenheit der bürokratischen Schicht in ihrer jetzigen Form auf die Dauer gefährden würde, haben Deng und Li frühzeitig erkannt.

Zhao Ziyang
Bild: Votava

Der Fraktionskampf im Mai

Kern des Fraktionskampfes war, daß Zhao Zyiang nicht wie Hu Yaobang kampflos aufgab, sondern sich verteidigte. Er war schon auf der zentralen Partei-Tagung im März für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht und kritisiert worden. Auch die Studentenproteste richteten sich zu Anfang gegen ihn. Seine — von ihm protegierten — Söhne wurden ihm vorgehalten. Für Zhao war an diesem Punkt klar, daß Deng und Li ihn sehr wahrscheinlich opfern würden, um die StudentInnen zu beruhigen. Nach der Devise „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ ging er zum Gegenangriff über, trat durch betont moderate, die Proteste der StudentInnen als patriotisch lobende Äusserungen hervor und versuchte, die Spitze der Kritik gegen Li Peng und Deng Xiaoping zu richten. Li war bei den StudentInnen noch nie beliebt gewesen.

Deng Xiaoping
Bild: Votava

Als Vorsitzender der Erziehungskommission war er seinerzeit verantwortlich für die katastrophale Bildungspolitik. Durch die öffentliche Äußerung während des Gorbatschow-Besuches, daß es einen ZK-Beschluß gäbe, alle wichtigen Entscheidungen erst noch durch Deng Xiaoping. der kein ZK-Mitglied ist, genehmigen zu lassen, gab Zhao praktisch bekannt, daß für die gesamte Politik letztlich Deng verantwortlich ist. Die Bevölkerung in Peking verstand diesen Hinweis genau: kurz darauf tauchten auch eindeutige Anti-Deng Parolen auf. Zhao wird wegen dieser Äußerung jetzt Landesverrat vorgeworfen, da der ZK-Beschluß geheim gewesen sei. Deng Xiaoping, der wahrscheinlich eine Zeitlang bereit gewesen wäre, Li Peng zu opfern, wenn ihn das selbst gerettet hätte, mußte diesen Kampf nun gemeinsam mit Li gewinnen oder verlieren. Möglicherweise war diese Äußerung Zhaos ein schwerer taktischer Fehler, der ihn vermutlich Kopf und Kragen kosten wird.

Li Peng
Bild: Votava

Das Kriegsrecht wurde gegen die Stimme Zhao Ziyangs verhängt und konnte — vorerst — nicht durchgesetzt werden. Die 38. Armee, zuständig für den Schutz der Hauptstadt, verweigerte den Befehl, andere Einheiten ließen sich von friedlichen DemonstrantInnen aufhalten, diskutierten und solidarisierten sich. Damit war der Fraktionskampf zu einem Machtkampf auf Leben und Tod geworden. Zhao Ziyang, offenbar noch nicht völlig ausgeschaltet, versuchte als 1. stellvertretender Vorsitzender der Militärkommission, seinen — wenn auch geringen — Einfluß in der Armee geltend zu machen, um das Schlimmste zu verhindern. Außer von der 38. Armee und von dem Verteidigungsminister Qin Jiwei, der einige Tage offenbar unter Hausarrest stand, wissen wir von keiner Einheit, keinem Militär genau, ob sie sich für Zhao engagierten oder nicht. Zumindest gegen einen Gewalteinsatz der Volksbefreiungsarmee sprachen sich aber viele hohe Militärs, darunter die letzten beiden der berühmten 10 Marschälle, Nie Rongzhen und Xu Xiangtian aus. Angeführt von ExVerteidigungsminister Zhang Aiping und Ex-Generalstabschef Yang Dezhi, unterzeichneten sogar 100 hohe Offiziere einen offenen Brief, der die Aufhebung des Kriegsrechts forderte.

Auch Deng, Vorsitzender der Militärkommission, und Yang Shangkun, der „ständige stellvertretende Vorsitzende“, formierten ihre Kräfte. Armee-Einheiten aus allen Teilen des Landes legten sich wie Zwiebelringe um die Hauptstadt. Wenn man bedenkt, daß Peking ansonsten für alle Einheiten außer der 38. Armee absolut tabu ist, bedeutet die Zahl von über 250.000 Soldaten, die etwa am 23. Mai Peking umlagerten und sich auf über 500.000 — am 7. Juni — steigerte, daß dieser Einsatz der Armee unmöglich mit den Protesten auf dem Tian’anmen-Platz zu tun haben konnte. In näherer Zukunft wird die Öffentlichkeit sicher nicht erfahren, wie nah China in diesen Tagen einem Bürgerkrieg wirklich war. Immerhin benötigte die Koalition der Hardliner Deng-Li-Yang zwei Wochen von der Verhängung (20.5.) bis zur Durchsetzung (3./4.6.) des Kriegsrechts. In diesen 14 Tagen mußten durch Kampf und Kompromiß die Voraussetzungen in der Führung neu geschaffen werden, ein gewaltsames Vorgehen ohne Bruch durchzuhalten.

Ein Beispiel für mehr oder weniger freiwillige Kompromisse gab der Parlamentspräsident Wan Li, der auf Reisen in den USA und Kanada die StudentInnen rechtfertigte, dessen Flugzeug auf dem Heimweg aber nach Shanghai umgeleitet wurde. Dort wurde er in einem Krankenhaus „behandelt“ und tauchte prompt nach dem Massaker als Unterstützer Dengs auf. Auch der Verteidigungminister Qin Jiwei wurde plötzlich aus dem Hausarrest entlassen und nach dem Massaker zumindest von der Presse in seiner alten Funktion erwähnt. Sogar der Außenminister Qian Qichen, der immer fest zu den Zhao-Unterstützern gerechnet wurde, reist herum — die letzten Stationen waren Equador, Kuba, DDR —, um für das neue Regime zu werben. Mit Zhao verschwunden bleiben Hu Qili, Mitglied des ständigen Ausschusses des Politbüros, der sich wohl selbst durch seine Zustimmung zum Kriegsrecht nicht mehr retten konnte, ferner Bao Tong, ein für politische Reformen zuständiger Sekretär Zhaos, und der Kommandeur der 38. Armee.

Das Massaker

Einheiten der 127. Armee, kommandiert von einem Sohn Yang Baibings, Politkommissar der Volksbefreiungsarmee und selbst jüngerer Bruder Yang Shangkuns, rückten in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni auf den Tian’anmen Platz vor. Die Truppen, die bei dem Überfall auf Vietnam schon „Verdienste“ und Erfahrungen erworben hatten, waren, wie aus höchsten Militärkreisen bekannt wurde, mit Aufputschmitteln auf ihren Einsatz „vorbereitet“ worden. Außerdem hatte Li Peng sie besucht und in einer Rede erklärt, 70% der Pekinger Bevölkerung seien Konterrevolutionäre. Ich erspare mir die Beschreibung der Ereignisse, die bekannt sein dürften. Inzwischen liegen — auch im Ausland — zahlreiche Augenzeugenberichte von überlebenden ChinesiInnen vor. Die Zahl der Toten liegt zwischen 3.600 und 20.000; die Zahlen beruhen auf Schätzungen der Krankenhäuser, des Roten Kreuzes (inoffiziell), eines ausländischen Arztes, der in dieser Nacht verschiedene Krankenhäuser besuchte. Das Terrorregime konsolidiert sich inzwischen mit einer Welle von Massenverhaftungen, denen Tausende im ganzen Land zum Opfer fallen. Telefonnummern werden bekanntgegeben, unter denen man Menschen denunzieren kann. Der Massenmord wird — obwohl der ganzen Welt unzählige Beweise vorliegen — schlicht geleugnet.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1989
, Seite 23
Autor/inn/en:

Martin Friedrich: Sinologe, lebt auf dem Lande in Nordrhein-Westfalen/BRD.

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