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Felix Salten

Lueger

Vielleicht kommt es auch dazu, und es greift einmal jemand nach diesem Mann und stellt ihn mitten in einen Wiener Roman, und rollt sein Leben auf und enthüllt sein Schicksal. Aber das müßte dann freilich einer tun, dem nicht Haß, noch Bewunderung den Blick umschleiert; es müßte jemand sein, der die wundervolle Gabe des Anschauens besitzt und dem in seiner Kunst nichts höher gilt als die Anschaulichkeit. Wie man einen Schlüssel ins Schloß fügt, so müßte derjenige, der es unternimmt, diesen Roman zu schreiben, den Lueger-Charakter in das Herz des Wiener Volkes einfügen und dieses Herz damit aufsperren, daß alle seine Kammern offen stünden. Er müßte die Gestalt Luegers so über die wienerische Art hinfegen lassen wie eine Wolke über eine Wasserfläche streicht, und das Wesen Luegers müßte sich in der Tiefe des wienerischen Wesens spiegeln wie eine Wolke auf dem Grund der Flut sich abzubilden scheint. Er müßte die ganze Stadt rings um diesen Mann herum aufbauen, damit alle ihre Farben und ihre Lichter, in diesem einen gesammelt, blitzen und funkeln. Das wäre die Aufgabe.

Wichtig, interessant und für den Roman sehr wirksam ist es, daß er gleich im Anfang sagte, er wolle Bürgermeister von Wien werden. Bei allen Parteien, denen er sich anbot, hat er diese Bedingung gestellt : Bürgermeister werden ! Und er hat sich vielen Parteien angeboten. Er begann als der Schüler eines jüdischen Oppositionskünstlers im Gemeinderat, ging zu den Liberalen, zu den Demokraten, und pries zu Schönerers Füßen die teutonische Heilslehre. Überall lehnte man ihn ab, von seinem stürmischen Ehrgeiz beunruhigt. Überall auch spürte sein Instinkt: diese Mühlen klappern zu wenig, mahlen zu langsam. Sein wienerischer Instinkt spürte: das wurzelt nicht! Liberaler Bildungseifer, demokratische Aufklärung und Unzufriedenheit, alldeutsche Wotansideale… das wurzelt hier nicht, das schlägt nicht ein! Er aber brauchte etwas, das breite Wurzeln fassen konnte, brauchte etwas, das wie der Donner einschlug. Damit er Bürgermeister werden könne. Niemand begriff damals, warum sein heißes Streben nach einem so bescheidenen Ziele ging. Er hat nachher gezeigt, wie es gemeint war.

Wichtig ist, auch für den Roman, sein Äußeres: Eine glänzende Bühnenerscheinung; die beste, die es für das Rollenfach des Demagogen gibt. Hochgewachsen, breitschultrig, nicht dick, aber doch behaglich genug, und man wird das Wort „stattlich" kaum vermeiden können, wenn man ihn schildern will. Nimmt man sein Antlitz noch dazu, dann wird vieles begreiflich. Für ein Wesen, das so ganz auf Äußerlichkeit gestellt ist, gilt solch ein Aussehen schon als Prädestination, als Beruf, als Erfolgsbürgschaft. Dieses Gesicht erscheint vollkommen bieder. Einfache, aus der knappen Stirn zurückfallende Haare, die sanft gelockt sind. Kleine Augen, die vergnügt und schwärmerisch, naiv und sentimental wirken. Ein außerordentlich solider Vollbart, der am Kinn nach dem Geschmack der Vororte geteilt ist; und mitten in diesem würdigen, bürgerlichen, ruhigen Antlitz die nette kleine Nase. Diese Nase, die wie eine aus der Bubenzeit stehengebliebene Keckheit aussieht. Man kann es gar nicht anders sagen : bieder, rechtschaffen, treuherzig, wacker. Lauter solche Worte fallen einem ein, wenn man sein Gesicht erblickt. Aus der Ferne. Denn alle Wirkung dieser Physiognomie ist gleichsam auf Distanz berechnet. In der Nähe redet dann schon eine trotzige Rauflust, die nicht ohne Tücke scheint, von dieser schmalen Stirne. In der Nähe zeigt sich der leicht schielende Doppelblick dieser kleinen listigen Augen, aus denen eine hurtige Verschlagenheit blitzschnelle, zwinkernde Umschau hält. Da zeigt sich, vom soliden, wackern Bart verborgen, ein spöttischer Mund, der hinter der Ehrlichkeit grauer Haare schadenfroh zu lächeln vermag. In der Nähe erst wird es sichtbar, welch ein unruhig flackernder Schimmer von Schlauheit und Verstellung dies Antlitz überbreitet, das auf Ansichtskarten schön ist.

Mit dieser lockenden Vorstadtpracht tritt er auf. Im Wien der achtziger und neunziger Jahre, in welchem die Vorstädte gerade anfangen, mächtig zu werden. Eine lauwarme, trübe, unentschlossene Zeit. Die bürgerlichen Parteien im Zerfall und in totaler Ratlosigkeit; nachlässig geleitet von ausrangierten Lieblingen, von alten Komödianten einer überlebten Politik. In der Tiefe des Volkes greift die Sozialdemokratie um sich. Die breite Masse der Kleinbürger aber irrt führerlos blökend wie eine verwaiste Herde durch die Versammlungslokale. Und alle sind von der österreichischen Selbstkritik, von der Skepsis, von der österreichischen Selbstironie bis zur Verzagtheit niedergedrückt.

Da kommt dieser Mann und schlachtet — weil ihm sonst alle anderen Künste mißlangen — vor der aufheulenden Menge einen Juden. Auf der Rednertribüne schlachtet er ihn mit Worten, sticht ihn mit Worten tot, reißt ihn in Fetzen, schleudert ihn dem Volk als Opfer hin. Es ist seine erste monarchisch-klerikale Tat: Der allgemeinen Unzufriedenheit den Weg in die Judengassen weisen; dort mag sie sich austoben. Ein Gewitter muß diese verdorbene Luft von Wien reinigen. Er läßt das Donnerwetter über die Juden niedergehen. Und man atmet auf.

Allein er nimmt auch noch die Verzagtheit von den Wienern. Man hat sie bisher gescholten. Er lobt sie. Man hat Respekt von ihnen verlangt. Er entbindet sie jeglichen Respektes. Man hat ihnen gesagt, nur die Gebildeten sollen regieren. Er zeigt, wie schlecht die Gebildeten das Regieren verstehen. Er, ein Gebildeter, ein Doktor, ein Advokat, zerfetzt die Ärzte, zerreißt die Advokaten, beschimpft die Professoren, verspottet die Wissenschaft; er gibt alles preis, was die Menge einschüchtert und beengt, er schleudert es hin, trampelt lachend darauf herum, und die Schuster, die Schneider, die Kutscher, die Gemüsekrämer, die Budiker jauchzen, rasen, glauben das Zeitalter sei angebrochen, das da verheißen ward mit den Worten: selig sind die Armen am Geiste. Er bestätigt die Wiener Unterschicht in allen ihren Eigenschaften, in ihrer geistigen Bedürfnislosigkeit, in ihrem Mißtrauen gegen die Bildung, in ihrem Weindusel, in ihrer Liebe zu Gassenhauern, in ihrem Festhalten am Altmodischen, in ihrer übermütigen Selbstgefälligkeit ; und sie rasen, sie rasen vor Wonne, wenn er zu ihnen spricht.

Aber wie spricht er auch zu ihnen. Das Dröhnen ihres Beifalls löst erst alle seine Gaben. Beinahe genial ist es, wie er sich da seine Argumente zusammenholt. Gleich einem Manne, der in der Rage nach dem nächsten greift, nach einem Zaunstecken, Zündstein, Briefbeschwerer, um damit loszudreschen, greift er, um dreinzuschmettern, nach Schlagworten aus vergangenen Zeiten und bläst ihnen mit dem heißen Dampf seines Atems neue Jugend ein, rafft weggeworfenen Gedankenkehricht zusammen, bückt sich nach abgehetzten, müd am Weg niedergebrochenen Banalitäten, peitscht sie auf, daß sie im Blitzlicht seiner Leidenschaft mit dem alarmierenden Glanz des Niegehörten wirken. In dem rasenden Anlauf, dessen sein Temperament fähig ist, überrennt er Vernunftgründe und Beweise, stampft große Bedeutungen wie kleine Hindernisse in den Boden, schleudert dann wieder mit einem Wort Nichtigkeiten so steil empor, daß sie wie die höchsten Gipfel der Dinge erscheinen. Im Furor seiner Rednerstunde gerät der Mutterwitz, der sein Wesen durchdringt, ins Sieden und wirft Blasen, in denen alles wie toll, alles verkehrt und lächerlich erscheint. Einfälle sprudeln hervor, in deren Wirbel frappierende, unglaubliche und verführerische Gedanken funkeln, sich drehen und überschlagen. In seinem Rednerfuror, wenn ihm schon alles egal ist, fängt er freilich auch den Schimpf der Straße ein, reißt den Niederen und Geistesarmen alberne Sprüche des Aberglaubens vom Munde, schnappt selbst den Pfaffen die Effekte weg, die auf der Kanzel längst versagen wollten — aber er siegt mit alledem. Schlägt zu damit und trifft und wirkt. Oft schon hat er seine entsetzten, überrumpelten Gegner vor sich hergejagt — wie sich nachher gezeigt hat — mit einem Eselskinnbacken. Dieses ist seine Macht über das Volk von Wien: daß alle Typen dieses Volkes aus seinem Munde sprechen, der Fiaker und der Schusterbub, der Veteranenhauptmann, der gute Advokat, die Frau Sopherl und der Armenvater. Und alle Volkssänger mit dazu. Vom Guschelbauer an bis zum Schmitter. Man hört die Schrammelmusik aus der Melodie seines Wortes, das picksüße Hölzel und die Winsel, hört das Händepaschen und ein jauchzendes Estam-tam klingt in seiner Stimme beständig an.

Ein Kapitel aus dem Roman dieses Lebens: Wie er in der Fronleichnamsprozession dem Baldachin vorausschreitet. Als Vizebürgermeister; vor zwölf Jahren etwa. Er ist zum Bürgermeister erwählt worden, aber der Kaiser hat die Wahl verworfen. Dreimal ist er gewählt worden, dreimal hat der Kaiser nein gesagt. Lueger wartet und begnügt sich derweil mit dem zweiten Platz. Jetzt geht er in der Fronleichnamsprozession vor dem Baldachin einher. Die Glocken läuten, die Kirchenfahnen wehen, und das brausende Rufen der Menge empfängt den geliebten Mann, der nach allen Seiten dankt, grüßt, lächelt. Er freut sich. Denn der Kaiser, der dem Baldachin folgt, muß den tausendstimmigen Donner hören. Auf dem ganzen Weg rauscht dieser Jubelschrei vor dem Kaiser einher, dieses jauchzende Brüllen, das einem andern gilt. Franz Josef hat ein feines, eifersüchtiges Ohr für die Stimme der Wiener. Er hat Erzherzoge von hier entfernt, wenn sie gar zu populär wurden, hat einen Minister, dem zufällig einmal ein paar halblaute Hochrufe beschieden wurden, aufgefordert, sich zu rechtfertigen, hat den Grafen Badeni im Stiche gelassen, weil er die Wiener Straße gegen die Hofburg verstimmte. Franz Josef weiß, die Wiener lieben ihn; er weiß, sein kaiserliches Wort übt allmächtige Wirkung. Aber diesen da konnte er nicht verdrängen, auch nicht, nachdem er’s dreimal sagte. Das erlebt der Kaiser jetzt. Der Mann da vorne im Zuge gibt’s ihm zu kosten. Als ob er nur im Gefolge dieses Mannes einherginge, wandelt der Kaiser mit der Prozession. Vor sich das Aufrauschen der Ovationen, um sich her Stille. Es war Luegers Triumphzug.

Die Glocken läuten und die Kirchenfahnen flattern jetzt auf allen Wegen, die Lueger geht. Wie ein gewaltiger Heerbann ziehen die Pfaffen hinter ihm drein. Seit vielen Jahren haben sie den bürgerlichen Condottiere entbehrt, der ihnen die breite Masse erobert. So einer hat ihnen gefehlt. Sie haben innerlich jubelnd den Liberalismus verrecken sehen, der sich einst unterfangen wollte, die Kuttenherrschaft in Österreich zu zerbrechen. Das Land lag wieder frei vor ihnen, fiel ihnen wieder zu, aber sie brauchten einen Mann, der in das neueroberte Gebiet fröhlichen Einmarsch hielt, der die Kirchenfahnen wieder flattern ließ. Dies Volk ist immer gerne fromm und katholisch gewesen. Aber die Frömmigkeit war eine Zeitlang außer Mode. Lueger hat sie wieder in Flor gebracht und ließ die Glocken läuten. Ließ die Glocken läuten und sagte: ich spucke auf die Aufklärung und auf die Wissenschaft. Das war endlich ihr Mann. Von allen Kanzeln herab und in allen Beichtstühlen halfen sie nun seiner Sache, schlossen ihm die Pforten zu allen Fürstenschlössern auf, schafften ihm Eingang in alle Bauernhütten. Wie hoch sie einen Menschen heben können, wenn sie wollen, hat er erprobt. Und hat auch dem Kaiser nur damals, an jenem Fronleichnamstage trotzig gezeigt, wer von nun an dem Wind und dem Wetter befiehlt, in der Stadt, in der die Hofburg steht. Nur dieses eine Mal. Am Ziele angelangt, nahm er die schwarzgelbe Gesinnung in städtische Obhut, nahm die Kaisertreue in städtische Verwaltung, nahm die Volkshymne in städtische Regie.

Erst als er am Ziele war, merkte man, daß es wirklich ein Ziel sein konnte, Bürgermeister von Wien zu werden. Man merkte, daß wirklich ein Gedanke in diesem Manne nach Ausdruck gerungen hat, nicht bloß der Gedanke an den eigenen Erfolg; daß er von einem Traum erfüllt war, nicht bloß von dem Traum des eigenen Aufstiegs: Wien! All dies andere vorher war nur ein Mittel gewesen. Er hätte jedes beliebige Mittel angewendet, selbst ein edles, wenn es nützlich gewesen wäre. Freilich aber hätte er keines so mühelos, so voll aus seinem Wesen heraus, so ganz aus seinen Instinkten gebrauchen können wie diese Taktik und Technik des Gassenhauers, des „mir san mir"! Und nun hat er Wien aufgerichtet als eine Art von Königtum mitten in Österreich. Dutzendweise wurden die kleinen Ortschaften, welche Wien umgürteten, von dem großen Gemeinwesen verschlungen. Das ist jetzt, vom Marchfeld bis zur Sophienalpe, nur mehr eine einzige Stadt: Wien. Und in dieser Stadt ein einziges Haupt: Lueger, der Bürgermeister. Er nahm die Straßenbahnen, die Gaswerke, das elektrische Licht, die Leichenbestattung, die Spitäler. Wasser und Feuer, Leben und Tod gehört seiner Stadt. All dies lag freilich in der Entwicklung, hätte auch unter einer andern Verwaltung so kommen müssen. Aber er nahm diese Dinge, unter lauten pathetischen Proklamationen, er nahm sie wie man eroberte Provinzen einnimmt, und er schuf aus all diesen Besitztümern neue Werkzeuge seiner Macht. Wo die Straßenbahn hingeführt wird, das elektrische Licht, die Wasserleitung, da steigen in den entlegensten Gegenden die Bodenpreise, hebt sich der Wohlstand. Treue Bezirke können belohnt, unsichere gekirrt, treulose bestraft werden. Die Stadt, die so viele Betriebe in ihrer Hand hält, herrscht über eine Armee von Dienern, Arbeitern, Beamten, Lehrern, Ärzten und Professoren, herrscht durch tausendfach verknüpfte Interessen weithin über die Gesinnungen, und allen ist der Bürgermeister, von dem sie abhängen, wie ein Monarch.

Er arbeitet denn auch mit einer vollkommen monarchischen Technik. Sein Bild ist überall. In den Amtslokalen, in den Schulzimmern, in den Wirtshäusern, in den Theaterfoyers, in den Schaufenstern. Sein Antlitz ist den Wienern beständig so gegenwärtig und eingeprägt, wie das Antlitz des Kaisers. Seine Ausfahrt ebenso feierlich, wie die eines Monarchen, und nur noch Franz Josef selbst wird in den Straßen ebenso gegrüßt wie der Bürgermeister Lueger. Wie auf den Staatsgebäuden der Name des Kaisers steht, so wird auf allen Bauten, in allen Gärten, die von der Stadt errichtet wurden, der Name Lueger hingeschrieben und eingemeißelt. In hundert Inschriften liest man es überall: „Erbaut unter dem Bürgermeister Dr. Karl Lueger.„Und wie dem Kaiser das „Gott erhalte ...“ entgegenschallt, so empfängt den Bürgermeister überall seine offizielle Hymne: „Hoch Lueger, er soll leben ...„Wer städtische Dienste nimmt, muß Luegertreu sein, so wie jeder Staatsdiener zur Kaisertreue verpflichtet ist. Er hat das so eingerichtet, hat sich um den Widerspruch der Machtlosen, hat sich um das Recht der freien Meinung, die das Staatsgrundgesetz gewährleistet, nicht gekümmert und einen Fahneneid eingeführt für alle, die im Rathaus Broterwerb suchen. Ein monarchisches Talent, das vorher gröhlend durch alle Tiefen des Pöbels geschritten ist, im Bierdunst der Versammlungen die Massenpsychologie studiert und den Menschenfang allmählich bis zur Meisterschaft gebracht hat. Dennoch, nur ein Bürgermeister. Aber was hat er aus seiner Rolle gemacht! Wie Mitterwurzer einst, als er im „Don Carlos“ den Philipp gab, das Stück umkehrte und alle Welt zur Verwunderung zwang. Gegen Carlos und Posa war dieser Philipp nie aufgekommen, er galt für so wichtig nicht, nicht für so begehrenswert und dankbar. Und jetzt auf einmal war Philipp die Hauptsache, war Mittelpunkt und Held des Stückes. Die vorigen Bürgermeister sind nur brave Ensemblespieler gewesen gegen den jetzigen. Der aber hat die Kunst der Auffassung. So wie er seine Rolle anschaut, wie er die Bedeutung seines Amtes begreift, hat er es ganz neu entdeckt; fast möchte man sagen, neu kreiert. Niemals ist der Bürgermeister von Wien so viel gewesen wie heute. Neben dem Landesherrn, der Herr der Stadt.

Ein anderes Kapitel aus dem Roman dieses Lebens: Wie dreimalhunderttausend sozialdemokratische Arbeiter gegen seinen Willen über die Ringstraße ziehen; wie sie das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht erzwingen; wie der alternde Bürgermeister im Pomp des Rathauses sitzend dies Brausen der Volksmenge vernimmt; wie eine Ahnung ihn ergreift, daß nun eine neue Zeit heranbricht, eine neue Zeit, die er nur aufhalten, nur für eine kurze Weile verzögern aber nicht hindern konnte. Sie wird erbarmungslos die Dämme niederreißen, die er aufgerichtet hat; sie wird ihn zu den Komödianten von vorgestern werfen und ihn erledigen. Wie jetzt eine Ahnung ihn ergreift, daß da draußen ein Gegner sich emporrichtet, langsam und furchtbar, ein Feind, dem er sich nicht mehr entgegenzuwerfen vermag. Wie der Zorn von einst und die Rauflust von früher noch einmal in ihm schwellen und wie er spürt, daß ihm die Kräfte langsam entschwinden, spürt, daß er nicht mehr aufrecht, nicht mehr sicher und schwindelfrei genug sein wird, wenn auch an seine Tür plötzlich die Jugend pocht, wie an die Tür des Baumeisters Solneß.

Und noch ein Kapitel: Wie er jetzt weißhaarig, matt, erblindet und zitternd, von zwei Nonnen geführt, einherwankt, mit Orden bedeckt, . . Exzellenz . . auf dem Gipfel . . und niedergebrochen. Den letzten Rest der im Kampfe aufgebrauchten Gesundheit im Rausch der Siegesfeste vergeudet. Vorzeitig zu Boden geschleudert, unfähig die Ernte zu genießen. Neidisch auf alle, denen er emporgeholfen und die nun in der Fülle der Macht schwelgen. Wie er langsam zum ewig greinenden, mißlaunigen, scheltenden Alten sich wandelt, dem die Treuesten nur noch aus Pietät lauschen. Wie er fühlt, daß sie von ihm abrücken, heimlich schon über ihn lächeln, die Achseln zucken; und wie er dann manchmal zeigen möchte, daß er noch derselbe ist, wie er längst abgenützte Künste wieder spielen läßt, wie er mit gebrochener Stimme wieder schmettern und donnern möchte, und wie ihn dann die Weihrauchdämpfe mitleidiger Schmeichler benebeln und beschwichtigen. Das letzte Kapitel: wie diese Flamme eines Wiener Temperamentes im blassen Schimmer der Ordensterne, im kindischen Glanz von Auszeichnungen und Titeln verlöscht.

Dieser Roman wäre zu schreiben. Die Gestalt eines Menschen zu zeichnen, in dem sich der Wille einer Epoche erfüllt hat. Jetzt freilich muß man noch warten. Bis es sichtbar wird, was nach ihm kommt, bis die Jahre, die seinem Dasein folgen, die richtige Distanz und die richtige Perspektive geben. Dann mag es geschehen, daß irgend jemand nach diesem Manne greift und den Roman seines Lebens, den man schnell vergessen wird, wenn er zu Ende ist, zu einem unvergeßlichen Kunstwerk formt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1910
Autor/inn/en:

Felix Salten:

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