MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 49
Uwe Klußmann
DDR: Eine Partei gibt auf

SED-ade!

Was Ende der vierziger Jahre mit Stalin-Schulungen begann, endet mit Umschulung. Die SED ändert als Folge der ‚Revolution‘ in der DDR Parteinamen und Programm. Mit einem Rückgriff auf sozialdemokratische Traditionen und Politik versucht die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands/Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS), den Anschluß an die BRD zu verhindern. Die Transformation der einst stärksten kommunistischen Partei neben der KPdSU führt ins Ungewisse.

Egon Krenz, der letzte in der letzten Reihe
Bild: Contrast / Erwin Schuh

Der Doppelname der Partei als Symbol einer Problemkette: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands — Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS). Den neuen Namen beschloß die Partei in geheimer Sitzung ihres ausserordentlichen Parteitages am 16. Dezember 1989 in der Ost-Berliner Dynamo-Sporthalle. „Demokratischer Sozialismus“ — das galt noch vor wenigen Monaten bei den führenden Vertretern der SED und ihren Verlautbarungen als Inbegriff des Revisionismus und der Konterrevolution in der vermeintlich heilen Welt des realen Sozialismus. Doch die Zeiten ändern sich und mit ihnen die politischen Sitten. Waren Parteitage der SED in vergangenen Jahrzehnten stets repräsentative Fest- und Jubelveranstaltungen zur Feier der zuvor vom zentralen Parteiapparat festgelegten Linie, so hat die Volksbewegung in der DDR die Strukturen der SED in den Grundfesten erschüttert. Versuchte die Parteiführung unter dem letzten Generalsekretär Egon Krenz noch im Oktober und November ’89, die Macht der Politbürokratie durch zögernde Kompromisse gegenüber der Protestbewegung und durch veränderte Rhetorik zu bewahren, brachte kurz darauf die Empörung in Volk und Parteivolk über zahlreiche Fälle von Korruption und Machtmißbrauch durch das Honeckersche Politbüro den Krenz-Kurs zum Scheitern.

In der nur 44 Tage währenden Ära Krenz verließen mehrere hunderttausend Mitglieder die einst 2,3 Millionen Mitglieder starke Partei. Am 3. Dezember trat das letzte Politbüro und Zentralkomitee der SED zurück und übergab die Leitung der Partei und die Vorbereitung des von der Parteibasis erzwungenen ausserordentlichen Parteitages an einen Arbeitsausschuß, dem profilierte „Erneuerer“ und in der Honecker-Ära gemaßregelte Genossen angehörten.

Land ohne Ersatzteile

Dem vom Arbeitsausschuß vorbereiteten Parteitag der SED im Dezember gelang es, die drohende Spaltung der Partei durch eine programmatische Neuorientierung und die Wahl eines von der Basis der Partei akzeptierten Parteivorstandes zu verhindern. Der neugewählte Vorsitzende der SED-PDS, der 41 Jahre alte Rechtsanwalt Gregor Gysi, hat den früheren Generalsekretären intellektuelles Niveau und Glaubwürdigkeit voraus. Gysi vertrat in den siebziger Jahren die sozialistischen SED-Kritiker Rudolf Bahro und Robert Havemann vor Gericht, bemühte sich nach den verfälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 um Einsicht in die Wahlunterlagen, was ihm die Parteibürokratie verwehrte, und kümmerte sich als Vorsitzender eines SED-Untersuchungsausschusses im Dezember 1989 um die Aufdeckung von Machtmißbrauch durch die alte Parteiführung.

Der außerordentliche SED-PDS-Parteitag beschäftigte sich in einem Referat des Parteivorstandsmitgliedes Professor Michael Schumann mit dem „Stalinismus als politischem System“, problematisierte die langjährige „enge Abhängigkeit von der jeweiligen sowjetischen Führung“, die die SED-Politik bis 1985 prägte — bis zum Beginn der Ära Gorbatschow, deren innenpolitische Auswirkungen auf die DDR Honecker mit Maßnahmen wie dem Verbot sowjetischer Filme und Zeitschriften erfolglos zu begegnen versuchte. Es war ein Parteitag der offenen Worte. Ein Arbeiter aus dem Bezirk Halle klagte, daß es „keine Ersatzteile“ gibt, ein SED-Genosse, der in der Zeit des Stalinismus jeweils vier Jahre in sowjetischer und DDR-Haft verbrachte, berichtete, wie „durch den Apparat kritische Äußerungen unterdrückt“ wurden, und ein Grenzsoldat bekannte, er und seine Kameraden seien jahrelang „mißbraucht und zu Anstaltswärtern für ein ganzes Volk erniedrigt“ worden.

Rudolf Bahro, 1977 wegen seines Buches „Die Alternative — zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ zu einer Haftstrafe von acht Jahren verurteilt, von denen er zwei absaß, verkündete als Gast den Delegierten sein Konzept des Ausstiegs aus dem Industriesystem, während einige ehemalige Politbüromitglieder um den im November ’89 gestürzten langjährigen Chefideologen Kurt Hager, die als Gäste an dem Parteitag teilnahmen, verständnislos ihre Köpfe schüttelten. Das Parteitagspräsidium hatte eine Bitte Hagers, vor den Delegierten zu sprechen, abgelehnt, sodaß dem einstigen obersten Zensor und Linienrichter des Kultur- und Wissenschaftsbetriebes der DDR nichts anderes übrig blieb, als auf den Fluren im tête à tête mit Delegierten und Journalisten eine Mischung aus Reue („Ich fühle mich schuldig“) und Rechtfertigungen („Ich habe immer den Kulturbund unterstützt“) zu servieren.

Die Macht des alten zentralen Apparates der Partei ist im Dezember 1989 zerbrochen, die Trennung von Partei und Staat ist vollzogen und die führende Rolle der SED aus der Verfassung gestrichen, die Regierung wird nicht mehr von einem Politbüro, sondern von der Volkskammer kontrolliert. Der verbliebene Parteiapparat wird erheblich verkleinert, mit einschneidenden Folgen für die Existenz vieler Funktionäre, die zu den ersten Arbeitslosen der Republik gehören.

Verkauft Volkseigentum, Genossen!

Der neue Cheftheoretiker des Parteivorstandes, Dieter Klein von der Humboldt-Universität Berlin, erläuterte den Delegierten das neue Sozialismusverständnis der Partei, das sich zugleich auf Lenin und Kautsky, auf Eduard Bernstein und Ernst Thälmann beruft und aus einem Amalgam linkssozialdemokratischer und kommunistischer Elemente besteht. In diesem Sinne bekundet das Statut der neuen Partei, die SED-PDS fühle sich „der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung verbunden“, und ergeht sich damit in einem Spagat, der eine Spaltung nach ungarischem Muster verhindern soll. Ob die „Konsolidierung der Partei“, für die Gregor Gysi auf dem Parteitag plädierte, mit dieser pragmatischen Konzeption auf Dauer möglich ist, erscheint fraglich.

Schon schließen sich Kommunisten in der SED-PDS unter Berufung auf die Traditionen Lenins und Bucharins zu einer kommunistischen Plattform zusammen, während auf der anderen Seite des sich entwickelnden Strömungspluralismus in der SED-PDS 11 Grundorganisationen aus Berlin für eine „sozialistische Volkspartei“ sozialdemokratischen Zuschnitts eintreten. Die DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft (SED-PDS) und ihre Klientel aus Direktoren zahlreicher DDR-Betriebe favorisieren indessen eine Politik, die sich von der ihrer ungarischen Kollegen kaum unterscheidet. Bevor Christa Luft den Delegierten des SED-Parteitages vage versprach: „Wir werden Subventionsabbau so betreiben, daß es nicht zu Lasten der sozialen Errungenschaften in unserem Lande geht“, war sie im BRD-Journal „Wirtschaftswoche“ vom 8. Dezember 1989 ein wenig konkreter geworden als vor ihren Genossen in der Dynamo-Sporthalle. Die DDR-Wirtschaftsministerin propagiert den „Erwerb staatlicher Wohnungen als Eigentumswohnungen“, die Verwandlung der Wohnung in eine Ware und generell den „Verkauf von Volkseigentum“. Als nächste Schritte der von ihr angestrebten Wirtschaftsreform sieht sie die „Umwandlung der staatlichen Betriebe in Aktiengesellschaften und die Schaffung einer Börse“. Auf die Frage der „Wirtschaftswoche“, wozu man da noch den Sozialismus nötig habe, reagierte die DDR-Wirtschaftsministerin mit einem Offenbarungseid: „Es ist für mich heute schwer zu sagen, dies ist kapitalistisch und jenes sozialistisch.“

Erst erwachsen sein ...

Auf das Luftsche Rekapitalisierungsprogramm, garniert mit treuherzigen Lippenbekenntnissen gegen den Ausverkauf der DDR, reagierte der Leiter der Kommission für Wirtschafts- und Sozialpolitik beim Parteivorstand der SED-PDS, Norbert Nowakowsky, mit herber Kritik. Er nannte den Verkauf von Aktien und die geplante 49% Beteiligung kapitalistischer Firmen an DDR-Betrieben „Verrat an der Arbeiterklasse, Verrat am Volk der DDR“. Nowakowsky mußte für seinen insgesamt etwas grobschlächtigen Beitrag heftige Attacken einstecken, und der stellvertretende Parteivorsitzende und Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer dachte schon mal laut über eine Abwahl Nowakowskys nach.

Widersprüche zwischen der SED-PDS-geführten Regierung und der Partei zeichnen sich ab und deuten auf eine Verschärfung des Konflikts zwischen sozialistischem Anspruch und zunehmend sozialdemokratischer Praxis hin. Während Ministerpräsident Modrow sich selbst „konföderative Strukturen“ zwischen BRD und DDR vorstellen kann, warnt Gregor Gysi davoor, die DDR zum „Armenhaus der BRD“ verkommen zu lassen.

... und dann heiraten

Die Enthüllungen über die (gemessen am Lebensstil der westdeutschen Bourgeoisie vergleichsweise lächerlichen) Privilegien der alten SED-Granden — wie die Jagdhütte des Ex-Gewerkschaftschefs Harry Tisch mit Sofa und drei Hirschgeweihen an der Wand — haben nicht die nüchterne Erkenntnis erbracht, daß man jahrelang von geschmacklosen Kleinbürgern regiert wurde, sondern einen massiven Schwund an Selbstbewußtsein bei vielen DDR-Bürgern bewirkt. Angesichts einer korrupten Führung und deren Mißwirtschaft hat in weiten Teilen des DDR-Volks ein massenpsychologischer Umkehrprozeß mit einer Umwertung der Werte eingesetzt, der selbst bei vielen ehemaligen SED-Genossen zu einem Stimmungsumschwung für den Anschluß an die BRD geführt hat. Gegenwärtig gibt es, Umfragen zufolge, noch eine Zweidrittelmehrheit von DDR-Bürgern für eine souveräne DDR. Viele der derzeitigen Wiedervereinigungsgegner in der DDR sind aber bei näherer Nachfrage durchaus geneigt, einer schrittweisen Vereinigung beider Staaten zuzustimmen und fordern vor der anvisierten Ehe mit dem West-Onkel nur noch ein wenig Schonzeit. Wie jene Sprecherin des „Neuen Forum“ auf einer Kundgebung zehntausender DDR-Bürger gegen Wiedervereinigung in Berlin/DDR am 19. Dezember, die für das Motto warb: „Erst erwachsen werden, dann vielleicht heiraten.“ Diese Bewußtseinslage dokumentiert nicht nur den Wunsch, sich vor dem Hinsinken über die gesamtdeutsche Bettkante erst einmal von den Strapazen der vergangenen Monate zu erholen, sondern auch die Ahnung, daß der „demokratische Sozialismus“ zwar eine sympathische Zielvorstellung, aber bislang kein in der Praxis erprobtes System ist und der Niedergang des „realen Sozialismus“ allenthalben keinen besseren und bunteren, sondern gar keinen Sozialismus mehr hervorbringt.

In erheblichen Teilen der DDR-Bevölkerung, vor allem bei Arbeitern und Handwerkern, insbesondere in den Bezirken Leipzig und Dresden, geht die Stimmung massiv nach rechts. In Dresden wurde Helmut Kohl im Dezember 1989 enthusiastischer empfangen als auf einem Kongreß der „Jungen Union“, und auf den Leipziger Montagsdemos herrscht mittlerweile eine Stimmung vor, die wie eine Mischung aus CSU-Versammlung und „Republikaner“-Parteitag wirkt. Ausländerhasser und Neonazis haben zwischen Oder und Werra nach der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit Auftrieb wie nie zuvor und sorgen mit Friedhofsschändungen, Schmieraktionen, Schlägereien und Morddrohungen für ein Klima der Angst und der Einschüchterung. Angesichts des Aufkommens einer rechtsradikalen Welle in der DDR zeigt sich die SED-PDS neben anderen kleineren Gruppen wie der „Vereinigten Linken“ als die stärkste Strömung der Linken und des Antifaschismus in der DDR. Sie tritt als einzig relevante Partei entschieden für die Eigenständigkeit und Eigenstaatlichkeit der DDR ein. Nach der Diskreditierung der früheren SED, dem weitgehenden Zusammenbruch der von der alten SED gelenkten und nun eigenständigen „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) und dem Zerbröckeln des „Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes“ (FDGB), der zum Reisebüro und Anhängsel der Parteibürokratie verkommen war, hat die SED-PDS in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einen schweren Stand. Doch die Parteiführung um Gregor Gysi kann mit Sympathien auch weit über die Reihen ihrer Partei hinaus rechnen, vor allem dann, wenn die SED-PDS wie am 3. Januar mit 200.000 Demonstranten in Berlin/DDR gemeinsam mit anderen dafür mobilisiert, daß die DDR nicht zum Tummelplatz für Neofaschisten und zum Aufmarschfeld eines „Vierten Reiches“ wird.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1990
, Seite 36
Autor/inn/en:

Uwe Klußmann:

Historiker, Journalist, Mitarbeiter der in Berlin (DDR) erscheinenden Zeitschrift „Die Weltbühne“.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags