Context XXI » Print » Jahrgang 2005 » Heft 1-2/2005
Nasi Missouri

Taliban in Falluja

In der zentralirakischen Stadt Falluja zeigten die salafitischen Islamisten welche Gesellschaft ihnen vorschwebt.

Die Stadt Falluja mit einer Viertelmillion Einwoh­nerInnen liegt westlich von Bagdad an einem wichtigen Kreuzungspunkt nach Syrien und Jorda­nien. Die Stadt ist umgeben von einem Grünland­streifen mit Dattelpalmen. Bis zum Sturz Saddam Husseins war Falluja eine weitgehend unbekannte Provinzstadt, die jedoch einen auffallend hohen An­teil an Beamten, Geheimdienstangehörigen, Polizisten und Mitgliedern der Republikanischen Garden stellte. Als Vertreter des Regimes arbeiteten diese Männer aus Falluja in allen Städten des Irak. Nach dem Sturz des Regimes und der damit verbundenen Auflösung der Geheimdienste und der Republikanischen Garden kehrten sie jedoch nach Falluja zurück, wo sie sich versteckt hielten. Als ihnen Monate nach dem Sturz des Regimes klar wurde, dass ihnen keine Verfolgung drohte, kamen sie aus ihren Verstecken und wurden als ein Heer von Arbeitslosen in der Stadt sichtbar. Mit der Hilfe der Reste der Ba’th-Partei konnten sie sich rasch wieder organisieren. Gleichzeitig wurden radikale salafitische Gruppierungen in der Stadt ak­tiv. So fand schon wenige Wochen nach dem Sturz Saddam Husseins die erste Demonstration gegen die USA in Falluja statt. Bald kam es zu ersten bewaffneten Angriffen auf die US-Truppen in der Stadt. Ange­sichts der offenen Grenzen des Irak fiel es arabischen Freiwilligen leicht in das Land einzusickern. Die bes­ten Ausgangspunkte für diese arabischen Freiwilligen bildeten die arabisch-sunnitischen Städte, insbeson­dere das verkehrstechnisch und strategisch günstig gelegene Falluja, wo sie in der Umgebung ihre Lager aufschlugen. Der erste Angriff der US-Truppen mit Flugzeugen und Raketen nach dem Ende des Krieges richtete sich gegen ein solches Lager arabischer Mujahedin in der Umgebung von Falluja. Im Herbst 2003 nahm auch in anderen Städten des sogenannten „Sun­nitischen Dreiecks“ die Gewalt zu. In Falluja über­nahmen sukzessive die Mujahedin die Kontrolle über die Stadt und führen die Sharia nach dem Vorbild der Taliban in Afghanistan ein.

Der Traum dieser Grup­pen war die Errichtung eines Khalifats (hilafa al-islamiya, islamischer Nachfolgestaat). Al­lerdings existieren keine schrift­lichen Texte oder einheitlichen Theorien dieser Gruppierungen. Sie propagieren vielmehr einen weltweiten Gihad (alamiyat al- gihad) gegen den Westen, den „Zionismus“, „Amerikanismus“, „Imperialismus“ und alles an­dere Böse auf der Welt und bekämpfen diesen, wo auch immer sie sich Erfolg erhoffen: in Af­ghanistan, Tschetschenien oder eben im Irak. Im Irak erwählten sie Falluja zum Ausgangspunkt ihres Gihad, um dort ein Regime wie das der Taliban in Afghanistan zu errichten.

Die insgesamt 80 Moscheen in der Stadt wurden von den Mujahedin zu Stützpunkten ihrer Bewegun­gen ausgebaut. Von dort gingen nicht nur die politi­schen, sondern auch die militärischen Aktivitäten aus. Dort übernachteten die arabischen Freiwilligen. In den Moscheen wurden Waffen gehortet, Gefangene gehalten und Geiseln vor laufender Videokamera ent­hauptet. In den Moscheen und in anderen Teilen der Stadt wurden Bilder von Bin Laden und Mullah Omar aufgehängt. Die Mujahedin mischten sich in das Pri­vatleben der Bevölkerung ein. Der Bevölkerung wurde ihre Kleidung, ihre Nahrung und ihre Getränke vor­geschrieben. Die Frauen mussten nach afghanischem Vorbild eine schwarze Burka tragen. Den Männern wurde verboten ihren Bart zu rasieren. Musik, Gesang und Tanz wurden ebenso verboten wie das Fernsehen. Die Bibliothek der Stadt wurde verwüstet, die Bücher verbrannt. Das Sportstadion wurde zu einem Fried­hof verwandelt. Die Familien wurden gezwungen, ihre Töchter ab dem Alter von zehn Jahren mit den Mujahedin zu verheiraten. Viele dieser Mujahedin ha­ben bereits in jedem Land, in dem sie waren, junge Mädchen geheiratet und sind zusätzlich noch in ihrem Heimatland verheiratet. Die jungen Mädchen, die sie in einem Alter heiraten müssen, in dem sie in jedem anderen Land wegen Kindesmissbrauchs vor Gericht stehen würden, haben keine Chance jemals wieder ein eigenes Leben zu führen.

Die meisten Enthauptungen von Gefangenen fan­den in Falluja statt. Den Geiseln wurde vorgeworfen, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten und wur­den meist sogleich hingerichtet.

Viele wurden nur aufgrund ihrer Identität als Kur­den, Christen oder Schiiten hingerichtet. Die salafitischen Warlords können keinerlei Differenz ertragen. Alle, die nicht in ihr Bild der Umma (der islamischen Gemeinschaft) passen stehen auf der Abschussliste. Einige der Spezialisten für das Köpfen von Gefangenen wurden in Falluja geradezu berühmt. Sie glauben ihre Tätigkeit würde sie als Teil des Gihad direkt ins Paradies bringen. Nur wenige Geiseln konnten sich durch Zahlung von Lösegeld freikaufen. Mit diesem Löse­geld können sich die Mujahedin ihren Lebensunterhalt und ihre militärischen Aus­gaben finanzieren. Weitere Einnahmen stammen aus Überfällen auf Reisende zwischen Bagdad, Syrien und Jordanien, denen Schmuck und Geld geraubt wird. Selbst Kinder wurden bei diesen Raubüberfällen angegriffen. Die Mujahedin sehen ihre Raubzüge als legitime Kriegsbeute, was im Islam als halal (erlaubt) gilt.

Trotz ihres Hasses auf die Amerikaner erlauben sie befreundeten Unternehmern für die US-Verwaltung z.B. Bauaufträge anzunehmen, wenn diese dann im Ge­genzug einige Prozente als zakat (Armen­steuer) an die Mujahedin abliefem. Eine weitere Säule ihrer Finanzierung stellen die Spenden aus Saudi-Arabien, anderen Golfstaaten und einigen Organisationen aus Europa dar.

Falluja stellte unter der Herrschaft der Mujahedin jedoch auch den Mittelpunkt der irakischen Anschlagsindustrie. Im Industrieviertel von Falluja wurden die KFZ-Werkstätten zu Bombenwerkstät­ten umgebaut. Die Erfahrung der Auto­mechaniker in den Werkstätten wurde genutzt um Autobomben zu präparieren und Autos so zu konstruieren, dass sie möglichst tödliche Bomben transportie­ren können. Selbst die Fahrer wurden so mit dem Auto fixiert, dass sie das Auto nicht mehr verlassen konnten, sodass oft nach einem Anschlag die am Lenkrad fixierten Hände eines Selbstmordattentä­ters gefunden wurden.

Die Gehirnwäsche bei den Mujahedin funktioniert gut. Jeder Selbstmordatten­täter lässt sich auf eine Liste von shahadat (Märtyrern) schreiben. Kommt er an die Reihe, verübt er seinen Anschlag und denkt, dass er sofort in das Paradies kommt. Die Selbstmordattentäter werden von ihren Kommandan­ten vor ihrem Anschlag unter den Einfluss von Medikamenten ge­setzt. Auch bei anderen Angriffen werden Drogen eingenommen.

Früher waren diese Drogen und Tabletten in Falluja unbe­kannt. Sie wurden von den Mu­jahedin mitgebracht. Sie hatten sogar die Mohnsamen zur eigenen Heroin- und Opiumproduktion aus Afghanistan mit nach Falluja gebracht. Sie spekulierten wohl auf einen längeren Aufenthalt in Falluja.

Die Mehrheit der Bevölkerung Fallujas hatte keine Freude mit den Aktivitäten dieser salafitischen Banden. Allerdings wurde jeder Wider­spruch im Keim erstickt. Die Präsenz der bewaffneten Mujahedin auf den Straßen war zu erdrückend. Die Mujahedin hatten ihre Waffen nicht nur den ganzen Tag bei sich, gingen mit ihnen einkaufen oder in die Moschee, sondern schliefen sogar mit ihnen. Jeder, der ihre Herrschaft nicht akzeptierte, wurde aus dem Weg geräumt. Die Angst verfolgte die Frauen und Männer Fallujas wie ein Schatten. Selbst die Kinder hatten ihre Leichtigkeit verloren.

Die Mujahedin hatten gehofft lan­ge an der Macht zu bleiben. Allein sie hatten sich damit verkalkuliert. Wo auch immer diese Terroristen hin kom­men, folgt ihnen ihr eigenes Scheitern. Bin Laden war Bauunternehmer, der in Afghanistan zum Vernichtungsun­ternehmer wurde und die afghanische Bevölkerung in die Hölle schickte. In Tschetschenien haben die Mujahedin um Khattab und Bassajew mit ihrem Angriff auf Dagestan den zweiten Tschet­schenienkrieg losgelöst und damit die Unabhängigkeit Tschetscheniens zerstört. Diese internationalen Gihadisten haben letztlich die Vertreibung der tschetsche­nischen Bevölkerung durch die russische Armee mitverursacht. Auch in Falluja haben sie nichts als Zerstörung hinter­lassen. 70 Prozent der Bevölkerung sind geflüchtet, große Teile der Stadt zerstört. Zarkawi ist geflüchtet. Der Traum der Er­richtung eines islamischen Gottesstaates ist zu einem Alptraum geworden.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
2005
, Seite 20
Autor/inn/en:

Nasi Missouri: Nasi Missouri ist Vertreter der Irakischen Kommunistischen Partei in Wien.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar

Geographie