MOZ » Jahrgang 1989 » Nummer 46
Franz Schandl

Neues Denken, Neue Politik

Inklusive: Ein Russe in Amerika

Seit einigen Wochen steht der gute Boris Jelzin Kopf: „Alle meine Eindrücke über Kapitalismus, über die Vereinigten Staaten, die mir im Lauf der Jahre eingebläut wurden — sie alle haben sich um 180 Grad verändert“, durfte er anläßlich seiner Sightseeing-Tour der internationalen Presse verkünden.

Er kam, sah und kippte um. Ob das nun auf einen übermäßigen Genuß amerikanischer Trinkkultur, Marke Jack Daniels Black Label Whisky, zurückzuführen sei wie die italienische „La Repubblica“ berichtete — oder nicht, ist da schon egal.
Eine Art ungustiöser Rausch war es sicher. In welchem Verhältnis da besoffene Torkelei zu ideologischer Ferkelei steht, können und mögen wir gar nicht beurteilen, es ist auch von ganz geringer Bedeutung.

Doch der Boris hat Konjunktur, auch wenn oder besser: gerade weil er kein Programm hat. Zu Hause kämpft die wandelnde „Verkörperung des Volkszorns“ wie Boris Kargalitzky von der Sozialistischen Initiative Moskaus ihn nennt — gegen Korruption und Bürokratie und vor allem für sich selbst und seine Karriere abseits der Karriereleiter. So wünscht der Westen sich seine Politiker, da wie dort, Quereinsteiger schätzt er ganz besonders.

Jelzin gefällt, weil er Vorurteile bestätigt. Da offenbart einer treffend den engen Horizont und die geistige Beschränktheit leitender Kader östlicher KPen (mit und ohne Umbruch). Da brilliert ein Russe im Bild des Russen wie’s grotesker nicht mehr geht. Die ekelerregende Inszenierung des Stückes „Ein Russe in Amerika“, mit einer obligaten Bekehrung zum Abschluß, gebraucht unseres und unseren dümmlichen Populisten als Kronzeugen westlichen Antikommunismus. Der Antikommunismus sinkt so bloß in dem Ausmaß, indem die Kommunisten nicht mehr ernst zu nehmen sind.

Der Westen und seine Freiheit, d.h. die freie Marktwirtschaft, sind heute wieder im Vormarsch. In den Köpfen vieler Ostbüger sind sie schon einmarschiert. Die restliche Arbeit müssen die Oppositionellen, die bald oder schon an der Macht sind, selbst erledigen.

Denn nicht die Erneuerung des Kommunismus wird beklatscht — gäbe es die, würde man eher militärische Übergriffe statt Kredite überlegen — sondern seine mögliche Sprengung. (Dafür spricht auch, daß die westliche Linke bisher überhaupt nicht von der Perestroika profitieren konnte, im Gegenteil diese ihren Bankrott erst gänzlich besiegelte.) Diese Vision der ganzen Welt als ’freien’ Welt soll nicht mehr länger Utopie sein. Polen und Ungarn machen schon fleißig mit, jetzt werden die DDR und die CSSR in die Zange genommen.

Und jedes Land gebiert seine Jelzins. Der gute Fürst und seine Ritter ohne Furcht und Tadel sollen die Ostländer von den kommunistischen Bürokraten befreien.
Unterstützt von westlichem Kapital, der katholischen Kirche und spektakulären Medienkampagnen soll ein Märchen wahr werden. Neue Männer präsentieren diese östliche Aufgeschlossenheit, die der Angeschlossenheit vom östlichen Europaarm an das westliche Europareich vorangeht.

Imre Poszgay, unser ungarischer Renegat, möchte jetzt Präsident werden. Was gelingen dürfte. Nur ein ‚echter‘ Blaublütler könnte ihm im neuen Ungarn noch die Stefanskrone stehlen, einer mit Stammbaum bis ins 10. Jahrhundert: der Kaiserbub Otto. So dachte die Partei der Kleinen Landwirte auch allen Emstes an eine Kandidatur des europäischen Groß-Latifundisten. Würde dann im Fall des Falles Österreich nachziehen und Waldheim abstoßen, dann könnte sich der Traum mancher Mitteleuropäer, die Doppeldonaudemokratie, erfüllen.

Lech Walesa wieder, der Führer der polnischen Arbeiter, eilt von einer Betteltour im Westen zur nächsten. Im ARD (vgl. etwa KONKRET 10/89) bat er doch, Polen endlich Europa anzuschliessen und die Marktwirtschaft einzuführen. Er versprach billige Arbeitskräfte und fette Gewinne. Verrenkungen, Kniefälle und Gebete kennzeichnen diese Pilgerfahrt, deren Motto lautet: Bitte nehmt uns, bitte nehmt uns, bitte nehmt uns endlich aus.

Aber auch der Westen weiß noch nicht so recht, was er mit den neuen Märkten anfangen soll. Klar, der real existierende Sozialismus, diese Profitverhinderungspartie, muß weg. Was aber dann? Die Ablehnung der vor allem von westlichen Sozialdemokraten erhobenen Forderung nach einem Marshallplan für Osteuropa läßt schließen, daß man hier keinen zukünftigen Konkurrenten hochzüchten will, sondern bloß an kapitalistische Hinterhöfe und Absatzmärkte denkt, freilich an solche, die sich von jenen der „Dritten Welt“ wohltuend unterscheiden. Schließlich leben wir ja in Europa, in einer vom Totalitarismus befreiten Zivilisation, oder?

Das neue Denken entwikkelt sich zusehends zu einem Gehilfen imperialistischer Gelüste. Mit dem alten Denken hat es vor allem die Gedankenlosigkeit gemeinsam.
Der Osten geht nicht auf die Suche nach adäquaten Antworten auf seine Misere, sondern zieht es scheinbar vor, zu kapitulieren. Die jahrzehntelang zurückgewiesene Kritik wird jetzt ganz einfach nachgeplappert. Das Ausmaß der peinlichen Selbstbezichtigung und demütigenden Selbstgeißelung — live aufgeführt in den Westmedien — hat die Grenze des Erträglichen überschritten. Das ist nicht mehr Selbstkritik, sondern Selbstmord.

Der neue Politiker des Ostens erscheint so als der zweitklassige westliche Populist, das neue Denken als ein drittklassiger Aufguß westlicher Phrasen. Alles, was da auf uns und vor allem auf die Bewohner Osteuropas zukommt, ist weder neu noch hat es mit Denken etwas zu tun.

Antikorruptionismus und Antikommunismus beherrschen unsere mediale Welt. Beides ist reaktionär.

Die (radikale) Linke ist aufgesogen und domestiziert, der Antistalinismus früherer Tage ist einem ordinären Antikommunismus gewichen.

Und der tobt sich aus, bei Springer, WAZ oder AZ. Am obszönsten wohl im neuen linksliberalen Kleinformat: wenn Ex-Trotzkisten im Ex-Zentralorgan über den Exodus der Ex-DDRler berichten, dann fließen gar besondere Exkremente in die Zeilen.

Was soll man da noch sagen? Na Prost, Genossen, aber ex!

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1989
, Seite 13
Autor/inn/en:

Franz Schandl:

Geboren 1960 in Eberweis/Niederösterreich. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Wien. Lebt dortselbst als Historiker und Publizist und verdient seine Brötchen als Journalist wider Willen. Redakteur der Zeitschrift Streifzüge. Diverse Veröffentlichungen, gem. mit Gerhard Schattauer Verfasser der Studie „Die Grünen in Österreich. Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft“, Wien 1996. Aktuell: Nikolaus Dimmel/Karl A. Immervoll/Franz Schandl (Hg.), „Sinnvoll tätig sein, Wirkungen eines Grundeinkommens“, Wien 2019.

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