MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 57
Nikos Chilas
Nach der Streikwelle in Griechenland

Modernes Chaos

Die Kassen der Versicherungen sind leer. Seit Jahrzehnten haben sich verschiedene Regierungen ihrer bedient. Nun droht Griechenland der soziale Kollaps.

Der Wirtschaftsminister litt schon seit langem unter einem schweren Ohrenleiden. Bevor sich aber Georgios Souflias Ende September zum verdienten monatelangen Spitalsaufenthalt begab, wollte er sein Lebenswerk im griechischen Parlament unter Dach und Fach bringen: Ein Gesetz über die Pensionsversicherung, von solcher Radikalität, daß auch jedem normal Hörenden Sehen und Hören vergehen mußte.

Die Reaktion war eine Streikwelle, wie sie Griechenland seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Millionen haben sich am Streik beteiligt — Linke und Rechte, Regierungsfans und -gegner, privater und öffentlicher Dienst. Vergeblich mahnte der ‚Pate‘ der konservativen Regierung, der ebenfalls konservative Staatspräsident Konstantinos Karamanlis um Konsens: Je tauber sich der Minister stellte, desto kampflustiger wurden die Streikenden. Die Lust verflog erst am 28. September, als im Parlament eine hauchdünne Mehrheit von zwei Stimmen den Gesetzesbeschluß möglich machte, der Streik wurde überall abgebrochen, die Gewerkschaftsführung versprach jedoch, ihn bei erstbester Gelegenheit wieder aufzunehmen. Die Wirkung war verheerend. „Keiner Regierung war bisher gelungen, innerhalb so kurzer Zeit alle Sympathien zu verspielen“, urteilen sogar konservative Zeitungen.

Sowohl Souflias als auch Ministerpräsident Mitsotakis zeigen sich seit damals tief beleidigt, haben sie doch nur die Rettung der Pensionen zum Ziel gehabt.

Zum Retten gibt es tatsächlich mehr als genug. Die Versicherungskassen sind vollkommen leer. Für die Auszahlung der Pensionen des laufendes Jahrs muß der Staat umgerechnet 50 Milliarden Schilling zuschießen, nächstes Jahr soll der Betrag das Doppelte betragen, und das alles vor dem Hintergrund eines allgemeinen Budgetdefizits, das in die hunderten Milliarden Schilling geht, und einer Auslandsverschuldung, welche die 20 Milliarden Dollar übersteigt und somit die höchste pro Kopf in Europa ist.

Die Glaubwürdigkeit der ‚Retter‘ leidet allerdings am meisten, wenn es um die Ursachen der Misere geht. „Die Defizite haben wir von den Sozialisten geerbt“, beteuert Mitsotakis. Ebenso wahr ist es jedoch, daß seine Finanzbeamten die Versicherungsanstalten auf genau dieselbe Art auspressen, wie vorher die Sozis. In der staatlichen Nationalbank werden den Versicherungsanstalten keine Zinsen ausbezahlt. „Der Staat ‚vergißt‘ überdies, den Kassen irgendein Nutzungsrecht für die Benutzung ihrer unzähligen Liegenschaften zu zahlen“, schrieb neulich das Liberale Tagesblatt „Ta Nea“. „Verglichen mit diesem jahrzehntelangen Piratenakt scheinen die klassischen Piratenzüge in den vorigen Jahrhunderten wie Kavaliersdelikte“.

Piraten oder nicht, an Gewaltanwendung gibt es nicht den geringsten Mangel. „Ihr seid niemandem Rechenschaft schuldig“, versicherte Mitsotakis Mitte Sommer den Polizisten von Athen. Seitdem vergeht kaum eine Kundgebung ohne Knüppelschwingen und mehrere Verletzte.

Mitsotakis vertritt offenbar eine originelle Spielart des Thatcherismus. Es geht nicht nur um Privatisierung und um die Zerschlagung der „Macht der Gewerkschaften“. Seine Parole „Modernisierung um jeden Preis“ hat einen sehr ‚griechischen‘ Hintergrund. Das einheimische Kapital wendet schon längst die Formel „höchstausgebildetes Management, unausgebildete Arbeitskraft“ an. Das Ergebnis ist ein ständig wachsender Überschuß an Technikern und Facharbeitern. Und das wirbelt nun die griechische Ge­sellschaft gehörig durcheinander.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1990
, Seite 65
Autor/inn/en:

Nikos Chilas:

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