MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 57
Andrea Komlosy
Wahlrechtskampf in Österreich-Ungarn

Nicht russischer als Rußland!

Tausende WienerInnen drängten sich am Abend des 2. November 1905 vor den Sophiensälen im 3. Bezirk, wo die Sozialdemokratische Partei eine Versammlung für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht abhielt. Sie fanden keinen Einlaß in den überfüllten Saal. Die Kundgebung, die die Draußengebliebenen kurzerhand unter freiem Himmel abhielten, sollte jener im Saal an Begeisterung jedoch ums nichts nachstehen. Um 9 Uhr setzten sich die WahlrechtskämpferInnen, 20 rote Fahnen an der Spitze des Zuges, in Richtung Ringstraße in Bewegung.

Wahlrechtsdemonstration in Wien, 28.11.1905

Kurien und Zensus

Schon Anfang der 1890er Jahre hatte die Arbeiterbewegung der Wahlrechtsforderung in machtvollen Straßenaktionen Ausdruck verliehen — damals noch, wie das Hainfelder Programm der Sozialdemokratie besagte, „ohne sich über den Wert des Parlamentarismus, einer Form der modernen Klassenherrschaft, irgendwie zu täuschen“. Die Reform, die die konservativ-kleinbürgerliche Koalitionsregierung Taaffe unter dem Druck der Ereignisse des Jahres 1893 zuzugestehen bereit war, scheiterte jedoch am Veto des deutsch-liberalen Bürgertums. Das verzerrende Kurien- und Zensuswahlrecht blieb weiter bestehen: Wahlberechtigt war nur, wer wirtschaftlich selbständig war und eine bestimmte Steuerleistung erbrachte. Die Wahlberechtigten wiederum waren je nach Stand und Wohnort Kurien (Wählerklassen) mit sehr unterschiedlichem politischem Gewicht zugeteilt.

Anstatt das Kuriensystem abzuschaffen, verallgemeinerte Ministerpräsident Badeni im Jahr 1895 das Wahlrecht, indem er eine fünfte, steuerleistungsunabhängige Wählerklasse schuf. Hier durfte jeder männliche Staatsbürger ab dem 24. Lebensjahr seine Stimme abgeben, der einzige Haken: sie zählte fast nichts. Während in der Kurie der Großgrundbesitzer und der Handels- und Gewerbekammern einem Abgeordneten je 25, in der Städtekurie je 6.000 und in den Landgemeinden je 13.000 Wahlberechtigte gegenüberstanden, vertrat ein Abgeordneter der Allgemeinen Wählerklasse gleich 60.000 Wähler im Parlament. Aber immerhin: Mit 14 Abgeordneten gelang den Sozialdemokraten bei den 1896er Wahlen der Einzug in den Reichsrat. Und obwohl sie weiterhin den Anspruch auf ein allgemeines, gleiches Wahlrecht vertraten, war die Luft aus der Bewegung raus.

Ein taktisches Manöver des Kaisers setzte den Wahlrechtskampf im September 1905 wieder auf die Tagesordnung. Um den ungarischen Großgrundbesitz zu schwächen, plädierte Kaiser Franz Joseph, König von Ungarn, für ein allgemeines Wahlrecht ins ungarische Parlament. Der Ministerpräsident der österreichischen Reichshälfte, Baron Gautsch, erhob dagegen Einspruch. Es entstehe dadurch „die Gefahr, daß das allgemeine Wahlrecht auch in Österreich eingeführt werden müßte“.

Der Parteitag der Sozialdemokraten am 30./31. Oktober 1905 brachte frischen Wind in den Wahlrechtskampf. Mitten in den Vortrag des Genossen Ellenbogen platzte ein Telegramm aus Rußland. Zar Nikolaus II. hatte den aufständischen ArbeiterInnen in einem Manifest die Einführung bürgerlicher Freiheiten sowie das allgemeine Wahlrecht zugestanden. Als Ellenbogen sein Referat fortsetzte, trug auch er der allgemeinen Stimmung Rechnung: „Nun, wenn es darauf ankommt, wird das gemütliche und besonnene Proletariat Österreichs auch russisch reden können.“ Und er erinnerte die Genossen an die Waffe, „die als letzte, stärkste und entschiedenste geblieben ist, an die Lahmlegung aller Produktion, den Massenstreik“.

Von der Straße ...

Die für den 2. November anberaumte Wahlrechtsversammlung in den Sophiensälen mündete im Taumel der Ereignisse in einem Demonstrationszug auf die Wiener Ringstraße. Auf der Höhe der Babenbergerstraße jedoch, noch bevor Burg und Parlament erreicht waren, riegelte ein Polizeikordon den Ring ab. „Polizisten reiten in die Menge, mit blanken Säbeln schlagen, hauen, stechen sie auf die Arbeiter ein. Von den Hufen der Pferde niedergerannt, wälzen sich die Menschen auf dem Boden“, schilderte die „Arbeiter-Zeitung“ den Überraschungsangriff der Polizisten, der über 100 Verletzte forderte. In Prag, wo sich zur Wahlrechtsbewegung ein Lohnkampf der Eisenbahner dazugesellte, forderten blutige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften sogar Tote. Am 5. November, dem „Wahlrechtssonntag“, fanden in allen größeren Städten der Monarchie Kundgebungen statt. In Prag und in Linz begannen die Eisenbahner, den Verkehr mit „passiver Resistenz“ lahmzulegen. Auch die Christlichsoziale Partei sprach sich, allerdings in scharfer Polemik gegen die Sozialdemokratie, für das allgemeine Wahlrecht aus.

Die Regierung mußte einlenken. Ministerpräsident Gautsch erklärte im „Wiener Abendblatt“ seine Bereitschaft zur Vorlage einer Wahlreform. Die Sozialdemokraten pfiff Gautsch indes ins Parlament zurück: „Es liegt im Interesse der Volkskreise, die die Reform wünschen, durch ihr Verhalten zu bezeugen, daß sie in jedem Sinn politisch reif sind — auch für ein neues Wahlrecht. Das Parlament, nicht die Straße, ist der Ort, wo die Entscheidung darüber zu fallen hat.“

... ins Parlament

Die für den 28. November — an diesem Tag sollte das Parlament das nächste Mal zusammentreten — geplante Massendemonstration war nicht zu stoppen. Die Parteileitung tat alles in ihrer Macht Stehende, um die Aktion unter Kontrolle zu behalten und die Stoßrichtung auf das Wahlrecht zu beschränken. „Marschiert wird in geschlossener Formation, 10 Mann pro Reihe, mit Ordnern an jeder Seite.“ Schon Tage vorher veröffentlichte die „Arbeiter-Zeitung“ Treffpunkte, Marschrouten, Demonstrationsregeln. Zuspätkommende wurden ebensowenig geduldet wie Parolen. Das Unternehmen gelang: Eine Viertelmillion Menschen zog am 28. November, Fahnen und Transparente tragend, in militärischer Disziplin am Parlament vorbei. Die Regierung kündigte die Durchführung der Wahlreform an.

Bei den Reichsratswahlen 1907 war es schließlich so weit. Mit 87 Abgeordneten zogen die Sozialdemokraten als zweitstärkste Kraft ins Parlament ein. Detail am Rande: Nicht nur unter den 516 Abgeordneten des Reichsrats, auch unter den Wählern befand sich keine einzige Frau. Die letzten privilegierten, in der ersten Wählerklasse wahlberechtigten Großgrundbesitzerinnen hatten mit der Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts ihre Stimme verloren. Ihr und ihrer minder privilegierten Geschlechtsgenossinen Pech: Es war ein Männerwahlrecht.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1990
, Seite 74
Autor/inn/en:

Andrea Komlosy:

Geboren 1957 in Wien, Wirtschafts- und Sozialhistorikerin ebenda.

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