Context XXI » Print » Jahrgang 2002 » Heft 3-4/2002
Karl Neumayr • Mara Stenico

Lateinamerikas ambivalente ökonomische Entwicklung und die Rolle des Liberalismus

Lateinamerika durchlebte in den letzten beiden Jahrhunderten unterschiedliche Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Hegemonie des Liberalismus zwischen 1850 und 1930 wiederholte sich am Ende des 20. Jahrhunderts, doch die Ergebnisse sahen unterschiedlich aus.

Das Export-Import System

Der Liberalismus war im Lateinamerika des ausgehenden 19. Jahrhundert die hegemoniale Ideologie, die grob umrissen so aussah: ein Schuss Antiklerikalismus (was die Beschlagnahme kirchlichen Grundbesitzes ermöglichte), die koloniale Verachtung der lokalen indianischen Bevölkerung, offene Türen für europäische Einwanderer, enthusiastische Übernahme der auf die evolutionäre Zukunft und Optimismus setzenden Philosophie des Positivismus und die Ankoppelung der eigenen Ökonomien an den internationalen Markt. Die positiven Auswirkungen des Weltmarktes, im Sinne einer fortgeschrittenen, weltweiten Arbeitsteilung, erörterte schon Adam Smith in seinem, für die bürgerlich-liberale Wirtschaftsordnung grundlegenden Werk Der Wohlstand der Nationen. Aber auch David Ricardos Theorie der komparativen Kostenvorteile sollte die allgemeine Mehrung des Wohlstandes durch Spezialisierung und Handel belegen.

In der Tat regte die zweite industrielle Revolution in Europa, und die damit einhergehende enorme Nachfragesteigerung nach mineralischen Rohstoffen und agrarischen Gütern, eine Spezialisierung der entstehenden Ökonomien in Lateinamerika an.

Nachdem zur Gewinnung und Vermarktung der gefragten Produkte die Möglichkeiten des lokalen Bürgertums nicht ausreichten, wurden in Lateinamerika die Türen für Auslandskapital, internationale Technologie usw. geöffnet.

Gleichzeitig nahmen auch die Importe aus Europa und den USA zu. Das führte zu einem rapid sich steigernden Exportwachstum von wenig verarbeiteten Rohstoffen und des Imports von Industriewaren. Lateinamerikas politische und wirtschaftliche Aristokratie wurde als Klientel des Auslandskapitals reich. Ein Teil dieses Reichtums wurde für importierten Luxuskonsum verwendet. Ein anderer Teil wurde für die Entwicklung der Infrastruktur (vor allem Eisenbahnen, Häfen, Straßen, Beleuchtungssysteme usw.) eingesetzt, und trug so zu einer Intensivierung des „Export-Import-Systems“ bei.

Trotz der ersten Anzeichen der Erschütterung dieses bislang so erfolgreichen Systems durch die Zwangsisolation während des 1. Weltkrieges, trotz der Pauperisierung der indigenen Bevölkerung und zunehmenden sozialen Spannungen (die sich z.B. in der mexikanischen Revolution von 1910 - 1920 entluden) blieb die liberale Außenhandels- und Außenwirtschaftsheorie die dominante geistig-ideologische Orientierungsinstanz bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise.

Industrielle Entwicklung durch Importsubstitution

Bereits zwischen 1930 und 1940 ging für Lateinamerikas wirtschaftliche Entwicklung, ähnlich wie in den Achtzigern, eine Dekade verloren: Schuldenkrise, Wirtschaftsdepression, Exportbaisse und politische Krise verstärkten sich gegenseitig.

Der durch die Krise aufgenötigte Kurswechsel führte seit Beginn der 30er Jahre in den meisten Ländern Lateinamerikas auch zu bedeutenden gesellschaftlich-politischen Veränderungsprozessen. Die Strategie der staatlich gestützten Importsubstitution, die mit einer durch hohe Schutzzölle geförderten Industrialisierung einherging, führte zu einem Strukturwandel, in dem die primären Sektoren (Agrar, etc.) an Relevanz verloren, zugunsten des sekundären (Industrie-) und tertiären (Dienstleistungs-) Sektors.

Die „erste Phase der Importsubstitution“ (von ca. 1930-1955) kann durch eine mehr oder minder klare Erholung für die meisten Länder Lateinamerikas charakterisiert werden. Schon Ende der 30er Jahre zeichnete sich ein Rückgang der Importanteile an Konsumgütern und Halbfabrikaten ab, während die Importe aus dem metallverarbeitenden Bereich oder bei anderen Zwischenprodukten sogar stiegen. Die größten Länder (Argentinien, Brasilien, Mexiko, Kolumbien) konnten von 1929 bis 1939 immerhin eine höhere durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Bruttoinlandproduktes (BIP) registrieren als beispielsweise Kanada oder die USA

Die Idee der importsubstituierenden Industrialisierung, des desarrollo hacia adentro, wird auch als cepalinistische Entwicklungsdoktrin gesehen. Sie sollte bis in die 80er Jahre Lateinamerikas Fixstern bleiben, auch für verschiedene nationalrevolutionäre Bewegungen, von der bolivianischen Revolution 1952 bis zu den nicaraguanischen Sandinisten.

Die Fotografien in dieser Ausgabe stammen von dem Künstler Francisco „Panchi“ Claure Ibarra, der in Bolivien geboren ist und derzeit in Wien lebt. Er hat liebenswerterweise Context XXI diese Auswahl seiner Fotografien speziell für den Lateinamerika-Schwerpunkt zur Verfügung gestellt.
Bild: Francisco „Panchi“ Claure Ibarra

CEPAL und die Dependenztheorie

Der Entstehungskontext der CEPAL verweist auf die Situation der diffusen 40er Jahre, als nach dem Zweiten Weltkrieg der Subkontinent seine relative Bedeutung, die er während der globalen militärischen Auseinandersetzungen genoß, verlor. Koordiniert von Raúl Prebisch (der auch erster Generalsekretär und berühmtester Proponent der CEPAL wurde), gründeten eine Gruppe junger, lateinamerikanischer Planer und Nationalökonomen, ohne Beteiligung der USA und im Widerstand gegen sie, 1948 die regionale UN-Wirtschaftskommision CEPAL .

Die USA hatten während des Zweiten Weltkrieges die europäische Wirtschaftskonkurrenz aus Lateinamerika verbannen können. Washington erntete somit als Nebenprodukt des globalen Krieges die volle Hegemonie über Lateinamerika. Eine eigene Finanzorganisation, die Inter-American Development Bank, sollte aus der Perspektive Washingtons den lateinamerikanischen Handel stabilisieren und die US-Kontrolle über die strategisch wichtigen Rohstoffe der Region sicherstellen. Dabei wurde in Washington primär nicht an eine Industrialisierung Lateinamerikas gedacht, vielmehr sollte der Subkontinent als fast exklusiver Markt für nordamerikanische Güter gehalten werden.

Die CEPAL entwickelte genau dagegen eine Reformstrategie, die einerseits die importsubstituierende Industrialisierung vertiefen und beschleunigen sollte, und andererseits die strukturellen Veränderungen im Inneren der lateinamerikanischen Gesellschaften vorantreiben wollte: Agrarreform, Diversifizierung der Produktion, Exportförderung für verarbeitete Produkte und deren weltweite Streuung, sowie Marktausweitung durch Integrationsbemühungen.

Der Höhepunkt der Importsubstitutionspolitik lag wahrscheinlich im Nachkriegsjahrfünft. Nach Ende des Korea-Booms (1951/1952) setzten, mit dem starken Preisverfall für viele Rohstoffe und mit dem Anstieg der Industriewarenpreise, die ersten Anzeichen der Krise der bis dahin so erfolgreichen Importsubstitutionsindustrialisierung ein. Die verstärkte Konkurrenz von Industriewaren aus Europa und den USA auf den inneren Märkten der lateinamerikanischen Staaten setzte ihre Ökonomien noch weiter unter Druck

Mitte der 50er Jahre fing eine zweite schwierige Phase der Importsubstitution an. In diesem Zeitraum war der kapitalistische Weltmarkt weitgehend wieder hergestellt und die Krisenprozesse und Rückschläge für die fortgeschrittenen Länder der Importsubstitutions-Industrialisierung begannen sich zu häufen. Insgesamt ist aber das makroökonomische Wachstum der Region als ganzes durchaus erheblich gewesen. Zwischen 1950 und 1980 wuchs das BIP um durchschnittlich 5,5% pro Jahr, was einem Pro-Kopf-Einkommenszuwachs von jährlich 2,7% entsprach.

Die neoliberale Hegemonie

Bis zur Verschuldungskrise (1982) bzw. bis Mitte der 80er Jahre wurde (mit Ausnahme Chiles) an dieser wirtschaftspolitischen Strategie festgehalten. Es traten zwar eine Reihe von Verzerrungen, Problemen und Blockaden auf, trotzdem konnten relativ hohe Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts erzielt werden. Die weltwirtschaftliche Integration Lateinamerikas nahm in einer Phase besonderer Dynamik des Weltmarktes aber eindeutig ab.

Was die makroökonomischen Schwächen betrifft, sind die einseitige Orientierung an der Substitution der zuvor importierten Konsumgüterpalette, fehlende Investitionsgüterindustrien und die dadurch starke Zunahme der Importe von Vorprodukten, Halbfertigwaren und Kapitalgütern sowie die mangelnde Innovationskraft und Konkurrenzfähigkeit der bürokratisierten Oligopole zu nennen.

Die Erfolge der Strategie der Importsubstitution werden unterschiedlich bewertet:

Als chronische Schwäche sollte sich die Vervielfachung der Auslandschulden Lateinamerikas im Zeitraum zwischen 1970 und 1983 herausstellen, bis die Zahlungsunfähigkeit Mexikos und der offene Ausbruch der Schuldenkrise im August 1982 eine Zäsur setzten. Die Belastungen durch sprunghaft steigende Schuldendienste auf teilweise mehr als 60% der jährlichen Exporterlöse überstiegen die Zahlungsfähigkeit vieler Länder und lösten akute Liquiditätskrisen aus. Mit den zunehmenden Instabilitäten nahm auch die Flucht von Privatkapital immense Ausmaße an.

Die Verschuldungskrise und die faktischen Zahlungsmoratorien der lateinamerikanischen Staaten setzten Runden von Umschuldungsverhandlungen, Restrukturierungsbemühungen usw. in Gang, die mit Auflagen für eine neue Wirtschaftspolitik verbunden waren. Dem Club der Gläubigerbanken, dem IWF, der Weltbank und dem „Pariser Club“ (als Repräsentanten der Regierungen der Gläubigerländer) stand zumeist ein einzelnes Schuldnerland gegenüber. Die sogenannte Einzelfallbehandlung gehörte zur Strategie der Schuldenverhandlung der Industrieländer und Gläubiger. Die mit den Umschuldungsverhandlungen einhergehenden Auflagen und Kontrollen seitens des IWF und der Gläubiger werden als „Stabilitätspolitik“ und „Strukturanpassungspolitik“ bezeichnet, und führten in den Achtzigern zu einigen Hungerrevolten, die als “IWF-Riots” in die widerständige Geschichte Lateinamerikas eingingen.

Vor allem ist darunter zu verstehen: Haushaltskonsolidierung, Stabilisierung der Währungen und Wechselkurse, Senkung der Inflationsraten, Entstaatlichung, Deregulierung und Außenöffnung der Wirtschaft sowie Reduzierung der Reallöhne, Liberalisierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, eine Rücknahme der sozialen Sicherung und der Rechte der ArbeitnehmerInnen und die Verkürzung der Sozialausgaben. Damit einher geht eine partielle Aufgabe staatlicher Souveränität.

Die Verschuldungskrise leitete eine Dekade wirtschaftlicher Depression und Austerität ein, die unter dem Schlagwort „decada perdida“ in die Geschichte von Lateinamerika einging.

Betrachtet man die ökonomischen und sozialen Auswirkungen der IWF-„Sanierungskonzepte“ in ihrer klassen- und sozialstrukturellen Differenzierung, so wird deutlich, dass Kapitalinteressen begünstigt wurden, während die große Masse der Bevölkerung die Sparmaßnahmen zu tragen hatte und hat, obwohl sie für die Entstehung der Verschuldung am wenigsten verantwortlich zu machen ist.

Es gab bei der Einführung der neuen wirtschaftspolitischen Orientierung Vorreiter, wie z.B. Chile, wo unter Führung von Augusto Pinochet ab 11.9.1973 relativ schnell zu einer strikten, neoliberalen Politik übergegangen wurde. Auch die Militärdiktatur, die 1976 in Argentinien die Macht ergriff, hat erste Schritte hin zur Umsetzung des neuen, wirtschaftspolitischen Paradigmas unternommen.

Auf breiter Front gingen aber fast alle Regierungen Lateinamerikas im Laufe der 80er Jahre oder spätestens zu Beginn der 90er Jahre zum neuen Modell neoliberaler Wirtschaftspolitik über. Seit den 90er Jahren haben sich die Maßnahmen, die als „Konsens von Washington“ bezeichnet werden, voll und ganz in Lateinamerika etabliert, doch der “Dissenz” wird heute von Argentinien bis Porto Allegre immer artikulationsfähiger.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
2002
, Seite 8
Autor/inn/en:

Mara Stenico:

Karl Neumayr:

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